HIV & Arbeit: Packen wir’s an!

 -- HIV-positiv im Erwerbsleben – das ist für viele Menschen Alltag. Trotzdem herrscht an den meisten Arbeitsplätzen das große Schweigen. Viele HIV-Positive haben Angst vor Diskriminierung. Die Bundesregierung ist bislang weitgehend untätig geblieben. Ein Online-Dossier der Deutschen AIDS-Hilfe informiert und gibt Anstöße zum Handeln.

Dass Menschen mit HIV ganz normal arbeiten, ist mittlerweile die Regel, nicht die Ausnahme. Rund zwei Drittel der etwa 70.000 HIV-Infizierten in Deutschland stehen im Beruf ihren Mann oder ihre Frau. Trotzdem herrscht in den meisten Firmen bezüglich HIV das große Schweigen. Viele Positive haben Angst vor Ausgrenzung und Diskriminierung bis hin zur rechtswidrigen Kündigung. Leider ist diese Angst nicht selten unbegründet.

Die Bundesregierung hat auf dieses Problem bislang nicht angemessen reagiert. Hilfreich wäre zum Beispiel, HIV im Allgemeinen Gesetz zur Gleichbehandlung (AGG) explizit als Diskriminierungsmerkmal zu erwähnen. Standards der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, die Maßnahmen gegen Diskriminierung festschreiben, sind in Deutschland noch nicht umgesetzt worden. Zu diesen Themen hat die Deutsche AIDS-Hilfe anlässlich des Tages der Arbeit am 1. Mai eine Pressemitteilung herausgegeben: „An die Arbeit, Frau von der Leyen!“ (siehe www.aidshilfe.de)

Neue Fakten über HIV am Arbeitsplatz

Zum 1. Mai erschien außerdem im DAH-Blog (http://blog.aidshilfe.de/2011/04/29/dossier-hiv-arbeit-1-packen-wirs-an) ein umfangreiches Dossier zum Thema HIV & Arbeit. Darin geht es auch um die Rolle der Arbeitgeber und der Gewerkschaften. Als „Best Practice“-Beispiel haben wir Lothar Stilleke, Bereichsleiter im Job-Center Essen, interviewt. Er ist der Chef von Marcel Dams (22), Rollenmodell unserer Kampagne ICH WEISS WAS ICH TU. Stilleke machte von Anfang an alles richtig, als sein junger Mitarbeiter sich als positiv outete. Ein Interview, das zur Nachahmung ermuntert!

Nicht zuletzt gibt erstmals eine Studie detailliert Aufschluss über HIV im Erwerbsleben. Sie stammt aus Großbritannien, dürfte aber im Wesentlichen auf Deutschland übertragbar sein. Die Ergebnisse der Online-Befragung sind deswegen besonders wichtig, weil sie einige hartnäckige Vorurteile widerlegen. Sie zeigen: HIV-Positive sind im Job kaum häufiger krankgeschrieben als HIV-Negative. Und: Offenbar leben deutlich mehr offen positiv als gedacht! Die wichtigsten Ergebnisse der Studie haben Christian Kranich und Holger Sweers für die Deutsche AIDS-Hilfe zusammengefasst (siehe folgenden Text).              howi

 



Arbeiten mit HIV – die Faktenlage

Sind HIV-Positive häufiger krankgeschrieben? Empfinden Sie ihre Infektion bei der Arbeit als Beeinträchtigung? Wie viele gehen offen damit um, und wie reagieren die Kollegen? Antworten auf solche Fragen gibt die britische Studie „Working with HIV“. Sie dürfte in weiten Teilen auch auf Deutschland zutreffen. Christian Kranich und Holger Sweers haben die Ergebnisse zusammengefasst.

Nach der Schweizer Studie „Aids, Recht und Geld“ aus dem Jahr 2003 war „Working with HIV“, durchgeführt 2009 vom National Aids Trust (NAT), die zweite große Untersuchung zu HIV und Beschäftigung im europäischen Raum. Für Deutschland selbst gibt es leider keine vergleichbar detaillierten Daten, der Blick in die Nachbarländer lohnt sich also.

Bei der NAT-Studie gaben 8.369 schwule und bisexuelle Männer Auskunft über ihre Situation am Arbeitsplatz, 1.830 von ihnen waren HIV-positiv. Die Forscher hatten also die Möglichkeit, die Erfahrungen der HIV-Positiven mit den Angaben HIV-Negativer zu vergleichen. Die Befragung fand anonym über einen Online-Fragebogen statt.

