Bericht zur Entwicklung der HIV-Epidemie in Deutschland im Jahr 2010 aus dem Robert Koch-Institut

 -- Bis zum 01.03.2011 wurden dem Robert Koch-Institut (RKI) für das Jahr 2010 insgesamt 2.918 neu diagnostizierte HIV-Infektionen gemeldet. Gegenüber dem Jahr 2009 (n=2.885) bedeutet dies keine nennenswerte Veränderung bei der Gesamtzahl der HIV-Neudiagnosen. Seit 2007 hat sich der in den Jahren davor beobachtete Anstieg der HIV-Neudiagnosen deutlich verlangsamt.

Entwicklung der HIV-Meldedaten

Abb. 1 Entwicklung der HIV-Erstdiagnosen in Deutschland in den letzten zehn Jahren nach Halbjahr der Diagnose und Transmissionsrisiko
Abb. 1 Entwicklung der HIV-Erstdiagnosen in Deutschland in den letzten zehn Jahren nach Halbjahr der Diagnose und Transmissionsrisiko

Betrachtet man die Entwicklung der HIV-Neudiagnosen in den verschiedenen Betroffenengruppen, so steigt die absolute Zahl der HIV-Neudiagnosen bei Männern, die Sex mit Männern haben (MSM) im Jahr 2010 gegenüber dem Vorjahr (2009) geringfügig um 2% an (von 1.646 auf 1.684). Die Zahl der Personen mit Angabe eines heterosexuellen Infektionsrisikos (HET) geht leicht zurück (von 425 auf 411), ebenso die Zahl der bei Konsumenten intravenös verabreichter Drogen (IVD) neu diagnostizierten HIV-Infektionen (von 100 auf 93) und der Neudiagnosen bei Migranten aus Hochprävalenzländern (HPL) (von 285 auf 273). Die Zahl der HIV-Neudiagnosen, bei denen keine Angabe zum Infektionsrisiko vorliegt (k.A.), steigt leicht an (von 417 auf 436) (Abb. 1).

Die Absolutzahl der HIV-Neudiagnosen bei Frauen in Deutschland (n=436) nimmt gegenüber dem Vorjahr (n=465) leicht ab, die Zahl der HIV-Neudiagnosen bei Männern steigt leicht von 2.404 auf 2.471 an, und die Zahl der Meldungen ohne Geschlechtsangabe geht von 16 in 2009 auf 11 in 2010 zurück. Der Anteil der Frauen unter den HIV-Neudiagnosen betrug im Jahr 2010 in Deutschland 14,9% und ist damit auf den niedrigsten Wert seit Beginn der differenzierten Erfassung im Jahre 1993 gesunken.

Angaben zum Infektionsweg lagen für 85% der im Jahr 2010 neu diagnostizierten HIV-Infektionen vor. Darunter stellen MSM mit 68% unverändert die größte Gruppe. Der Anteil der nicht aus Hochprävalenzländern stammenden Personen, die angaben, ihre HIV-Infektion durch heterosexuelle Kontakte erworben zu haben, bleibt unverändert bei 17%. Der Anteil der Personen, die aus Ländern mit einer hohen HIV-Prävalenz in der allgemeinen Bevölkerung (Hochprävalenzländer) stammen, lag im Jahr 2010 ebenso wie im Vorjahr bei 11% der HIV-Neudiagnosen. Nach den verfügbaren Angaben ist anzunehmen, dass sich 20- 25% der Personen aus HPL in Deutschland infiziert haben – in den meisten Fällen wahrscheinlich durch sexuelle Kontakte mit Partnern aus der selben Herkunftsregion. Der Großteil der Infektionen jedoch wurde in den Herkunftsländern erworben. Der Anteil der Personen, die eine HIV-Infektion wahrscheinlich über i.v. Drogengebrauch erworben haben, lag bei 3,7%.

Entwicklung in den einzelnen Gruppen

Die absolute Zahl der HIV-Neudiagnosen bei Männern, die Sex mit Männern haben, hat im Jahr 2010 verglichen mit dem Vorjahr nur geringfügig zugenommen (Abb. 1). Die größten Veränderungen wurden in Brandenburg (Anstieg von 18 auf 34), Hessen (Anstieg von 127 auf 146), dem Saarland (Anstieg von 13 auf 18) und Thüringen (Rückgang von 15 auf 7) registriert.

