67. JAHRESTAGUNG DER AMERICAN DIABETES ASSOCIATION (ADA), CHICAGO, USA
Neue Medikamente und heiße Diskussionen

Es tut sich derzeit Einiges in der Diabetologie. Blutzuckersenker mit neuen Wirkansätzen drängen auf den Markt. Um ein seit mehreren Jahren verfügbares Diabetesmedikament gibt es hitzige Sicherheitsdiskussionen. Beim HbA1c-Wert, der etablierten Methode zur Messung der langfristigen Qualität der Glukoseeinstellung, wird sich einiges ändern und aktuelle Studien zum Nutzen der Blutzuckerselbstkontrolle sorgen für Aufregung. Die diesjährige Jahrestagung der American Diabetes Association (ADA) in Chicago bot eine interessante Mischung von Themen aus Praxis und Forschung.

Inkretine sind Darmhormone, die direkt nach einer Mahlzeit freigesetzt werden, die Betazelle zur Insulinfreisetzung stimulieren und danach rasch wieder enzymatisch verdaut werden. Beim Gesunden sind etwa 70% der Insulinfreisetzung nach einer Mahlzeit durch Inkretine vermittelt, beim Typ-2-Diabetiker beträgt dieser "Inkretin-Effekt" nur noch etwa 30%. Naheliegend, dass die Industrie seit Jahren erforscht, wie man diese Schiene therapeutisch nutzen kann.

NEUE WIRKANSÄTZE ÜBER DARMHORMONE

Zwei Substanzklassen haben sich dabei als Erfolg versprechend herauskristallisiert, die Analoga des Inkretins GLP(Glukagon Like Peptide)-1, die dem raschen enzymatischen Abbau widerstehen und so den Inkretineffekt steigern sowie die Hemmstoffe des Inkretin-abbauenden Enzyms DPP-4, die zudem die endogenen Spiegel der Darmhormone erhöhen. Je ein Vertreter der beiden Klassen ist bei uns bereits zugelassen.

Das Inkretinmimetikum Exenatide (Byetta®, Lilly) wird zweimal täglich gespritzt und hat im Vergleich zu Insulin im wesentlichen drei Vorteile: Exenatide wird in fixer Dosis verabreicht, es besteht kein Hypoglykämierisiko, weil die Insulinstimulation nur auf den Nahrungsreiz hin erfolgt und die Typ-2-Diabetiker verlieren unter der Therapie in der Regel Gewicht. Hauptnebenwirkung ist Übelkeit bei etwa einem Drittel der Behandelten. In Chicago wurden nun Daten vorgestellt, nach denen die Gewichtsreduktion selbst nach drei Jahren Therapie anhält, die Blutzuckereinstellung konstant bleibt und auch Blutdruck und Blutfettwerte sich günstig entwickeln.

Der zweite Vertreter der Inkretin-Analoga vom Unternehmen Novo Nordisk ist bereits in der Pipeline. Liraglutide, das nur einmal täglich gespritzt wird, scheint neuen Phase-2-Studien zufolge weniger Übelkeit zu verursachen bei gleicher Gewichtsreduktion.

Von den zahlreichen DPP-4-Blockern, die derzeit in Entwicklung sind, ist nur Sitagliptin (Januvia®, MSD) in Deutschland zugelassen. DPP-4-Hemmer können oral gegeben werden, wirken gewichtsneutral und bergen ebenfalls kein erhöhtes Hypoglykämierisiko. Beim ADA wurden Studien zur Kombination des neuen Wirkstoffes mit Metformin vorgestellt

ERHÖHTES INFARKTRISIKO UNTER ROSIGLITAZON?

Der Insulinsensitizer Rosiglitazon (Avandia®, GlaxoSmithKline) hat derzeit einen schweren Stand. Eine im "New England Journal of Medicine" Ende Mai veröffentlichte Meta-Analyse sorgt in den USA für Wirbel. Autor Prof. Steven Nissen von der Cleveland Clinic in Ohio kam bei der Auswertung aller randomisierten Studien, deren er habhaft werden konnte (einige bislang unveröffentlichte fand er z.B. auf der Website des Herstellers GSK), zu einem signifikant um 43% erhöhten Herzinfarktrisiko unter Rosiglitazon. Dies gegenüber allen Vergleichssubstanzen in den Studien - egal ob Placebo oder ein anderes orales Antidiabetikum.