Vielfältige Arbeitsfelder und hohe Arbeitszufriedenheit

Die Teilnehmer der englischen Studie arbeiten in vielen verschiedenen Arbeitsfeldern. Angeführt wird die Hitliste von der Pflege (10%) und dem medizinischen Sektor (9%). Die Arbeitssituation war bei der Mehrzahl der Befragten stabil (die meisten hatten in den letzten fünf Jahren vor der Befragung nur einen oder zwei Arbeitgeber), die Arbeitszufriedenheit hoch – hier gab es keine Unterschiede zur HIV-negativen Vergleichsgruppe.

Bei mehr als der Hälfte hat HIV aktuell keinen Einfluss auf das Arbeitsleben

Insgesamt 58% der positiven schwulen Männer gaben an, dass HIV aktuell keinen Einfluss auf ihre Situation am Arbeitsplatz hat. Wenn HIV einen Einfluss hatte, wurde dieser vor allem mit starker Müdigkeit (20%) und Stress (13%) beschrieben. Einer von zehn Befragten gab an, durch Nebenwirkungen der HIV-Medikamente beeinträchtigt zu sein.

Für jeden dritten HIV-positiven Studienteilnehmer war die HIV-Diagnose ein belastendes Ereignis, das auch zu Fehlzeiten am Arbeitsplatz führte. Ähnliches gilt für den Beginn oder den Wechsel einer HIV-Therapie, weil sich der Körper erst an die Medikamente gewöhnen muss.

Wie sieht es mit Arztbesuchen aus? Etwa ein Drittel der HIV-positiven Befragten gab an, im Jahr vor der Befragung keine freien Tage genommen zu haben, um zum HIV-Spezialisten zu gehen, ein weiteres Drittel hatte einen bis drei Tage freigenommen. Nur ein kleiner Teil (5%) hatte von dem besonderen Anspruch auf freie Tage („disability leave“) Gebrauch gemacht – die Studie empfiehlt deshalb Menschen mit HIV und die Arbeitgeber besser über die (in England gesetzlich geregelten) besonderen Rechte von chronisch kranken Mitarbeitern aufzuklären.

Weniger als 10% fühlen sich krank


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Kampagne: Welt-Aids-Tag 2010 – Anzeige zum Thema Arbeitswelt

Nur 10% der HIV-positiven Befragten schätzten ihre geistige oder körperliche Gesundheit als schlecht ein, etwa 70% dagegen als „gut bis sehr gut“ (diese Anteile waren bei HIV-negativen Männern mit rund 80% allerdings deutlich höher).

Was die jährlichen Krankheitstage angeht, so gab es keine auffälligen Unterschiede zwischen den HIV-positiven Befragten (8 Tage) und den HIV-negativen schwulen Männern (7 Tage).

Rund 70% der HIV-positiven Arbeitnehmer hatten im Jahr vor der Befragung nicht wegen HIV-bedingter Krankheiten gefehlt. Jeweils etwa ein Fünftel der Befragten gab an, wegen der HIV-Infektion die Zahl der wöchentlichen Arbeitsstunden oder den Arbeitsbeginn/das Arbeitsende verändert zu haben, 16% hatten den Arbeitgeber gewechselt.

Als belastend wurden vor allem Einschränkungen bei Dienstreisen aufgrund diskriminierender Einreisebestimmungen genannt, rund ein Viertel sah sich durch HIV an einem Wechsel des Arbeitsplatzes gehindert (z.B. aus Angst vor einer Einstellungsuntersuchung).

Fast zwei Drittel haben sich am Arbeitsplatz geoutet

Insgesamt 62% der Befragten haben sich gegenüber Kollegen, Vorgesetzten, Kunden oder Klienten als HIV-positiv geoutet (verglichen mit 92%, die ihre sexuelle Orientierung offengelegt haben). Informiert wurden vor allem die Kollegen (40%) und Vorgesetzten (40%).

Bei über zwei Dritteln der positiven Männer war die Reaktion auf das positive Coming-out im Großen und Ganzen positiv. Weniger als jeder Zehnte berichtete von schlechten und nachteiligen Reaktionen.

Am Arbeitsplatz geoutet waren tendenziell eher solche Befragte, die im öffentlichen Sektor oder in Non-Profit-Organisationen tätig waren, die bereits eine HIV-Therapie machten oder bei denen sich die Infektion körperlich bemerkbar machte.