Der Anteil der MSM, bei denen eine andere Herkunftsregion als Deutschland angegeben wurde, lag 2010 bei 13% (Herkunftsangabe fehlte bei 12% der Meldungen). Wichtigste ausländische Herkunftsregionen für in Deutschland neu mit HIV diagnostizierte MSM sind in der Reihenfolge ihrer Bedeutung Zentraleuropa (3,8%), Westeuropa (3,5%), Lateinamerika (2,2%), Südostasien (1,5%) und Osteuropa (0,8%). Erworben wurde die HIV-Infektion in mehr als 90% der Fälle in Deutschland. Wichtigste ausländische Infektionsregionen waren Westeuropa (2,2%), Zentraleuropa (1%), Lateinamerika (0,8%) und Südostasien (0,6%).

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Abb. 2 Entwicklung der HIV-Diagnose-Inzidenz von MSM in Deutschland von 2001 bis 2010 nach Altersgruppen

Anzahl und Anteil der MSM an den HIV-Erstdiagnosen sind seit 2001 kontinuierlich gestiegen, von ca. 46% der Meldungen im Jahr 2001 auf 68% der Meldungen im Jahr 2010. Damit einher gehen auch Veränderungen in der Altersstruktur der neu Diagnostizierten. Bei MSM steigen die Raten der HIV-Diagnosen in den betroffenen Altersgruppen 15 bis 59 Jahre bis 2008 weitgehend parallel an. Seit 2008 bleiben die Diagnoseraten bei den über 30-jährigen Männern stabil, während sie bei den unter 30-Jährigen weiter ansteigen, besonders ausgeprägt bei den 20-24-Jährigen. Die Zahl der Neudiagnosen pro 100.000 Männern bei MSM in der Altersgruppe der 20-24-jährigen MSM hat damit den höchsten Wert seit 1993 erreicht und nähert sich immer mehr den Werten, die in den traditionell am stärksten betroffenen Altersgruppen der 25-39-Jährigen erreicht werden (Abb. 2).

Die Gesamtzahl der HIV-Neudiagnosen mit Angabe eines heterosexuellen Übertragungsrisikos schwankt seit 2007 zwischen 411 und 425 Meldungen pro Jahr und kann derzeit als stabil bezeichnet werden. Die stärksten Veränderungen wurden in Sachsen (Zunahme von 11 auf 25 Fälle) und Schleswig-Holstein (Zunahme von 10 auf 18 Fälle) beobachtet. Bei ca. ¾ der Neudiagnosen in dieser Gruppe wird berichtet, dass sie in Deutschland erworben worden seien. Bedeutsamste ausländische Infektionsregionen sind Südostasien und Subsahara-Afrika (6 bzw. 4%). Ebenfalls 4% geben als Infektionsregion Zentraleuropa an. Davon stammt die große Mehrheit auch aus Zentraleuropa. Angesichts der epidemiologischen Situation in Zentraleuropa, des deutlichen Überwiegens von Männern (3:1) und der dort wesentlich stärkeren Stigmatisierung gleichgeschlechtlicher Kontakte ist es jedoch wahrscheinlich, dass ein Teil dieser Infektionen tatsächlich bei gleichgeschlechtlichen Kontakten zwischen Männern erworben wurde.

Die Zahl der HIV-Neudiagnosen bei Personen aus Hochprävalenzländern (HPL) ging von dem bisherigen Spitzenwert von 351 Meldungen im Jahr 2005 auf 273 im Jahr 2010 zurück. Dieser Gruppe werden alle Personen zugeordnet, die aus einem Land stammen in dem der vorherrschende Übertragungsweg heterosexuelle Kontakte sind, wo die geschätzte Prävalenz in der Allgemeinbevölkerung über 1% beträgt und bei denen weder homosexuelle Kontakte (MSM) noch intravenöser Drogenkonsum (IVD) als wahrscheinliche Übertragungsrisiken angegeben wurden. Der Rückgang der Meldungen von HIV-Neudiagnosen bei HPL geht einher mit einer Veränderung der Altersstruktur. Der Anteil der unter 30-Jährigen ging von 46% im Jahr 2005 auf 36% im Jahr 2010 zurück, der Anteil der über 30-Jährigen steigt entsprechend an. Vermutlich spiegeln diese Veränderungen einen auf Grund schärferer Einreiserestriktionen für Menschen aus Hochprävalenzregionen auf EU-Ebene verminderten Zuzug aus diesen Regionen. Neudiagnosen in dieser Gruppe erfolgen daher wahrscheinlich zunehmend aus dem Pool der längerfristig in Deutschland lebenden Migranten. Das Verhältnis von Frauen zu Männern unter den HPL ist nahezu 2:1. In 2010 wurde ähnlich wie in den Vorjahren bei ca 20% der gemeldeten Infektionen von Menschen die aus Hochprävalenzregionen stammen angegeben, dass die Infektion vermutlich in Deutschland erfolgt ist.

