Elisabeth Pott, Köln
Konzepte der Aufklärung
Sexuell übertragbare Infektionen (STI) waren schon vor vielen hundert Jahren bekannt. Im 15. und 19. Jahrhundert suchten beispielsweise große Syphilis-Epidemien Europa heim. Und selbst in Berichten aus dem alten Rom und in der Bibel lassen sich bereits Hinweise auf sexuell übertragbare Krankheiten finden. Dem entsprechend wurde mit unterschiedlichsten Präventionsansätzen gegen die als „Lustseuchen“ bezeichneten Infektionen vorgegangen. So wurden schon zu Casanovas Zeiten Kondome benutzt, die aber damals aus technischen Gründen wenig wirksam waren. Da ein offener Umgang zu Fragen der Sexualität und Verhütung gesellschaftlich nicht möglich war, blieb die Auseinandersetzung über Ursache und Wirkung von sexuell übertragbaren Krankheiten über Jahrhunderte mit einem Tabu belegt.
Vermeidungsstrategie
Bis ins frühe 20. Jahrhundert galt es, die Verbreitung sexuell übertragbarer Infektionen mit Hilfe der „Vermeidungsstrategie“ zu verhindern. Sie basierte auf (Angst-)Appellen, Aufrufen zu Enthaltsamkeit und lebenslanger Monogamie und zur Vermeidung eines risikoreichen Lebensstils, beispielsweise beim Alkohol- und Drogenkonsum. Dies alles – so glaubte man – sei der beste Schutz gegen eine Erkrankung. Diese Strategie ging aber schon damals an der Lebensrealität der Bevölkerung vorbei.
Suchstrategie
Ergänzt und teilweise abgelöst wurde dieser Ansatz mit der seit Anfang des 20. Jahrhunderts einsetzenden Behandelbarkeit von sexuell übertragbaren Infektionen. Ab 1910 erfolgte mit der Zulassung des auf Arsenbasis aufbauenden Salvarsan eine erfolgreiche Behandlung der Syphilis. Im Mittelpunkt der Seuchenbekämpfung stand nun die „Suchstrategie“, die auf die schnelle Identifizierung und Isolierung der „Infektionsquellen“ vom Rest der Bevölkerung setzte. Obligatorische Reihentestungen, (namentliche) Meldepflicht, die Rückverfolgung von „Infektionsketten“ und ein Behandlungszwang der Betroffenen bildeten einen Handlungsleitfaden, der die persönlichen Freiheitsrechte des Individuums dem Allgemeinwohl unterordnete (Old Public Health). Die Geschichte hat aber auch hier gezeigt, dass Zwangsstrategien nur bei totaler Kontrolle erfolgreich sein können. Als eine effektive und nachhaltige Präventionsstrategie haben sie sich nicht bewährt.
Lernstrategie
Welt-Aids-Tag 2010 Positiv zusammen leben. Aber sicher! Motiv „HIV und Arbeitswelt“
Mitte der achtziger Jahre wurde in fast allen westlichen Industrieländern äußerst kontrovers über die richtige Aids-Bekämpfungsstrategie öffentlich diskutiert. So auch in Deutschland. Der klassischen Suchstrategie wurde das Konzept entgegen gesetzt, möglichst schnell und bevölkerungsweit gesellschaftliche Lernprozesse zu etablieren. Individuen, soziale Gruppen, Institutionen und die gesamte Gesellschaft sollten sich selbstverantwortlich, präventiv und ohne Diskriminierung der Betroffenen auf ein Leben mit dem Virus einstellen. Die „gesellschaftliche Lernstrategie“ (New Public Health) setzte sich durch und wurde auch durch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung im Rahmen ihrer nationalen Aidsaufklärungskampagne „GIB AIDS KEINE CHANCE“ umgesetzt.
Wissen schützt
Wichtigstes Ziel war und ist es, die Zahl der Neuinfektionen mit HIV soweit wie möglich zu senken. Als wesentliche Grundlage dient ein hoher Wissenstand in der Bevölkerung über Ansteckungsrisiken, Nichtrisiken und Schutzmöglichkeiten. Darauf aufbauend soll zur Kondomnutzung in sexuellen Risikosituationen motiviert werden, wie beispielsweise bei neuen sexuellen Beziehungen oder häufig wechselnden Sexualpartnern oder Sexualpartnerinnen. Außerdem galt es von Anfang an bis heute den Zusammenhalt, die Selbstorganisation und die offene Kommunikation in den besonders betroffenen und gefährdeten Gruppen zu fördern. Gleichzeitig war es unabdingbar, ein gesellschaftliches Klima zu etablieren, in dem Betroffene nicht diskriminiert und stigmatisiert werden.
