Markus Backmund, München
Update Substitutionsbehandlung
In den 2014 publizierten Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin (DGS) wird die Substitutionsbehandlung bei diagnostizierter Opioidabhängigkeit als Therapie der ersten Wahl genannt. Gründe hierfür sind die drastische Senkung der Mortalität und Verbesserung des Gesundheitszustandes während einer Substitutionsbehandlung. Lediglich ein weiterer Vorteil der Substitution ist die Möglichkeit der Behandlung und Prävention von Infektionskrankheiten. Durch die Substitutionsbehandlung wird der Konsum illegalisierter Substanzen wie Straßenheroin und Kokain signifikant reduziert und damit auch die Frequenz des intravenösen Konsums. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Global Commission on Drug Policy fordern daher zur Prävention von HIV und HCV die Substitutionsbehandlung zu fördern bzw. implementieren sowie Repressionen gegen Drogengebraucher abzuschaffen (WHO 2013, Global Commission on Drug Policy 2013).
Alle genannten Studienergebnisse haben dazu beigetragen, dass sich die Substitutionsbehandlung von einer in Deutschland vor 30 Jahren von vielen Fachleuten kritisierten Behandlung zur Therapie der ersten Wahl bei opioidabhängigen Patientinnen und Patienten etabliert hat.
Indikation
Bei diagnostizierter Opioidabhängigkeit (ICD 10: F11.2) ist die Substitutionsbehandlung indiziert. Die Diagnose soll laut Richtlinien der Bundesärztekammer anhand der ICD-Kriterien gestellt werden. Drei oder mehr der folgenden Kriterien müssen über einen Zeitraum von zwölf Monaten gleichzeitig vorhanden sein:
- Starker bis übermäßiger Wunsch, Opiate zu konsumieren.
- Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Konsums.
- Nachweis einer Toleranzentwicklung
- Fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügen oder Interessen zu Gunsten des Substanzkonsums; erhöhter Zeitaufwand, um die Substanz zu beschaffen.
- Anhaltender Substanzkonsum trotz des Nachweises eindeutig schädlicher Folgen.
Abb. 1 Algorithmus: Therapieentscheidung bei diagnostizierter Opioidabhängigkeit (ICD 10: F11.2)
Nach
gestellter Diagnose soll die Substitutionsbehandlung möglichst
sofort eingeleitet werden, da sie die Therapie der ersten Wahl
darstellt (Abb. 1). Mittlerweile stehen verschiedene
Substitutionsmittel erster Wahl zur Verfügung: Die reinen
μ-Agonisten Dextro-Levomethadon, Levomethadon und seit April 2015
auch retardiertes Morphin sowie die partiellen Agonisten Buprenorphin
und Buprenorphin/Naloxon. Als Mittel zweiter Wahl können die reinen
μ-Agonisten
Codein, Dihydrocodein und in speziellen Zentren auch
Diacetylmorphin (Heroin) verschrieben werden.
Substitutionsmittel
Mittlerweile stehen mehrere Substitutionsmittel zur Verfügung (Tab. 1). Die WHO hat im Jahre 2005 Methadon (Dextro-Levomethadon) und Buprenorphin zu den unverzichtbaren Medikamenten gelistet.
Dextro-Levomethadon gilt als einer der bestuntersuchtesten Therapieoptionen. Im Vergleich mit Dextro-Levomethadon haben sich die reinen μ-Agonisten Levomethadon, Codein und Dihydrocodein, Diacetylmorphin und retardiertes Morphin als effektiv erwiesen. Buprenorphin konnte sich ebenso im Vergleich mit Dextro-Levomethadon bewähren wie Buprenorphin/Naloxon. Levomethadon ist das linksdrehende Enatiomer von Dextro-Levomethadon und war lange Zeit ausschließlich in Deutschland zugelassen, nun auch in Österreich und der Schweiz.