Die Zahl der HIV-Neudiagnosen bei Gebrauchern intravenös konsumierter Drogen ist im Jahr 2010 mit 93 Meldungen auf den niedrigsten Wert seit Beginn der differenzierten Erfassung im Jahr 1993 gesunken. Auch bei IVD ist der Rückgang der HIV-Neudiagnosen mit einer Veränderung der Altersstruktur verbunden: der Anteil der unter 30-Jährigen ist von 35% im Jahr 2006 auf knapp 23% im Jahr 2010 gesunken. Außerdem ist der Anteil der aus Nordrhein-Westfalen gemeldeten IVD-Neudiagnosen im selben Zeitraum von im Verhältnis zur Einwohnerzahl deutlich überproportionalen 45% auf 31% zurückgegangen.

Die meisten Infektionen wurden als in Deutschland erworben berichtet. Die bedeutsamste ausländische Infektionsregion ist Osteuropa, wo ca. 10% der Infektionen erworben worden sind. Erstmals wurde in 2010 Zentraleuropa häufiger als Infektionsregion angegeben als Westeuropa (4% vs. 1%). Angesichts kleiner Fallzahlen wäre es jedoch verfrüht, daraus bereits auf eine zunehmende HIV-Epidemie bei Drogengebrauchern in Zentraleuropa zu schließen.

Im Jahr 2009 wurden 20 HIV-Infektionen (<1%) neu diagnostiziert, die durch Mutter-Kind Übertragungen erfolgt sind. Neun Kinder sind bereits infiziert nach Deutschland eingereist. Elf Kinder wurden von HIV-infizierten Müttern in Deutschland geboren. In 4 Fällen war der Schwangeren kein Test angeboten worden, 3 dieser Schwangerschaften liegen allerdings schon einige Jahre zurück. Nur in einem aktuellen Fall war der (mehrfachen) Mutter kein HIV-Test angeboten worden. In 5 Fällen war die HIV-Infektion der Mutter vor der Geburt bekannt, in einem Fall erfolgte die HIV-Diagnose erst im 8. Schwangerschaftsmonat und in einem Fall erfolgte die HIV-Serokonversion der Mutter im Verlauf der Schwangerschaft nach einem negativen HIV-Test in der Frühschwangerschaft.

Trends bei HIV-Spätdiagnosen, Antiretrovirale Therapie

In der im Jahr 2008 erfolgten Aktualisierung der Deutsch-Österreichischen Leitlinien zur antiretroviralen Therapie wurde der CD4-Zell-Grenzwert, bei dem in der Regel mit einer antiretroviralen Therapie begonnen werden sollte, auf 350 Zellen/µl hochgesetzt. In der ClinSurv-Kohorte des RKI, die ca. 20% der in ärztlicher Betreuung befindlichen HIV-Patienten in Deutschland umfasst, kann in den Jahren 2009 und 2010 ein entsprechend früherer Beginn der antiretroviralen Therapie dokumentiert werden. Allerdings kann der leitliniengerechte Therapiebeginn nur dann erfolgen, wenn die HIV-Infektion bereits diagnostiziert ist. Ein erheblicher Anteil der HIV-Diagnosen erfolgt in Deutschland zu einem Zeitpunkt, zu dem die T-Helferzellzahl bereits niedriger liegt.

Abb. 3 CD4-Zellzahl zum Zeitpunkt der HIV-Diagnose bei neudiagnostizierten HIV-Infektionen nach Transmissionsrisiko (2006-2010, nur Meldungen mit Angaben, n=4.775)
Abb. 3 CD4-Zellzahl zum Zeitpunkt der HIV-Diagnose bei neudiagnostizierten HIV-Infektionen nach Transmissionsrisiko (2006-2010, nur Meldungen mit Angaben, n=4.775)

Abb. 4 Anteil der erstmals nach dem Jahr 2000 HIV positiv getesteten EMS-Teilnehmer aus Deutschland, die zum Zeitpunkt der Diagnose eine CD4-Zellzahl unter 350 Zellen/µl hatten
Abb. 4 Anteil der erstmals nach dem Jahr 2000 HIV positiv getesteten EMS-Teilnehmer aus Deutschland, die zum Zeitpunkt der Diagnose eine CD4-Zellzahl unter 350 Zellen/µl hatten