Die Aidskampagne der BZgA
„Liebesorte“ 2011 Motiv „Boot“ – Zusammen stranden
Zur Umsetzung der Ziele hat die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in ihrer Kampagne GIB AIDS KEINE CHANCE eine multimediale Strategie entwickelt, bei der sich Medien und Maßnahmen wechselseitig ergänzen und verstärken. Hierzu gehören Massenkommunikationsmittel wie TV- und Hörfunk-Spots, Großplakate und Anzeigen, Printmedien für Interessierte und Multiplikatoren, aber auch personalkommunikative Elemente wie interaktive Ausstellungen, Aktionen in und mit Schulen und die anonyme persönliche Telefonberatung.
Die enge Zusammenarbeit und Kooperation mit der Deutschen AIDS-Hilfe bildet die zweite Säule des New Public Health Ansatzes der BZgA. Damit werden die Einbeziehung der betroffenen Gruppen bei der Umsetzung der Präventionsstrategien und eine dezentrale Infrastruktur von Präventions-, Beratungs- und Versorgungsangeboten sichergestellt.
Die Entwicklung des Schutzverhaltens und die breit aufgestellte differenzierte Infrastruktur der Präventionsakteure auf kommunaler, Landes- und Bundesebene in Deutschland zeigt insgesamt, dass die gesellschaftliche Lernstrategie aufgegangen ist und sich in wichtigen Zielgruppen langfristige und nachhaltige Verhaltensänderungen durchgesetzt haben. Das fortzusetzen ist eine der Herausforderungen für die Zukunft.
Erosion der Prävention?
Heute wird immer öfter hinterfragt, ob die „Lernstrategie“ in ihrer bisherigen Konzeption und Ausprägung die aktuellen Herausforderungen meistern kann oder der gesamte Ansatz zugunsten einer umfassenderen, neuen Strategie abzulösen ist. Es stellt sich die Frage, ob wir tatsächlich eine Erosion des gesellschaftlichen und politischen Konsenses zur HIV/Aids-Prävention in Deutschland erleben und ob die Erfolge der Vergangenheit zur Begründung zukünftigen Handelns nicht mehr ausreichen? Führt die fortschreitende Wahrnehmung von HIV/Aids als behandelbare, chronische Krankheit zur Auflösung des positiven „Sonderstatus“ im Gesundheitssystem und damit auch zum dramatischen Ressourcenverlust für die Prävention? Stehen Aufwand und Nutzen der HIV/Aids-Prävention noch in einem überzeugenden Verhältnis?
Eine befriedigende und tragfähige Antwort auf diese grundlegenden Fragestellungen muss im Diskurs mit den relevanten Akteuren der Prävention abgeleitet werden. Dabei kann der besondere und erfolgreiche Ansatz der HIV/Aidsprävention und der gesellschaftliche Mehrwert, der auch auf andere Felder der Prävention und Gesundheitsförderung ausstrahlt, aufgezeigt werden, um damit den Präventionsansatz insgesamt in Politik und Gesellschaft zu stärken. Die Notwendigkeit der Fortführung und Ausgestaltung der bisherigen Strategie ist konkret und im Detail zu begründen und darf nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden.
Prävention lohnt sich!
„Der Ring” – Szenenfoto aus dem Spot „20 Jahre Schutz und Solidarität“, 2007
Die Aidsprävention der BZgA wird seit 2005 von der PKV unterstützt. Am 18.06.2010 wurde der Vertrag um weitere 5 Jahre verlängert. Prof. Dr. Elisabeth Pott, Direktorin der BZgA bei der Vertragsunterzeichnung in Berlin
HIV/Aids-Prävention ist auch heute noch lohnend! Und zwar zuallererst aus humanitärer Sicht. Es geht vor allem darum, Menschen in die Lage zu versetzen und sie darin zu unterstützen, sich gesundheitsbewusst zu verhalten, sich selbst und andere zu schützen. Die nachhaltige Stärkung von Handlungskompetenz und Selbstwertgefühl ist dabei ein wesentliches „lohnendes“ Teilziel. Durch die Einbeziehung der Menschen aus den spezifischen Zielgruppen gelingt es, die gesundheitlichen Ressourcen von Betroffenen und Gefährdeten zu stärken und sie oft auch als engagierte Multiplikatoren zu gewinnen.
HIV-Prävention lohnt sich auch wirtschaftlich. Jede HIV-Infektion verursacht neben großem menschlichem Leid auch erhebliche Kosten. Nach Auskunft von Experten summieren sich die lebenslangen medizinischen Kosten auf ca. ½ Million Euro je HIV-Neuinfektion. Es ist – sehr zurückhaltend geschätzt – davon auszugehen, dass in Deutschland durch gelingende Prävention mehrere zehntausend HIV-Infektionen vermieden werden konnten und damit das Gesundheitssystem aktuell und zukünftig von immensen Kosten entlastet wird.
