NILS POSTEL, MÜNCHEN
Hürdenlauf - Wie in Europa Medikamente zugelassen werden

Am Ende einer jeden Medikamentenentwicklung steht ein aufwändiges Verfahren, ohne das kein Wirkstoff je einen Patienten erreicht: die Zulassung zur Vermarktung. Für die Länder der Europäischen Union erfolgt die Arzneimittelzulassung für bestimmte Indikationsgebiete, wie beispielsweise HIV-Infektion, mittlerweile zentralisiert durch die europäische Arzneimittelagentur EMEA (European Medicines Agency) mit Sitz in London. Nach einer durchschnittlichen Entwicklungsphase von zehn Jahren und einer Investition von mehreren hundert Millionen US-Dollar (für ein einziges tatsächlich zugelassenes Arzneimittel) reichen die forschenden Pharmafirmen die in zahlreichen Studienphasen gewonnenen Daten mit dem Antrag auf Marktzulassung bei der EMEA ein.

STUDIENPHASEN

PRÄKLINISCHE PHASE

Anders als beispielsweise Azidothymidin, das ursprünglich als antiproliferativer Wirkstoff entwickelt wurde, werden neuere antiretroviral wirksame Moleküle rechnergestützt definiert und für ihren Wirkort passgenau entwickelt. Sie werden (ähnlich wie viele andere Arzneimittel auch) nach dem Prinzip der Leitstruktursuche entwickelt. Zielstrukturen ("targets") von Wirkstoffen sind meistens körpereigene oder virale Rezeptoren oder Enzyme, die blockiert oder gehemmt werden können. Sind diese identifiziert, wird in Molekülbibliotheken nach einem potenziell passenden Molekül gesucht. Erfüllt ein Molekül die theoretischen Wirksamkeitsanforderungen, folgen in vitro-Versuche. Es schließen sich dann weitere Untersuchungen im Tiermodell an, in denen letale Dosen, Toxizität, Mutagenität und Teratogenität erforscht werden. Die große Mehrzahl der Substanzen "stirbt" bereits in dieser Phase der Entwicklung.

KLINISCHE STUDIEN

Europäische Arzneimittel-Agentur (EMEA)

Die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMEA) ist eine dezentrale Einrichtung der Europäischen Union mit Sitz in London. Ihre Hauptaufgabe besteht im Schutz und in der Förderung der Gesundheit von Mensch und Tier durch die Beurteilung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln. Die EMEA ist für die wissenschaftliche Beurteilung von Anträgen auf Erteilung der europäischen Genehmigung für das Inverkehrbringen von Arzneimitteln (zentralisiertes Verfahren) zuständig. Wird das zentralisierte Verfahren angewandt, reichen die Unternehmen bei der EMEA einen einzigen Antrag auf Erteilung einer Genehmigung für das Inverkehrbringen ein.

Zur Untersuchung der generellen Verträglichkeit wird nach erfolgreich abgeschlossener präklinischer Phase zuerst einem einzigen gesunden Menschen eine einzige Dosis des Wirkstoffes verabreicht ("First in Human"). Es folgen jahrelange Untersuchungen an weiteren Probanden und Patienten.

Diese Studien werden in die Phasen I bis IV eingeteilt. In Phase-I-Studien wird an gesunden Probanden neben Resorption, Verteilung und Ausscheidung vor allem die Toxizität der Substanz untersucht und damit eine erste Charakterisierung des Nebenwirkungsprofils ermöglicht. Auf Grund der umfangreichen präklinischen Forschung ist die Probandensicherheit relativ hoch. Dennoch kann es in seltenen Fällen zu schwerwiegenden, teilweise lebensbedrohlichen unerwünschten Wirkungen kommen - wie im Sommer 2005, als in London bei der Erprobung eines TNF-a-Blockers mehrere Probanden schwerste anaphylaktische Reaktionen erlitten.

In Phase-II-Studien wird erstmals Wirksamkeit und Nebenwirkungsprofil an wenigen Erkrankten oder Infizierten untersucht. In einem zweiten Schritt wird die optimale Dosis, also diejenige Dosierung mit dem besten Nutzen-Risiko-Profil definiert (Phase IIb).

Phase-III-Studien sind große Untersuchungen an mehreren hundert Patienten. Der Wirkstoff wird gegen den gegenwärtigen therapeutischen Goldstandard oder gegen Placebo untersucht. Auf Basis der ausgewerteten präklinischen und klinischen Daten erfolgt die Zulassung des Arzneimittels.

ARZNEIMITTELZULASSUNG DURCH DIE EMEA

Der Antrag auf Zulassung zur Vermarktung enthält sämtliche Ergebnisse, die in den Studien gewonnen wurden. Die Zulassung basiert weitgehend auf dem Studiendesign der durchgeführten Phase-III-Studien.

Die eingereichten Unterlagen werden vom Komitee für humanmedizinische Produkte (CHMP), dem wissenschaftlichen Gremium der EMEA, beurteilt. Das CHMP besteht aus je einem Vertreter der 27 EU-Länder (bei komplexen wissenschaftlichen Fragestellungen können zusätzlich bis zu fünf Experten hinzugezogen werden). Dieses Gremium ernennt aus seiner Mitte einen sogenannten Rapporteur und einen Co-Rapporteur, die Kritik und ergänzende Fragen zu den eingereichten Unterlagen formulieren und im CHMP zirkulieren lassen. Innerhalb streng einzuhaltender Zeitfenster müssen die Antragsteller - sprich: die Pharmafirmen - die Fragen beantworten und gelegentlich weitere Daten liefern. Auf Basis der Antworten wird vom Rapporteur ein aktualisierter Bericht angefertigt. Anhand dieses Berichtes bildet sich das CHMP eine grundsätzliche Meinung über die Zulassung oder Nicht-Zulassung des neuen Arzneimittels: die Positive oder Negative Opinion.