Abb. 5 Anteile der in ärztlicher Betreuung befindlichen HIV-Infizierten ohne nachweisbare Viruslast bei der letzten Kontrolle (unabhängig vom Therapiestatus) nach Altersgruppe und Transmissionsrisiko (Quelle: ClinSurv-Kohorte, 2010)
Abb. 5 Anteile der in ärztlicher Betreuung befindlichen HIV-Infizierten ohne nachweisbare Viruslast bei der letzten Kontrolle (unabhängig vom Therapiestatus) nach Altersgruppe und Transmissionsrisiko (Quelle: ClinSurv-Kohorte, 2010)

Im Rahmen der Meldung von HIV-Diagnosen gemäß § 7 (3) Infektionsschutzgesetz wird auch nach der CD4-Zellzahl zum Zeitpunkt der HIV-Diagnose gefragt. Angaben hierzu erfolgen jedoch leider nur bei 20-30% der Meldungen, mit einem Trend zu häufigerer Mitteilung bei weiter fortgeschrittenem Immundefekt. Der Anteil von Spätdiagnosen (Diagnose bei CD4-Zellzahl unter 350 Zellen/µl) wird daher durch die Melderegisterdaten etwas überschätzt. Gemäß diesen Daten liegt der Anteil der HIV-Spätdiagnosen in den fünf Jahren seit 2006 bei knapp über 50%, mit deutlichen Unterschieden zwischen verschiedenen Betroffenengruppen (Abb. 3).

In dem 2010 durchgeführten Europäischen MSM Internet-Survey (EMIS) wurden die teilnehmenden, seit 2001 mit HIV diagnostizierten MSM u.a. auch gefragt, wie hoch ihre CD4-Zellzahl zum Zeitpunkt der HIV-Diagnose war. Der Anteil derjenigen, die hierzu keine Angaben machen konnten, lag mit ca. 20% erheblich niedriger als der Anteil fehlender Angaben im HIV-Melderegister. Der Vergleich der CD4-Zellzahl bei HIV-Diagnose im Zeitverlauf zeigt einen – statistisch signifikanten – Rückgang von HIV-Spätdiagnosen bei MSM in Deutschland von ca. 45% im Jahre 2002 auf 36% im Jahre 2010 (Abb. 4). Dies deutet auf eine erfolgreiche Erhöhung der Testbereitschaft bei MSM hin.

Insgesamt werden derzeit ca. 75-80% der in Deutschland lebenden Menschen mit einer HIV-Diagnose antiretroviral therapiert. Die Gesamtzahl der antiretroviral Therapierten ist in den letzten zwei bis drei Jahren – nicht zuletzt durch den früheren Therapiebeginn – schneller angestiegen als in den Jahren davor. Ihre Zahl betrug Ende 2010 geschätzt ca. 50.000 Personen. Der Anteil der Diagnostizierten mit einer Viruslast unter der Nachweisgrenze, welcher sowohl die Therapieraten als auch die Wirksamkeit der Therapie in den verschiedenen Betroffenengruppen widerspiegelt, unterscheidet sich nur relativ geringfügig voneinander (Abb. 5). In den Altersgruppen 30-44 Jahre ist der Anteil der ohne nachweisbare Viruslast i.v. Drogenkonsumenten knapp 10% niedriger als bei MSM und heterosexuell Infizierten. Der höhere Anteil von  Menschen aus Hochprävalenzregionen ohne nachweisbare Viruslast verglichen mit MSM und heterosexuell Infizierten bei den 20-39-Jährigen muss vor dem Hintergrund eines fortgeschritteneren Immundefektes zum Zeitpunkt der Diagnose und eines daraus folgend höheren Anteils von Therapierten interpretiert werden. Der niedrige Anteil ohne nachweisbare Viruslast in der Altersgruppe der unter 30-Jährigen wird dadurch erklärt, dass die in dieser Altersgruppe diagnostizierten Infektionen meist relativ frisch sind und die Kriterien für einen Therapiebeginn in vielen Fällen noch nicht vorliegen. Ein höherer Anteil von Infizierten mit hoher Viruslast und in Folge dessen auch erhöhter Infektiosität in der Altersgruppe der unter 30-Jährigen könnte auch eine Erklärung für den weiter vorne berichteten überproportionalen Anstieg von HIV-Neudiagnosen bei den unter 30-jährigen MSM seit 2008 darstellen.

In der Aufklärung sollte verstärkt thematisiert werden, dass zwar die mit HIV lebenden Personen dank der Therapiemöglichkeiten im Mittel immer älter werden, gleichzeitig aber dadurch, dass in den höheren Altersgruppen die Mehrheit der Infizierten eine effektive und infektiositätsmindernde Therapie erhalten, sich Infektionsgefahren tendenziell stärker in den jüngeren Altersgruppen konzentrieren.


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