Spezifische Zielgruppen erreichen
Allerdings: Die Rahmenbedingungen und Herausforderungen für die Prävention haben sich in den letzten Jahren massiv verändert. So gilt es, immer spezifischere Zielgruppen mit auf sie zugeschnittenen Botschaften und Medien zu erreichen. Auf diese Herausforderungen antwortet die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zusammen mit ihren Partnern, indem sie die gemeinsame Strategie der HIV/Aids-Prävention auf die tragenden Säulen des New Public Health Ansatzes fokussiert und Kommunikation, Partizipation und Qualitätssicherung verstärkt und intensiviert.
Hierzu gehört die Weiterentwicklung der GIB AIDS KEINE CHANCE-Kampagne unter dem Motto „mach’s mit“, die sich an den Lebenswelten ihrer Zielgruppe orientiert und ohne Schockeffekte arbeitet. Ein neues Kommunikationskonzept besteht ebenfalls bei der Welt-AIDS-Tags-Kampagne „Positiv zusammen leben“, bei der es vor allem um den Abbau von Diskriminierung und Stigmatisierung von Menschen mit HIV und Aids geht. Erstmals in Europa stehen bei einer nationalen Kampagne authentische Menschen mit HIV öffentlich im Mittelpunkt und werben für Respekt und Akzeptanz.
Im Fokus: Junge Menschen
Die nachwachsenden Generationen sind nach wie vor die Kernzielgruppe, die die BZgA mit ihrer Aids-Präventionskampagne ansprechen will. Um diese junge Zielgruppe zu erreichen, spielen die neuen Medien wie das mobile Internet, Web 2.0 und insbesondere die sozialen Netzwerke wie Facebook oder Studi-/Schüler-VZ eine wichtige Rolle. Diese Kommunikationskanäle werden in die bestehenden Kampagnenansätze der BZgA integriert und ausgebaut.
Die Erfahrungen und Erfolge der bisherigen Präventionsstrategie bilden die Basis und die Anknüpfungspunkte für die Einbeziehung der Prävention sexuell übertragbarer Infektionen (STI) in den kommenden Jahren. Die Neuausrichtung der aktuellen mach’s mit-Schutzkampagne zu einer integrierten HIV/STI-Kampagne ab 2012 steht auf der Agenda. HIV und Aids werden dabei ihre besondere Bedeutung behalten.
HIV/Aidsprävention bedarf auch zukünftig der intensiven Zusammenarbeit verschiedener Partner. So hat sich die Arbeitsteilung zwischen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und der Deutschen AIDS-Hilfe seit vielen Jahren bewährt und wird sich auch in Zukunft weiter entwickeln. Gleichzeitig gilt es, die Zusammenarbeit mit neuen Partnern, insbesondere der Ärzteschaft, zu vertiefen. Für die verstärkte Prävention von HIV sowie anderen STI wird die Ärzteschaft mit ihrer Verantwortung für zielgruppengerechte Anamnese, präventive Beratung, bestmögliche Diagnostik und Therapie immer wichtiger. Dazu gehört die durch gezielte Fortbildungsangebote geförderte präventive Beratung bei Patienten, besonders Gefährdeten und Betroffenen in der ärztlichen Praxis.
Gutes bleibt
Solange es keine wirksame Schutzimpfung gegen HIV gibt und eine HIV-Infektion nicht heilbar ist, bleibt wirksame und nachhaltige Prävention weltweit das Mittel der Wahl, um die dramatischen individuellen und gesellschaftlichen Folgen von HIV und Aids zu minimieren.
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung wird auch in Zukunft die Ansprache gefährdeter Menschen/Zielgruppen mit der massenmedialen Ansprache der gesamten Bevölkerung kombinieren, um ein Bewusstsein für die Probleme zu schaffen, Themen zu enttabuisieren und um potentielle Diskriminierungseffekte zu vermeiden. Unsere Präventionsstrategien müssen auch zukünftig auf drei Ebenen ansetzen: der Bevölkerungsebene, der Zielgruppenebene und der individuellen Ebene (Mehrebenen-Strategie). In der integrierten Kommunikationsstrategie werden die Wirksamkeitsvoraussetzungen gelingender Kommunikation auf wissenschaftlicher Basis analysiert, umgesetzt und in ständiger Rückkopplung optimiert. Schließlich wird die Strategie immer wieder an sich verändernde Gegebenheiten wie Kommunikations- und Rezeptionsbedürfnisse der Zielgruppen angepasst.
Wissenschaftlich begründete, durchgehend als wirksam evaluierte und konzeptuell immer weiterentwickelte Präventionsangebote für die gesamte Bevölkerung wie für besondere Zielgruppen werden auch zukünftig entscheidend sein, um die Zahl der Neuinfektionen zu stabilisieren bzw. zu minimieren.
Abbildungen: BZgA