Medikament | Applikation | Darreichungsform | Mittlere Tagesdosis | Anmerkungen | |
---|---|---|---|---|---|
Buprenorphin (Subutex®, Buprenaddict® u.a.) | Sublingual | Tablette | 8-16 mg | Partieller μ-Agonist | 1. Wahl |
Buprenorphin/Naloxon (Subuxone®) | Sublingual | Tablette | 8-16 mg | Partieller μ-Agonist | 1. Wahl |
Levomethadon (L-Polamidon ®, L-Polaflux®) | oral | Lösung / Tablette* | 30-40 mg | Reiner μ-Agonist | 1. Wahl |
Dextro-Levomethadon (Methaliq®, Methaddict®, Eptadone u.a.) | oral | Lösung / Tablette | 60-80 mg | Reiner μ-Agonist | 1. Wahl |
Retardiertes Morphin (Substitol® ) | oral | Kapsel | 600-800 mg | Reiner μ-Agonist | 1. Wahl |
Dihydrocodein / Codein | oral | Lösung / Tablette | Reiner μ-Agonist | 2. Wahl | |
Diacetylmorphin | Intravenös | Lösung | 600-800 mg | Reiner μ-Agonist | Nur in Spezialambulanzen |
Tab. 1
Reine
μ-Agonisten und partielle Agonisten unterscheiden sich prinzipiell.
Buprenorphin unterliegt einem Ceilling-Effekt. Dies bedeutet, dass ab
einem gewissen Punkt eine Dosissteigerung keine Wirkungssteigerung
mehr verursacht. Somit kommt es auch weniger leicht zu Atemdepression
bei Überdosierung. Ein weiterer Vorteil ist die lange Wirkdauer.
Eine Einnahme alle zwei Tage, bei einigen Patienten sogar alle drei
Tage reicht aus, um ein Entzugssyndrom zu verhindern.
Abb. 2 Art und Anteil der Substitutionsmittel in Prozent 7/2014
Fachgesellschaften wie die DGS propagieren seit Jahrzehnten, dass Fertigprodukte der Herstellung in der Apotheke vorgezogen werden sollen, da sie letztendlich sicherer sind. Die in der Apotheke hergestellte Dextro-Levomethadon-Hydrochloridlösung wird dennoch nach wie vor sehr viel verschrieben, jedoch mit abnehmender Tendenz. Mehrere Firmen bieten mittlerweile auch Fertiglösungen und Tabletten von Dextro-Levomethadon an. Abbildung 2 zeigt Art und Anteile der unterschiedlichen in 2014 verschriebenen Substitutionsmittel, wobei unter „D,L-Methadon“ sowohl die in der Apotheke hergestellte Lösung, Fertiglösungen und Tabletten subsumiert sind.
Einstellungsphase
Die Ersteinstellung eines aus der Szene kommenden Patienten stellt für Patient und Arzt eine besonders anspruchsvolle Situation dar. Das Vertrauensverhältnis muss aufgebaut werden, die tatsächliche Menge des konsumierten Opioids ist aufgrund des Schwarzmarktes unklar. So kann 1 Gramm Heroin auf dem Schwarzmarkt 2% Heroin beinhalten, aber auch 70%. Somit ist unklar, wie hoch die Toleranz des Patienten gegenüber dem Opioid ist. Hat der Patient Angst, dass die vom Arzt am ersten Tag gegebene Dosis nicht reicht, konsumiert er höchstwahrscheinlich zusätzliche Substanzen und gefährdet sich dadurch. Dies wiederum erschwert die Dosisfindung am zweiten Tag. Konsumiert ein Patient täglich 5%iges Heroin ist seine Toleranz wesentlich geringer als wenn er 70%iges konsumieren würde. Leider gibt es keine Kriterien, das unterschiedliche Toleranzniveau zu erkennen.
