STEFAN ESSER
Sind deutsch-ukrainische Klinikpartnerschaften möglich und sinnvoll?

Längst hat die HIV-Infektion in der Ukraine die in Westeuropa betroffenen Risikogruppen verlassen und zieht breite Kreise. Dennoch herrschen gegenüber der HIV-Infektion Gleichgültigkeit, Unkenntnis und Unverständnis. HIV-Infizierte werden stigmatisiert und ausgegrenzt. Die ethische und die volkswirtschaftliche Bedeutung der dramatisch ansteigenden Neuansteckungen sind der Bevölkerung und ihren Entscheidungsträgern nicht bewusst.

In den ersten Jahren der Epidemie waren in der Ukraine fast ausschließlich intravenös Drogenabhängige (IVDU) betroffen. In letzter Zeit ist jedoch ein erschreckender Trend hin zur Übertragung der HIV-Infektion durch heterosexuellen Sex zu beobachten.

HIV-Infizierte werden trotz der dramatisch ansteigenden Zahlen immer noch als "gesellschaftliche Randgruppe" angesehen, die an ihrer Erkrankung selbst schuld sind. "Normale Bürger", die sich nicht zu den Risikogruppen zählen, sehen sich nicht als gefährdet an, was möglicherweise einen selteneren Kondomgebrauch nach sich zieht. Homosexualität (MSM) scheint es offiziell in der Ukraine nicht zu geben und taucht deshalb in Statistiken kaum auf. Vermutlich werden MSM noch mehr gesellschaftlich geächtet als HIV-Infizierte.

VERSORGUNGSSTRUKTUREN

Das staatliche Gesundheitswesen ist für die Bürger prinzipiell kostenlos. Es ist noch geprägt von der zentralistischen Organisation des ehemals sowjetkommunistischen Teilstaates. Die medizinische Versorgung richtet sich nicht nach den Bedürfnissen vor Ort. Vielmehr werden mangelhafte Ressourcen zentral verteilt. Es werden dirigistische Vorgaben für die Versorgung der Kranken gemacht, die vom medizinischen Personal vor Ort weder verstanden noch hinterfragt werden. Die zentralen Anweisungen werden unkritisch befolgt. Die Kranken werden eher verwaltet als wirklich medizinisch versorgt bzw. behandelt.

AIDS-ZENTREN

Die Ukraine ist verwaltungstechnisch in so genannte Oblasten unterteilt, vergleichbar den Kreisen in Deutschland. In jedem Oblast gibt es ein AIDS-Zentrum sowie einen eigenen AIDS-Koordinierungsrat, der sich aus Vertretern von Politik, Verwaltung, NGOs und vom AIDS-Zentrum zusammensetzt. Dieses Gremium erhält seine Vorgaben wiederum vom nationalen AIDS-Koordinierungsrat, der in ähnlicher Weise aufgebaut ist. Die Lage der AIDS-Zentren ist häufig versteckt oder weit außerhalb der Innenstädte. Der bauliche Zustand reicht von katastrophal bis hervorragend. In jeder Hinsicht herausragend ist die AIDS-Klinik in Kiew, nicht zuletzt dank ihrer phantastischen Lage. Zurzeit werden die regionalen AIDS-Zentren in den Oblasten ausgebaut. Auch die Suchtkliniken werden renoviert. Als Finanzmittel dienen staatliche Gelder sowie Unterstützungen von Hilfsorganisationen.

MANGELNDE EXPERTISE

Verschiedene Fachärzte mit unterschiedlichen Zuständigkeiten betreuen nur zum Teil vernetzt HIV- und AIDS-Patienten. In der Hierachie der sozialen Anerkennung rangieren die Infektiologen und HIV-Schwerpunktbehandler am unteren Ende und sie sind - wie alle im staatlichen Gesundheitswesen Tätigen - schlecht bezahlt. Die mangelnde soziale Anerkennung und schlechte Bezahlung wirken sich nicht motivierend auf die Leistungsbereitschaft der HIV-behandelnden Ärzte aus.

