Bernd Aretz, Offenbach
Annäherungen – ein Bilderbogen

Die Regenbogenfahne flatterte im Sturm unter den dahinjagenden Wolken des kommenden Gewitters. Siebeneinhalb  Minuten läutete die Stadtglocke der Frankfurter Paulskirche, während auf dem Römerberg Namen verlesen wurden. Das war im Februar 1990. Es war eine öffentliche Trauerfeier für unsere schwulen Freunde, vereinzelte heterosexuelle Frauen und Männer, darunter vor allem Menschen, die in der herrschenden Drogenpolitik keine Chance hatten zu überleben. Unter den verlesenen Namen waren auch die von Menschen, die vor Hunger und Gewalt in ihren Heimatländern geflüchtet waren, hier strandeten und an den Folgen von AIDS starben. Die feine Glocke läutet nur zu wesentlichen Ereignissen im Leben unseres Gemeinwesens. Darüber muss der Rat der Stadt stellvertretend für die Bürgerschaft entscheiden. Trauer und Angst der im Bann von Aids stehenden Menschen wertete er über alle politischen.

Gewidmet Dr. phil. Hans Peter Hauschild, 1954-2003, Pädagoge, Geschäftsführer der AIDS-Hilfe Frankfurt, Vorstand der Deutschen AIDS-Hilfe, deren Arbeit er nachhaltig geprägt hat. In seinen letzten Jahren galt sein Engagement der Bewegung Pax Christi.

Gar zu große Angst lähmt. Sie auszusprechen und darin im Kreise der Freunde und all der unterstützenden Menschen aufgefangen zu werden, konnte sie beherrschbar machen, die Handlungsfähigkeit zurückgeben. Sprechen half dabei, wenn es auch nicht zum Nulltarif zu bekommen war. Die Angst vor Tratscherei, Verlust der sexuellen Attraktivität, beruflichen Schwierigkeiten wog schwer. Mein Einsatz war der einer gut gehenden Anwaltskanzlei. Sie hat darunter gelitten. Aber wenn ich mich frage, welche Einsätze die Generationen meiner Eltern oder Großeltern hätten leisten müssen, wenn sie gegen Tätowierungen und Internierungen protestiert hätte, dann kann ich nur sagen, ich bin gut davongekommen. Mein Einsatz war nicht zu hoch. Schließlich ging es um meine Unversehrtheit.

„Wandelnde Mörderbomben sollten wir sein.“

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Foto: fotolia

Diejenigen, die in den Anfangstagen ihr Gesicht zeigten, waren getrieben, weil sie die Sprachlosigkeit und das Überschüttet- werden mit düsteren Bildern nicht mehr ertrugen. Wandelnde Mörderbomben sollten wir sein, schlimm wie Pest, Cholera und die Präventionsbotschaften der katholischen Kirche zusammen. Endlich hatten die allseits kursierenden diffusen Lebensängste einen Namen. Was kümmerte Tschernobyl, das verhungernde und verdurstende Afrika; näher lag doch die an den Beratungstelefonen beliebte Frage, ob der bundesdeutsche Durchschnittsbürger sich an grünen Meerkatzen infizieren könnte. Und unsere Freunde starben. Jedoch wie klein wurde das alles auf einmal, wenn der Kollege aus Afrika beiläufig anmerkte: „Wir wären froh, wenn wir sauberes Wasser hätten“, wenn eine infizierte schwangere Frau von der öffentlichen Meinung und weiten Teilen des Gesundheitssystems zum Abbruch gedrängt wurde, eine alleinerziehende Mutter vor der Frage stand, wann sage ich es meiner fünfjährigen Tochter?

Die politischen Diskussionen der achtziger Jahre waren gnadenlos. Der bayerische Maßnahmenkatalog sorgte für Ängste, der Paderborner Bischof predigte gegen die Aids-Aufklärung, die Stadt Frankfurt gab die Anweisung, eine Psychiatriestation zur Einweisung Infizierter freizuräumen, Einreiseverbote für infizierte Touristen wurden von Bundesinnenminister Zimmermann verteidigt.