Gründe für das Nicht-Outing

Die meisten Ungeouteten (65%) gaben an, „einfach keinen Grund“ für ein Outing zu sehen. Zugleich nannten aber auch 53% die (offenbar begründete) Sorge, dass ein Outing im Rahmen eines Bewerbungsverfahrens zu Nachteilen führen könne (Mehrfachantworten waren möglich). Fast drei Viertel aller Studienteilnehmer, die im Bewerbungsverfahren nach HIV gefragt worden waren, fühlten sich dadurch belästigt – und von denjenigen, die ihren positiven HIV-Status kannten, legten etwa 38% ihn nicht offen. Die Autoren der Studie empfehlen denn auch ein Verbot, in Einstellungsuntersuchungen Fragen zu stellen, die für die zu vergebende Stelle keine direkte Relevanz haben.

Schutz vor Diskriminierung

Vor Diskriminierung schützt in Großbritannien der Disability Discrimination Act (DDA) – im Gegensatz zum deutschen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) explizit auch vor Diskriminierung aufgrund von HIV und Aids.

Ein Drittel der Befragten war sich des besonderen Schutzes allerdings gar nicht bewusst, und von den übrigen Befragten wusste wiederum ein Drittel nicht, dass der DDA auch ein Recht auf „angemessene Anpassungen“ am Arbeitsplatz umfasst. Die Autoren der Studie machen darauf aufmerksam, dass es hier dringenden Informationsbedarf gebe.

Unterstützende Maßnahmen

Ungefähr ein Drittel der Befragten, die sich ihrer besonderen Rechte im Rahmen des Disability Discrimination Act bewusst waren, hatten auf dieser Basis Anpassungsmaßnahmen am Arbeitsplatz beantragt; jeder zehnte Antrag wurde allerdings abgelehnt. Besonders gefragt waren: Freistellungen für Arztbesuche (67%), Veränderungen der Wochenarbeitszeit (52%) und eine Veränderung des Arbeitsbeginns beziehungsweise Arbeitsendes (50%).

Diskriminierung am Arbeitsplatz ist immer noch ein Thema

Jeder fünfte am Arbeitsplatz als HIV-positiv geoutete Befragte gab an, schon einmal wegen HIV diskriminiert worden zu sein (21%; 7% im Rahmen des derzeitigen und 14% im Rahmen eines früheren Arbeitsverhältnisses). Weitere 8% waren sich nicht sicher, ob eine schlechte Behandlung möglicherweise in ihrer HIV-Infektion begründet lag. 7% der HIV-positiven Befragten hatten im Rahmen ihres derzeitigen Jobs Diskriminierung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung erlebt.

Diskriminierung hat viele Gesichter: Die Betroffenen berichteten am häufigsten von Ausgrenzung (49% im derzeitigen und 50% in einem früheren Job) und dem Bruch der Schweigepflicht in Bezug auf ihre HIV-Infektion (42/52%). Ein nicht unerheblicher Teil der Geouteten, die Diskriminierung erleben oder erlebt hatten, berichtete von Mobbing (26% im aktuellen Job, etwa ein Drittel in einem früheren Job) und 19% gaben an, aufgrund ihrer HIV-Infektion nicht befördert zu werden. Immerhin 40% der am Arbeitsplatz Geouteten mit Diskriminierungserfahrungen glauben, dass sie deswegen ihren Job verloren haben.

Insgesamt berichteten Menschen, denen man ihre Erkrankung nach eigener Einschätzung ansehen kann, eher von Diskriminierung als andere – ansonsten gab es keine signifikanten Unterschiede zwischen Geouteten mit und ohne Diskriminierungserfahrungen.

Beschwerden gegen Diskriminierung

Beschwert über HIV-bezogene Diskriminierung hat sich etwa ein Drittel der Betroffenen. Nur 22% der Probleme waren zur Zufriedenheit der Betroffenen gelöst worden, 27% dagegen nur teilweise befriedigend und 30% überhaupt nicht. 21% der Beschwerden liefen zum Zeitpunkt der Befragung noch. Die Autoren der Studie fordern, Barrieren abzubauen, die Diskriminierungsopfer von solchen Beschwerden abhalten, und Menschen mit HIV bei Beschwerden gegen diskriminierende Behandlung zu unterstützen.


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