In den besuchten AIDS-Zentren in zwei Oblasten mit niedriger Prävalenz waren die Ärzte häufig unzureichend ausgebildet und hatten durch die Sprachbarriere kaum Zugang zu internationaler Medizinfortbildung. Das Wissen und die Kenntnis zu Diagnostik, Versorgung und Behandlung von HIV- und AIDS-Kranken waren gering. Besonders im Umgang mit Labormaterialien und Untersuchungen bestanden erhebliche Defizite. Die Indikation und Interpretation war dilettantisch. HIV und AIDS werden bislang bei der Ausbildung von Ärzten in der Ukraine kaum berücksichtigt. Auch die Fortbildungsmöglichkeiten sind beschränkt. Dies lässt nichts Gutes vermuten für die umliegenden ländlichen Regionen und die dort tätigen Allgemeinärzte.

PROBLEM: KORRUPTION

Korruption spielt eine große Rolle. In der Ukraine sind sowohl Ärzte als auch Pflegekräfte schlecht bezahlt und stehen (wie die meisten im Staatsdienst Tätigen) am unteren Ende der Einkommensskala der zunehmend kapitalistisch orientierten und im Lebensunterhalt teuer werdenden Ukraine. Die Einkünfte werden durch zusätzliche direkte Zahlungen von Patienten für Behandlung und Versorgung aufgebessert.

Die zahlreichen NGOs im HIV-Bereich, die offensichtlich beträchtlichen politischen Einfluss haben, erscheinen dagegen sowohl technisch als auch personell weit besser ausgestattet zu sein als die Kliniken. Die Finanzmittel von Weltbank, Global Fund und zahlreichen Ländern (unter anderen Deutschland) verschwinden zu erheblichen Teilen oder werden gar nicht abgerufen.

PRÄVENTION

Präventionsprojekte werden vor allem von nicht staatlichen Hilfsorganisationen (NGO) betreut. Prostituierte und Menschen, die beruflich viel reisen, stehen im Focus der Aufklärung. Spritzentauschprogramme für IV-Drogenkonsumenten (IVDU) sind bisher an der mangelnden Kooperation der Polizei und an der weit verbreiteten Korruption gescheitert. Die Polizei positioniert sich an den Spritzentauschstellen, um die Drogenabhängigen zu registrieren und anschließend durch Androhung von Repressalien zu erpressen.

Es gibt aber auch positive Entwicklungen. Derzeit laufen viel versprechende Substitutionsprogramme für IVDU mit Buprenorphin oder Methadon an, die auf großes Interesse sowohl bei HIV-positiven als auch bei HIV-negativen Suchtkranken stoßen. In den besuchten Einrichtungen standen Sozialarbeiter und Psychologen zur Verfügung. Schon jetzt scheint eine psychosoziale Begleitung von Suchtkranken stattzufinden. Ebenso werden Suchtkranke in entsprechenden Kliniken entgiftet.

Es muss noch viel passieren

Dr. Stefan Esser, Essen, nahm vom 14. bis 18.11.2007 an einer Informationsreise in die Ukraine teil. Die Reise erfolgte mit freundlicher Unterstützung der Firma Boehringer Ingelheim auf Einladung von Frieder Albert, Augsburg, der für Connect Plus schon seit vielen Jahren in der Ukraine unterwegs ist, die dortigen Gegebenheiten gut kennt und verschiedene Hilfsprojekte auf den Weg gebracht hat. Ziel der Reise des Schatzmeisters der DAIG war es, Möglichkeiten für Klinikpartnerschaften auszuloten. Sein Fazit: Ohne Anpassung der staatlichen Vorsorgungsstrukturen ist eine dauerhafte Verbesserung der Situation der HIV-Infizierten in der Ukraine nicht möglich.

Die größte Gruppe der HIV-Infizierten in der Ukraine sind bisher IVDU und HIV-Patienten mit TB. Diese erhalten grundsätzlich keine ART. Es ist unklar, welche Patienten in der Ukraine überhaupt behandelt werden. Befürchtungen, dass die Kenntnisse bezüglich der Durchführung und Verlaufskontrolle einer ART weitgehend unzureichend sind, erscheinen berechtigt. Bei der Einführung von Klinikpartnerschaften sind daher im Rahmen einer abgestimmten Strategie gleichzeitig Anstrengungen zur Veränderung der übergeordneten Strukturen notwendig.