Warnung „vor dem Hantieren mit Bestrafung und Zwangsmaßnahmen“

Aber gibt es unendlich viele Bilder, die dagegenstehen: Frau Süßmuth erteilte als Gesundheitsministerin den Ausgrenzungsphantasien eine klare Absage. Männer und Frauen von den Ministerien bis in die Kommunalverwaltungen begleiteten die Aidshilfen kritisch, aber solidarisch. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung machte HIV und Kondome in der Bevölkerung besprechbar. Die Sexual- und die Gesundheitswissenschaft mit Bochow, Dannecker und Rosenbrock kämpften mit Unterstützung weiter Teile der Medien für eine rationale Politik; sie waren und sind den Aidshilfen gute Berater. Im Jahr 1983 hatte sich die Deutsche AIDS-Hilfe schon gegründet, mit der vordringlichen Zielsetzung, weitere Infektionen unter schwulen Männern zu vermeiden, aufzuklären und den schon Infizierten beizustehen. Die Gründung erfolgte aus den betroffenen Szenen heraus von schwulen Wirten, engagierten schwulen Männern und Sabine Lange, einer Krankenschwester, die als Streetworkerin gegen Hepatitis die schwule Welt kannte. Die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung warnte bereits Ende ’84 in einem Memorandum vor dem Hantieren mit Bestrafungs- und Zwangsmaßnahmen. Sie forderte die Einstellung des Arbeitens mit vorläufigen Daten, nach denen sich alle acht Monate die Anzahl der Infizierten verdoppeln sollte, so dass heute die gesamte BRD HIV-positiv sein müsste.

Das Namenssteine Projekt von Tom Fecht mit Unterstützung der Deutschen Aids Stiftung gab Trost. Rüdiger Anhalt kämpfte mit ACT UP auf den Barrikaden für eine menschenwürdige Drogenpolitik, für Zugang  zu Behandlung weltweit, gegen Bischof Dyba, Gauweiler und den bayerischen Maßnahmenkatalog.

Hans Peter Hauschild, Mitbegründer der Frankfurter Aidshilfe und später im Bundesvorstand, versuchte nicht nur die Lust und ihre Orte konzeptionell und politisch zu verteidigen, sondern stritt fröhlich lachend auch mit selbstverfassten Liedern Seite an Seite mit Huren, Strichern, Junkies und Bürgertum bei kreativen Aktionen um würdige Bedingungen für das Leben in dieser Gesellschaft. Heute läuft das Altenheim traulich vereint mit dem Kindergarten im Benefizlauf für die Aidshilfe, während das Radioteam wochenlang im Vorfeld gezielt die Faulen angelockt hat, die Strecke mit den Moderatoren im Spaziergang zu bewältigen.

„Außer dem redlichen Bemühen haben wir nichts zu bieten.“ (1984)

Mein persönlicher Dank gebührt natürlich vor allem dem Frankfurter Medizinsystem, das ganz wesentlich von Frau Prof. Eilke Helm geprägt ist. Im Winter 1984 erklärte mir Dr. Reinhard Brodt beim ersten Vorstellungstermin  in der Ambulanz des Universitätsklinikums: „Außer dem redlichen Bemühen haben wir leider nicht viel zu bieten, unter welchem Namen sollen wir Sie denn in der Kartei führen?“ Mit dieser Frage gab der Arzt, der die Ängste seiner Patienten ernst nahm, eine Antwort auf die Meldepflichtdebatte. Da auf einen Arzt zu treffen, der keine Angst vor körperlicher Untersuchung hatte, der einräumte, dass man eigentlich noch nichts wisse, insbesondere nicht, ob die ganzen Phantasien richtig oder falsch seien, war schon eine ganze Menge. Nebenbei bot sich in den Fluren der Ambulanz bisweilen die Möglichkeit, Leidensgenossen kennenzulernen und so die Vereinzelung zu durchbrechen.