Kritiker werfen ihm vor, das Ergebnis sei zwar signifikant, doch die Ereigniszahl sei insgesamt sehr niedrig, die Konfidenzintervalle sehr weit und die Datenlage zu schwach, um damit schon jetzt an die Öffentlichkeit zu gehen. In einem kurzfristig anberaumten Symposium brachte Nissen vor einem überquellenden Auditorium nochmals seine Argumente vor und diskutierte diese mit anderen Experten.

Erstes inhalierbares Insulin: Nicht der erhoffte Blockbuster


quelle Pfizer

Im Januar 2006 ist mit Exubera® zum ersten Mal überhaupt in Europa ein Insulin zugelassen worden, das nicht gespritzt werden muss. Das Unternehmen Pfizer hat im Mai 2006 das Trockenpulver, das über einen Inhalator eingeatmet wird, in Deutschland auf den Markt gebracht.

Zum großen Blockbuster, wie einstmals erhofft, hat sich das erste inhalierbare Insulin aber nicht entwickelt. Die Gründe sind vielfältig. Zum einen ist die Therapie teuer, sie kostet etwa das Fünffache wie die Behandlung mit Normalinsulin. Zudem sind die Risiken unklar, vor allem langfristig gibt es Bedenken, wie sich das Hormon auf die Lunge auswirkt. Viele Patienten, etwa 25%, entwickeln Husten oder Atembeschwerden sowie Einschränkungen der Lungenfunktion.

Allerdings sind jetzt beim US-amerikanischen Diabeteskongress erstmals Daten zur Lungensicherheit aus kontrollierten Studien, die über drei Jahre gingen, vorgestellt worden. Diese sind beruhigend. Die Abnahme der Lungenfunktion war nicht progredient. Und: Wenn die Diabetiker von der Inhalation wieder aufs Spritzen wechselten, normalisierte sich die Lungenfunktion wieder.

Unwirtschaftlicher Fortschritt?

Jedoch bei uns in Deutschland hat im Oktober 2006 der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) einen Beschluss veröffentlicht, der die Behandlung mit Exubera® als "unwirtschaftlich" bezeichnet. Dem hohen Preis stehe kein entsprechender Zusatznutzen gegenüber. Argumente sind, dass die Inhalation nur kurz wirkendes Insulin ersetzen kann, das Basalinsulin aber trotzdem weiterhin gespritzt werden muss. Zudem habe sich in einigen Studien ein höheres Risiko für schwere Hypoglykämien gezeigt, so dass diese Patienten eventuell sogar mehr Blutzuckerselbstkontrollen machen müssen. Gerade das Stechen für die Selbstmessung sei aber viel schmerzhafter als die Insulininjektion selbst.

Zudem werde mit der Inhalation keine bessere Blutzuckerkontrolle als bei der Injektion erreicht, Raucher und Asthma- sowie COPD-Patienten kommen für die Therapie nicht in Frage, und die Langzeitrisiken müssten noch genauer untersucht werden. Das Unternehmen Pfizer weist allerdings darauf hin, dass dieser G-BA-Beschluss nicht automatisch einen Ausschluss der Erstattungsfähigkeit für inhalierbares Insulin bedeutet.    Sonja Böhm

Das Fazit: Es gibt zur Zeit keine besseren Daten zur kardiovaskulären Sicherheit von Rosiglitazon und so wie es aussieht, wird es auch in naher Zukunft keine klareren Daten geben. Auch die beim Symposium präsentierte Interimsanalyse der großen RECORD-Studie mit kardiovaskulären Endpunkten ist uneindeutig. Nun hat die Zulassungsbehörde FDA den Schwarzen Peter. Ende Juli soll eine erneute Expertenanhörung stattfinden und dann wird wohl auch eine Entscheidung über die Zukunft dieses Medikaments fallen.

