1st International Workshop on HIV
& Aging, Baltimore, 4.-5. Oktober 2010
HIV-Positive altern
schneller
Es ist kein Zufall, dass die „Charm City“ Baltimore Schauplatz dieses erstmaligen Workshop war, denn die hier ansässige John Hopkins University School of Medicine richtete zusammen mit Virology Education die hervorragend organisierte Tagung aus. Das Intercontinental Hotel am Inner Harbor, dem touristischen Zentrum Baltimores, war als Tagungsort gut gewählt, wenn auch schnell klar wurde, dass man beim bereits geplanten zweiten Workshop im nächsten Jahr größere Räumlichkeiten benötigen wird. So hatten die 165 Teilnehmer gerade mal Platz im Whitehall Ballroom, in dem alle Vorträge und Präsentationen nacheinander stattfanden.
Die überwiegende Mehrheit der Workshop-Besucher kam aus den USA oder Kanada, lediglich 19 reisten aus Europa an. Die Zusammensetzung des Publikums spiegelte den thematischen Schwerpunkt: Fast ein Drittel waren Forscher aus dem akademischen Umfeld, einen weiteren großen Anteil stellten Vertreter der Pharmaindustrie, und neben einigen Patienten-Netzwerklern traf man auch Angehörige der US-Regierungsbehörden.
Frailty
Luigi Ferrucci vom National Institute of Aging, das ebenfalls in Baltimore beheimatet ist, hielt den Eröffnungsvortrag über die physiologischen Voraussetzungen für eine zunehmende Gebrechlichkeit im Alter. Die Baltimore Longitudinal Study of Aging, eine Langzeitstudie an der allgemeinen Bevölkerung, gibt Aufschluss über Warnzeichen wie die Abnahme von Körperfett und Sarkopenie sowie die Verringerung der zur Verfügung stehenden Energie. Wie in letzter Zeit häufiger auch im Zusammenhang mit der HIV-Infektion zu hören, kann das Altern, das in Ferruccis Meinung nicht kontinuierlich, sondern eher schubweise verläuft, als leicht entzündlicher Prozess gesehen werden; entsprechende IL-6 Level im Serum weisen darauf hin. Hinweise auf die Wirksamkeit gezielt eingesetzter Medikamente gegen diese Prozesse erhofft man sich von der MACS-Studie.
Joseph Margolick von der John Hopkins Universität sprach anschließend detaillierter über diese Studie (MACS = Multicenter AIDS Cohort Study), die seit 1994 HIV-infizierte Männer untersucht. Der frailty related phenotype oder FRP macht Altern an fünf leicht identifizierbaren Charakteristika fest: Langsamkeit, Schwäche (Griffstärke), Gewichtsverlust, schnellere Erschöpfbarkeit und Verringerung der körperlichen Aktivität. Die HIV-infizierten Männer schnitten in allen Bereichen schlechter ab als Altersgenossen und erlebten eine etwa 10 Jahre frühere Ausprägung des FRP. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Gabe von Testosteron in einigen Punkten für Besserung sorgte.
Immunologie des Alterns
Anzahl und Funktionstüchtigkeit der plasmazytoiden dendritischen Zellen (pDC) – hauptverantwortlich für körpereigene Interferon alpha-Produktion – sind bei älteren Menschen rückläufig (O_02 Dai J et al.). Bei jüngeren HIV-infizierten Patienten werden bereits ähnlich niedrige Level festgestellt, bei älteren HIV-Patienten ist der Rückgang noch drastischer. Zudem werden die Zellen rascher ausgetauscht und die Telomere sind verkürzt. Dai und Kollegen von der University of New Jersey in Newark meinen, dass eine beschleunigte Seneszenz durch diese chronische Immunreaktion mitbedingt ist.
Einen Anstieg der globalen Immunoseneszenz-Marker CD57+ und CD28- fanden Unemori und Kollegen von der University of California in San Francisco bei HIV-Patienten, die trotz nicht nachweisbarer Virenlast und bei vergleichsweise guten CD4-Zellen neuerdings Kaposi-Sarkome entwickelten, die in ihrer Ausprägung weniger den HIV-assoziierten als den klassischen Formen des KS ähneln (O_03 Unemori P et al.).