Nach Veröffentlichung einer "Positive Opinion" wird die Produktinformation, die alle relevanten Erkenntnisse über das Arzneimittel enthält, sowie eine zusammenfassende Beurteilung geschrieben, und zwischen EMEA und Pharmafirma die Löschung von vertraulichen Informationen vereinbart. Diese vertraulichen Informationen sind meistens wirtschaftlich bedeutsam: jede Medikamentenentwicklung und Zulassung folgt einer Strategie (in welche Marktlücke soll das Präparat stoßen? Welche Indikationen werden jetzt und in Zukunft angestrebt? Welche Studien müssen auch nach Zulassung noch durchgeführt werden?).

Zwischen "Positive Opinion" und Marktzulassung liegt eine Frist von maximal 67 Tagen. Nachzuvollziehen ist dies beispielsweise an der Zulassung von Raltegravir. Am 15.11.2007 wurde die "Positive Opinion" veröffentlicht, die Marktzulassung erfolgte am 14.01.2008 (62 Tage). Ebenfalls 62 Tage vergingen zwischen "Positive Opinion" und der Zulassung von Atripla®. Es lässt sich also praktisch bis auf den Tag genau das zu erwartende Zulassungsdatum nach Veröffentlichung der "Positive Opinion" errechnen.

ÖFFENTLICHE DATEN

Eine Zusammenfassung aller zur Zulassung führenden Daten und wissenschaftlichen Diskussionen wird im European Public Assessment Report (EPAR) auf der Homepage der EMEA veröffentlicht (www.emea.europa.eu). Marktzulassungen werden aber nicht immer bedingungslos erteilt, sondern gelegentlich nur unter Auflagen. Meistens müssen die Firmen sich dann verpflichten, ergänzende Studien zu spezifischen Fragestellungen durchzuführen. Substanzen, die für Patienten dringend benötigt werden, werden nach einem beschleunigten Verfahren zugelassen, dem Accelerated Assessment Procedure. Dieses Verfahren wurde beispielsweise für Raltegravir durchgeführt. Mittlerweile geht der Trend - vor allem bedingt durch den Druck der Aktivisten - aber eher dahin, dass die Zulassungsverfahren für HIV-Medikamente nicht mehr beschleunigt, sondern normal ablaufen mit dem Ziel mehr Informationen zur Langzeitverträglichkeit eines Medikamentes zu sammeln.

Nebenaspekt: Es werden jedoch nicht immer alle gewonnenen Daten veröffentlicht. Da die Studien nicht mit öffentlichen Mitteln sondern vom Hersteller selbst finanziert werden, ist er Eigentümer der Daten und kann folglich selbst bestimmen, was mit ihnen geschieht. Wenn Daten gewonnen werden, die der strategischen Platzierung eines Wirkstoffes schaden könnten, oder schlicht negativ sind, werden sie gelegentlich nicht veröffentlicht (sog. Data on file). Hieran gibt es naturgemäß Kritik; seit ein paar Jahren müssen gestartete Studien öffentlich bekannt gegeben werden. Hiervon erhofft man sich eine gewisse Kontrolle darüber, ob die Studien - unabhängig von ihrem Ergebnis - nach ihrer Beendigung auch publiziert werden.

UNTERSCHIEDE ZUR FDA

Es gibt wichtige, teilweise auf unterschiedlichen Philosophien beruhende Unterschiede zwischen der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA (Food and Drug Administration) und der EMEA. Eine wichtige Differenz besteht in der Daten-Interpretation durch die FDA. Die amerikanische Behörde betrachtet die Daten "nüchtern", d.h. im Vordergrund steht das Ergebnis. Atazanavir wurde beispielsweise in den USA ungeboostet zur Behandlung therapienaiver Patienten zugelassen, denn in der Studie AI424-034 waren Atazanavir und Efavirenz bei naiven Patienten gleich gut wirksam. Dennoch überraschte die Studie: das Ergebnis war in beiden Therapiearmen unerwartet schlecht. Die EMEA verweigerte deshalb der gesamten Studie die Anerkennung und erteilte folglich keine Zulassung. Die FDA dagegen bewertete ausschließlich das vergleichbare Outcome beider Studienarme und erteilte Atazanavir ungeboostet die Zulassung zur Anwendung bei naiven Patienten.

GLOBALE ANGLEICHUNG?

Anders als in den USA verläuft in Europa auch der sogenannte Scientific Advice Process. Die FDA begleitet schon von Beginn der frühen klinischen Studien kontinuierlich mit definierten Berichtszeitpunkten die Entwicklung eines Arzneimittels und gibt Ratschläge zum Studiendesign. In Europa jedoch nimmt die EMEA erstmals Einblick in die Unterlagen, wenn der Zulassungsantrag eingereicht wird, sofern die Pharmafirmen keine Beratung zum klinischen Studienprogramm bei der Behörde beantragen. Dies kann bei nicht beanspruchtem Scentific Advice mitunter zu einer Arzneimittelentwicklung führen, die die Anforderungen der EMEA nicht genügend berücksichtigt, berichtet Dr. Anje Wallstab, Leiterin der Zulassungsabteilung der deutschen Niederlassung von Gilead Sciences. Mittlerweile werden Studien meist global durchgeführt. Hierdurch können regionale Unterschiede im Studienprogramm berücksichtigt werden. Für einen erfolgreichen Zulassungsprozess ist nach Wallstabs Ansicht ein früher Kontakt zwischen Pharmafirmen und EMEA von großer Bedeutung. Es ist also davon auszugehen, dass sich in Zukunft die europäischen und US-amerikanischen Zulassungsmodalitäten angleichen.

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