"MITTLERE GLUKOSE" STATT HbA1c

Verbesserungen auf einem ganz anderen Gebiet, nämlich der Patienten-Kommunikation, erhoffen sich Diabetologen von einer weiteren Neuerung. Eine internationale Studie soll nicht nur eine exakte Standardisierung des HbA1c-Wertes ermöglichen, sie soll auch die Grundlage liefern, dass Diabetiker ihren HbA1c-Wert in Zukunft zusätzlich noch als "mittlere Blutglukose" angegeben bekommen.

Bisher sei es für viele Patienten sehr verwirrend, ihre täglichen Blutzuckerwerte in mg/dl oder mmol/l zu messen, gleichzeitig aber die langfristige Einstellung als HbA1c in Prozent zu erhalten, meint Prof. David M. Nathan, Boston, einer der Studienautoren. Besser wäre ein "mittlerer Blutzuckerwert". In der derzeit laufenden Studie werden deshalb bei mehr als 600 Probanden weltweit (Typ-1- und Typ-2-Diabetikern aber auch Stoffwechselgesunden), die mittleren Blutglukosewerte durch häufige Selbstmessungen und mit Hilfe von kontinuierlichem Glukosemonitoring bestimmt. Die Werte werden dann mit dem nach einer aufwändigen und sehr exakten neuen Methode gemessenen HbA1c-Wert korreliert. Erste Ergebnisse zeigen eine sehr enge Korrelation. Die endgültigen Daten sollen eine exaktere Kalibrierung der Geräte zur HbA1c-Messung ermöglichen und eine Formel ergeben, um die HbA1c-Werte jeweils in einen - für den Patienten vielleicht klareren und eindeutigeren - mittleren Blutglukosewert umzurechnen.

SELBSTKONTROLLE BEI TABLETTENBEHANDLUNG SINNVOLL?

Am letzten Kongresstag wurde dann noch eine Studie vorgestellt, die ein heißes Eisen anpackte, nämlich die umstrittene, teuere Blutzuckerselbstkontrolle bei Diabetikern, die kein Insulin spritzen. Profitieren auch tablettenbehandelte Typ-2-Diabetiker von regelmäßigen Blutzuckertests? Diese Frage stand im Mittelpunkt der Untersuchung des britischen "Nationale Institute of Health Research". Dabei wurden drei Patientengruppen gebildet. Die einen erhielten nur alle drei Monate ihren HbA1c-Wert, die zweiten machten Selbstmessungen und besprachen diese alle drei Monate mit einer Krankenschwester und die dritte "Intensiv"-Gruppe wurde geschult, die Ergebnisse selbst zu interpretieren und daraus Konsequenzen bei Lebensstil und Medikamenten zu ziehen.

Eine Besserung im HbA1c-Wert um etwa 0,5% hatten die Forscher in der "Intensiv"-Gruppe erwartet, doch die Differenz zur Kontrollgruppe nach einem Jahr betrug lediglich 0,17%. Kritiker der Studie bemängelten, dass viele Patienten die Selbstkontrollen nicht durchgeführt hatten, dies bei der Auswertung aber nicht berücksichtigt wurde. Zudem sei der Ausgangs-HbA1c mit im Mittel 7,5% so gut gewesen, dass viele keine Veranlassung zu Therapie- oder Lebensstiländerungen gesehen hätten.

Die Befürchtung ist, dass diese Studie Kostenträgern im Gesundheitswesen als Argumentation dienen wird, um Blutzuckermessstreifen für Diabetiker, die kein Insulin spritzen, nicht mehr zu erstatten. Der Nutzen von Selbstkontrollen für Insulin-behandelte Diabetiker wird allerdings nicht in Frage gestellt, dieser ist in zahlreichen Studien bestätigt.

Sonja Böhm
Medizin- und Wissenschafts- journalistin
Email: sonja@boehm.st


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