In einem ihre Besorgnis zeigenden Memorandum der Professoren Stille und Helm wurde ‘87 die damals angenommene Dramatik beschworen. Ein Drittel der schwulen Männer im Rhein-Main-Gebiet sollte infiziert sein, die wirtschaftlichen Folgen führten in die Krise der Gesellschaft, unter anderem drohe der Zusammenbruch des Immobilienmarktes. Mit sehr vielen Einschätzungen hatten sie recht, damit aber glücklicherweise nicht. Boshafte Tunten spöttelten, eher sei zu befürchten, dass der Antiquitätenmarkt mit drittklassigem Trödel überschwemmt würde. Frau Helm saß später im Rahmen einer Visite am Bett meines erblindeten sterbenden Freundes und fütterte ihn. Ein Gespräch mit einer Mutter auf dem Balkon der Station 68 ist mir in Erinnerung. Sie war das erste Mal ungeschminkt mit der Farbigkeit der Lebenswelt ihres schwerkranken schwulen Sohnes konfrontiert. Und sie nahm sie ganz selbstverständlich an. Das war einfach so. Elfriede, die Rentnerin, kochte für die Kranken und deren Freunde und stellte immer wieder ihren mütterlichen Busen zum Ausheulen bereit. Die Schwestern, Pfleger, Ärztinnen und Ärzte, die Seelsorgerinnen, sie sind nicht alle aufzuzählen, die in schweren Momenten unspektakulär und warm Hilfe geleistet haben.

Manchmal kommen wieder angstvolle Bilder hoch, wenn ich Freunde im Krankenhaus treffe. Da gibt es zu spät diagnostizierte Menschen, die jahrelang verdrängt haben, dass sie infiziert sein könnten, Menschen, die ihre Therapien nicht nehmen konnten, weil ihre seelische Ausstattung für eine sozial geächtete chronische Erkrankung unzureichend ausgerüstet ist, oder Menschen, die trotz aller Therapien einfach krank sind. Die Zipperlein mehren sich und ich frage mich bisweilen, ob es denn ganz normale Altersverrottungsprozesse sind oder nicht doch etwa Spätschäden der Behandlung oder auch Ausdruck der Grunderkrankung. Als Kontrast dazu, konnte man sich dann in herumliegenden Postillen am Kitsch in der Werbung der Pharmaindustrie erfreuen.

„...niemand (geht) unverändert aus einem schmerzlichen Prozess hervor...“      

Es sind immer wieder die Bilder, die im Wege stehen. Die tragische Aura, die den Blickwinkel auf Aids in seinen düsteren Anteilen verengt und Respekt vermissen lässt vor anderen Gewichtungen, die das Leben bieten kann, oder auch vor anderen Schicksalen, ist ebenso falsch wie die angebliche Leichtigkeit, die nach den Erfolgen der Medizin Einzug gehalten haben soll. Glaubt man der Werbung der Pharmaindustrie um 2003, ist sie gepaart mit einer besonderen Empfänglichkeit für die kleinen Vergnügungen wie das Betrachten der Marienkäfer, die der Normale achtlos zertrampeln würde. Diese Suggestion in einer Anzeige, der Infizierte habe außergewöhnliche spirituelle Erfahrungen, verschleiert die richtige Tatsache, dass niemand unverändert aus einem schmerzhaften Prozess hervorgeht, der bisher fast dreißig Jahre Teile des schwulen Lebens, dem auch ich angehöre, beherrscht hat. Meine Haut wurde dabei dünn. Ich lernte auch, wie verletzt die Haut des anderen sein kann, beileibe nicht nur wegen Aids, sondern einfach weil das Leben seine Spuren hinterlässt. Sie wird dabei aber auch empfänglicher für behutsame Berührungen. Ich propagiere jetzt nicht den Kuschelsex. Aber vielleicht lernt man, ehrlicher mit sich und seinen Wünschen und dem Partner umzugehen. Mich hat überraschend die Leichtigkeit des Lebens im Kleid der Liebe wieder erreicht. Auch das ist eine der Möglichkeiten des Standhaltens.

„Das Übel liegt in der viralen Erkrankung (und nicht beim infizierten Menschen).”