Immunologen wie Alan Landay von der Rush University in Chicago sind zurzeit damit beschäftigt, die Mechanismen genauer zu untersuchen, die mit einer Erschöpfung des Immunsystems einhergehen (PD-1 und CTLA-4-Moleküle als Signalgeber beispielsweise). Es wird spekuliert, ob die Gabe von Antibiotika den Prozess des Inflammaging wenn nicht aufhalten, so doch verlangsamen könnte.
Andererseits erhoben sich auch kritische Stimmen, die meinen, dass dem Inflammaging in der derzeitigen Diskussion zu viel Bedeutung beigemessen wird.
Arteriosklerose als Beispiel
Der interessante Vortrag von Russ Tracy, University of Vermont, fasste am Dienstag noch einmal viele Aspekte des Älterwerdens und Alterns zusammen. Er stellte die Arteriosklerose als Modell für den Alterungsprozess vor und leitete über zu der Beobachtung, dass HIV wie andere chronische Krankheiten einen entzündlichen Zustand des Körpers hervorruft, allerdings bei gleichzeitiger Dysregulierung des Immunsystems. Die Konsequenzen für ART und das Monitoring von Komorbiditäten müssen genauer erforscht werden. In mancher Hinsicht helfen womöglich ganz einfache, aus dem kardiovaskulären Umfeld übernommene Lifestyle-Empfehlungen wie „mehr Bewegung, mehr Sport“.
Augenmerk auf die Pharmakologie
Janice Schwartz von der University of California in San Francisco erläuterte Besonderheiten der Pharmakologie im Alter. Vor allem Frauen sind aufgrund einer deutlich schlechteren Nierenausscheidung betroffen; Dosisanpassungen und ein sorgfältiges Abwägen möglicher Interaktionen sind hier besonders wichtig.
Das Für und Wider der Medikation zeigte eine Studie des Teams um Jacqueline Capeau an der Université Pierre et Marie Curie, Paris. So konnten Statine in Zellkulturen die negativen Effekte von Proteasehemmern aufheben. Bisher wurden nur Lopinavir und Ritonavir untersucht. Beide wirken u.a. durch Akkumulation des Prelamin A an der frühzeitigen Zellalterung und Entstehung kardiovaskulärer Erkrankungen mit. Dieser Wirkung kann Pravastatin direkt entgegensteuern, gleichzeitig muss die Dosierung überwacht werden (O-18 Capeau J et al.).
Linda Robinson berichtete über die kanadische Windsor Cohort. Der oft beschriebene Vitamin-D-Mangel bei HIV-Patienten wurde hier in Zusammenhang mit Lipoatrophie bzw. vorausgegangener Therapie mit AZT/d4T gesetzt (O-06 Robinson L et al.). Kontrovers wurde die Diskussion um Vitamin D geführt: Wie wichtig ist es, ob und wie sollte es supplementiert werden? Die VITAL-Studie untersucht gerade an 20.000 Teilnehmern in den USA, inwieweit eine tägliche Gabe von 2.000 IU Vitamin D nutzt.
Neurologische Fragestellungen
Forscher der University of California in San Diego benutzten den MIST (Memory of Intentions Test) als Teil einer umfassenden neurokognitiven Untersuchung und fanden höhere Niveaus von phosphorylated Tau (pTau) bei älteren HIV-Patienten, interessanterweise bei behandelten Patienten, die im MIST deutlich schlechter abschnitten als Altersgenossen. Die so genannte prospektive Erinnerung, die hier gemessen wird, bezeichnet die Fähigkeit, sich später an gefasste Entschlüsse erinnern zu können (LB_01 Letendre S et al.).
Ken Witwer und Kollegen von der John Hopkins University haben im Primatenmodell 10 so genannte microRNAs identifiziert, die bei der Entschlüsselung von HIV und Alterungsprozessen nützlich sein könnten, allen voran miRNA 34a und 125b. Die Hoffnung ist, zukünftig im Plasma anhand dieser neuen Biomarker neurologische Defizite schon im Vorfeld zu erkennen (LB_02 Witwer K et al.).
Sind Mitochondrien an allem schuld?
Douglas Wallace von der University of Pennsylvania gab eine ebenso komplexe wie launige Einführung in die Rolle der Mitochondrien beim Alterungsprozess. Die Verteilung bestimmter genetischer Mitochondrien-Muster ist an Regionen gebunden und könnte die Prävalenz mancher Krankheiten in bestimmten Ländern erklären. Im Gegensatz zum alten Mendelschen Modell wäre Erbgut abhängig von bestimmten Energiestoffwechseln, die sich mit der Umgebung verändern können. Die Webseite www.mitomap.org erlaubt Interessierten genauere Einblicke. Nach diesem Vortrag kam es zu einer für den ansonsten sehr disziplinierten Workshop ungewöhnlich hitzig geführten Debatte.