Diese subjektive Einschätzung der HIV-Versorgung in der Ukraine basiert auf gedolmetschten Gesprächen sowohl mit HIV-Positiven, AIDS-Kranken, Ärzten, Sozialarbeitern und Pflegekräften aus AIDS- und TB-Versorgungszentren, Suchtkliniken, und NGOs sowie mit lokalen Vertretern aus der Politik in Kiew, Vinnitsa und Tschernowitz ebenso mit Mitarbeitern der GTZ und Beratern der Weltbank als auch auf Besichtigungen der zuvor genannten Einrichtungen im November 2007. Dank an Frieder Alberth und Igor Lisovskyi für die hervorragende Organisation der Reise. Dr. Stefanie Holm aus Hannover hat im Anschluss an die gemeinsame Reise bereits Fortbildungen für substituierende ukrainische Ärzte durchgeführt. Priv. Doz. Dr. Keikawus Arastéh aus Berlin pflegt schon lange eine Klinikpartnerschaft mit Donnetz.

INDIKATION ZUR ART

Die Indikation für die Einleitung einer antiretroviralen Therapie wird vom nationalen AIDS-Koordinationsrat bestimmt, der "angemessene" antiretrovirale Substanzen empfiehlt, aber veralteten Konzepten bei Verlaufskontrollen und Indikationsstellung zur ART folgt. Die meisten der zentral verordneten Kontraindikationen für eine ART waren gut bekannt, während hinsichtlich der zentral vorgegebenen Indikationen und deren aktuellen Änderungen große Unsicherheit herrschte. Wie auswendig gelernt behaupteten einige HIV-Schwerpunktärzte, dass sie wie in allen anderen Ländern Westeuropas die Indikation zur ART nach der individuellen CD4-Zellzahl des HIV-Infizierten stellen. Interessanterweise wird diese Untersuchung bei den HIV-Patienten aber so gut wie nie durchgeführt. Wenn doch CD4-Zellen gemessen werden, dann meistens insuffizient, da Entnahme, Lagerung und Transport ebenso unbekannt sind wie die Interpretation der Testergebnisse. Zudem ist in der Ukraine kaum jemand in der Lage, abgesehen von der Tuberkulose AIDS-assoziierte Symptome bzw. AIDS-definierende Erkrankungen zu diagnostizieren.

NUR WENIGE UNTER ART

Da die Indikation für die Einleitung einer antiretroviralen Therapie (ART) sowie die hierfür erforderlichen Messmethoden nicht bekannt und die dazu erforderlichen Geräte nicht vorhanden sind (bzw. wenn sie vorhanden sind, kann sie niemand bedienen, warten und kontrollieren), wird trotz der enormen Anzahl von therapiebedürftigen HIV-Patienten nur ein verschwindend kleiner Teil rechtzeitig behandelt. HIV-Infizierte mit Tuberkulose (TB), Hepatitis-Koinfektion und drogenabhängige Patienten (die größte Gruppe der HIV-Infizierten) erhalten grundsätzlich keine ART. Viele der HIV-Patienten mit TB versterben trotz tuberkulostatischer Behandlung.

Probleme bereitet auch die Verwaltung der Medikamente. Aufgrund der zentralen Verteilung wissen Ärzte in Niedrigprävalenzgebieten gar nicht, was sie mit der ihnen zugeteilten ART anfangen sollen, während Ärzte in Hochprävalenzgebieten, die die Dimension der HIV-Epidemie täglich erleben, verzweifelt auf weitere Zuteilungen warten. Die von der ukrainischen Regierung gekauften und eingesetzten antiretroviralen Substanzen sind zudem keine WHO-zertifizierten Generika, sondern Medikamente, deren Sicherheit und Zusammensetzung fragwürdig erscheinen. Bei den Tuberkulostatika führen Lieferschwierigkeiten und fehlende Lagerhaltung zu Versorgungsengpässen mit Tuberkulostatika, zu unnötigen Therapiewechseln und im schlimmsten Fall sogar zu unbeabsichtigten Therapiepausen.

HIV-TEST

Ein HIV-Infizierter in der Ukraine kann nicht mit einer adäquaten medizinischen Versorgung rechnen. Vielmehr "wartet" er stigmatisiert und unbehandelt auf AIDS-Erkrankung und Tod. Dies wirkt sich unmittelbar auf die HIV-Testmoral aus. Niemand wird sich in der Ukraine ohne zwingenden Grund freiwillig auf HIV testen lassen.

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