Die Kehrseite der Medaille ist, dass auch die Frage, wie man denn die Sexualität so lebt, wieder auftaucht. Hier erlebe ich einen öffentlichen Diskurs, der an meinen Gefühlen und Erfahrungen vorbeigeht. Da wird von Verantwortung geredet, aber etwas ganz anderes gemeint. Da wird so getan, als könne und müsse jede Infektion vermieden werden, als fänden die Infektionen in der Regel durch unverantwortliches Verhalten statt. Die Sexualität müsse dem Gesundheitsschutz ja wohl untergeordnet werden. Ich weise die Versuche zurück, uns infizierte Menschen als Kern des Übels zu betrachten. Das Übel liegt in einer viralen Erkrankung. Manch ein Lebensentwurf erhöht das Risiko, in ihren Bann zu geraten, und zwar unabhängig vom konkret vorhandenen Sexualkontakt. Das soll der Gesellschaft gegenüber nicht zu verantworten sein? Gesundheit spielt gemeinhin weder bei Arbeitsbedingungen noch den seelischen Kosten der Arbeitslosigkeit, oder der Wahl der Sportarten eine zentrale Rolle. Wer schon einmal versucht hat, in einfach überschaubaren Bereichen wie dem Rauchen, Trinken und Essen sein Leben radikal zu verändern, weiß, dass es keine einfachen Wege gibt. Und er sollte allemal verstehen, wie viel schwieriger ein so vielschichtiges Feld wie die Sexualität ist.

„Als wenn das beliebig wäre, was wir sexuell geworden sind! Das, worauf wir abfahren, ist die Handschrift unserer Seele. Bei jedem ist das eine ausgesprochen persönliche Sache. Nichts davon ist zufällig oder marottenhaft“, schrieb Hans Peter Hauschild. Mit dazu gehört die Erkenntnis, dass es unendlich viele Sichtweisen und Lebensentwürfe gibt. Dafür forderte er Respekt ein, auch als eine wechselseitige Verpflichtung. Natürlich ist jeder für sein Handeln verantwortlich. Verantwortung ist zwar gemeinsam zu tragen, aber nicht teilbar. Da hilft auch nicht der mutwillige Gebrauch berauschender oder enthemmender Drogen, um diesem Gefühl zu entkommen. Man soll doch da nichts hineinphantasieren. Niemand darf unausgesprochen darauf vertrauen, der andere nehme sie fürsorglich für beide wahr, der Partner werde es schon richten. Dafür sind die Vorstellungen von den Risiken, die Bereitschaft sie einzugehen und die Bedürfnisse des Bauches zu unterschiedlich. Es geht nicht um Verantwortung, sondern um die Klarheit in den Abstimmungsprozessen. Dazu gehört auch die offene Kommunikation darüber, dass eine funktionierende Therapie bei allen theoretischen oder vielleicht auch tatsächlichen Restrisiken mindestens so sicher ist wie Kondomgebrauch.

„Die Auseinandersetzungen über HIV sind noch nicht beendet.“

Hans-Peter Hauschild würde uns heute zu Recht vorwerfen, wir machten in unserem Alltag einen Bogen um die großen Probleme in der Welt, die nur mit einem entschiedenen „Teilen jetzt“ gemildert werden können, wir kümmerten uns nicht um die Probleme hier im Land, zum Beispiel die fehlende Krankenversorgung illegal Lebender in einem von Ausbeutung und Angst vor Abschiebung geprägten Lebensgefühl. Dessen sollten wir uns bewusst sein, wenn auch jeder seinen je eigenen Weg mit all seinen Notwendigkeiten lebt. Die Auseinandersetzungen über HIV sind noch nicht beendet. Solange nicht weltweit ein Zugang zu Medizin hergestellt ist, Suchtkranke kriminalisiert werden, die Staatsanwaltschaften in den Betten rumschnüffeln, werden die von HIV Bedrohten oder Betroffenen auch weiterhin mitreden müssen.



Bernd Aretz, Offenbach

 -- Bernd Aretz, Jurist und Autor, lebt als Rentner in Offenbach. Er war auf allen Ebenen von der AIDS-Hilfe ehrenamtlich engagiert und ist Ehrenmitglied der Deutschen AIDS-Hilfe. Er wurde für Verdienste in der Gesundheitserziehung mit der Bernhard Christoph Faust Medaille des Hessischen Ministerpräsidenten ausgezeichnet.


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