Patienten behandeln, nicht Krankheit
Viele einzelne Untersuchungen legen heute den Schluss nahe, dass die HIV-Infektion an sich einen frühzeitigen Alterungsprozess nach sich zieht. Hier nur ein Beispiel: Todd Brown von der John Hopkins University präsentierte Zahlen zur BMD (bone mineral density), die bei HIV-Patienten überdurchschnittlich rasch abnimmt. HIV-positive Kinder erreichen überhaupt nie die volle BMD, mit entsprechend negativen Auswirkungen für ihr späteres Frakturrisiko.
Die Integration der Faktoren „Host – Disease – Medication“ erfordert die verstärkte Zusammenarbeit von HIV-Behandlern mit Kardiologen, Neurologen und Geriatern. Als Schlagwort in diesem Kontext prägte Darnell Abernethy von der FDA in seinem Vortrag über Nebenwirkungen den Begriff der „patienten-spezifischen Leitlinien“, die in Zukunft die krankheitsbezogenen Leitlinien ersetzen müssen. Gleichzeitig wurde der Ruf nach verstärkten Forschungsanstrengungen speziell für ältere Patienten laut.
Wenn auch in Baltimore der Fokus klar auf den Gegebenheiten der USA und Kanadas lag, so kann man doch von künftigen Workshops interessante Impulse erwarten.
DAGNÄ-Studie 50/2010 auf dem Kongress
Die von der DAGNÄ initiierte Studie 50/2010 war in Baltimore mit drei Postern vertreten. Das Thema „Sexuelle Dysfunktion“ wurde außerdem als mündlicher Vortrag gehalten. Die Untersuchung mit 763 Teilnehmern aus 37 Praxen vergleicht HIV-Positive mit Diabetes mellitus-Patienten und mit einer Kontrollgruppe ohne schwer wiegende chronische Erkrankungen. Alle Teilnehmer sind nach Alter und Geschlecht gleichmäßig verteilt.
DO-10 Sexuelle Dysfunktion:
505 Männer wurden bei Baseline gebeten, den AMS-Fragebogen (Aging Male Symptoms Scale) auszufüllen. Eine Gesamtpunktzahl von 37 oder mehr repräsentiert ernste (subjektiv wahrgenommene) Probleme im psychologischen, somatischen und sexuellen Bereich. 50% der HIV-Patienten und 45% der Diabetes-Patienten hatten einen Score von 37 oder mehr, 28% der Kontrollgruppe. Bei den Fragen, die sich nur auf sexuelle Symptome beziehen, waren nur die HIV-Infektion und ein höheres Alter von 70-79 Jahren signifikant assoziiert mit einem schlechteren Score (11 Punkte oder mehr).
Die
bereits angelaufene Substudie HYPE verspricht durch vergleichende Messungen des
Testosterons und weiterer Marker im Kontext dieser subjektiven Befragungen neue
Erkenntnisse über etwaige Zusammenhänge.
AMS-Fragebogen
P_05 Depression:
In einer Baseline-Befragung mithilfe der HADS (Hospital Anxiety and Depression Scale) zeigte sich kein signifikanter Zusammenhang mit einer chronischen Erkrankung und dem Auftreten von depressiven Störungen. Über die Patientengruppen hinweg waren eher sozio-ökonomische Faktoren wie Arbeitslosigkeit und Einsamkeit mit depressiven Verstimmungen assoziiert, die übrigens in der jüngsten Altersgruppe von 50-59 Jahren am häufigsten waren.
P_22 HDL und Nevirapin:
Die Baseline-Analyse von HDL-Cholesterin-Werten bei 517 Teilnehmern aller drei Gruppen ergab bei den HIV-positiven Patienten, auch wenn sie behandelt wurden, ähnlich niedrige HDL-Werte wie bei den Diabetes mellitus-Patienten. Niedrige HDL-Werte gelten als Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen. Untersuchte man jedoch die Werte bei HIV-positiven Patienten, die mit Nevirapin behandelt wurden, so zeigten sich deutlich höhere HDL-Werte, vergleichbar mit denen der Kontrollgruppe.
HDL bei HIV-Patienten mit/ohne NVP