Dosierung
Aus diesem Grund wird am ersten Tag eine Dosierung verabreicht, die auch bei einem Nichtabhängigen nicht tödlich sind. Es wird mit 30 mg Dextro-Levomethadon bzw. 15 mg Levomethadon begonnen. Sollten noch Entzugssymptome sichtbar sein, wird empfohlen, weitere 5-10 mg Dextro-Levomethadon bzw. 2,5-5 mg Levomethadon zu geben. In den nächsten Tagen wird jeweils um nicht mehr als 10 mg Dextro-Levomethadon bzw. 5 mg Levomethadon erhöht.
Wird
initial ein Buprenorphin-haltiges Substitutionsmittel eingesetzt,
sollten mindestens 12 Stunden seit der letzten Heroineinnahme
vergangen sein. Die Anfangsdosis beträgt 4-8 mg Buprenorphin
sublingual, das sich innerhalb von zehn Minuten im Mund auflöst. Es
kann ein Entzugssyndrom ausgelöst werden, wenn Buprenorphin durch
die höhere Affinität noch vorhandenes Heroin vom μ-Rezeptor
verdrängt. Dem wird durch weitere Gaben von bis zu 8 mg, also
insgesamt 16 mg Buprenorphin am ersten Tag begegnet. Am zweiten Tag
kann bis zur Höchstdosis von 24 mg gesteigert werden, um dann in den
nächsten Tagen meist zwischen 8 und 16 mg die individuelle Dosis zu
finden.
Bei Patienten mit bekannter Opioidabhängigkeit, die derzeit abstinent sind, die sich mit deutlichem Suchtdruck vorstellen, kann auch bei negativem Urinbefund die Substitutionsbehandlung begonnen werden, um einen Rückfall in der Szene mit hoher Lebensgefahr zu verhindern. Hier kann vom oben beschriebenen Eindosierungsschema ausgehend, mit einer etwas geringeren Erstdosis begonnen werden.
Die Tageserhaltungsdosis ist sehr individuell. Die Spannweite bei stabilisierten Patienten, die sich gut eingestellt fühlen, kann zwischen 15 mg Dextro-Levomethadon und 180 mg Dextro-Levomethadon liegen. Bei Patienten, die Diacetylmorphin erhalten schwanken die Tagesdosierungen zwischen 15 und 700 mg. Die Buprenorphindosierungen reichen in eigener Praxis von 2 mg bis 18 mg Buprenorphin und 8 mg - 24 mg Buprenorphin/Naloxon pro Tag.
Umstellung
Umstellungen
zwischen μ-Agonisten sind unproblematisch (Tab. 2). Auch die
Umstellung von einem partiellen Agonisten zu einem μ-Agonisten
gelingt in der Regel problemlos. Die Umstellung von einem μ-Agonisten
auf einen partiellen μ-Agonisten hingegen führt in der Regel für
einige Tage zu einer klinischen Entzugssymptomatik. Buprenorphin
bindet als partieller μ-Agonist mit einer höheren Affinität als
reine μ-Agonisten an die Rezeptoren, verdrängt also reine
μ-Agonisten vom μ-Rezeptor. An den κ-Rezeptoren wirkt
Buprenorphin antagonistisch. Am μ-Rezeptor entwickelt Buprenorphin
allerdings im Gegensatz zu reinen μ-Agonisten nur die Hälfte der
intrinsischen Wirkung. Dies kann zu Entzugssymptomen führen.
10 mg Dextro-Levomethadon | entsprechen | 5 mg Levomethadon |
1 ml Dextro-Levomethadon 1% | entsprechen | 1 ml Levomethadon 0,5% |
2 ml Dextro-Levomethadon 0,5% | entsprechen | 1 ml Dextro-Levomethadon 1% |
100 mg Dextro-Levomethadon | entsprechen | 50 mg Levomethadon 0,5% |
10 ml Dextro-Levomethadon 1% | entsprechen | 10 ml Levomethadon 0,5% |
20 ml Dextro-Levomethadon 0,5% | entsprechen | 10 ml Dextro-Levomethadon 1% |
20 ml Dextro-Levomethadon 0,5% | entsprechen | 10 ml Levomethadon 0,5% |
10 mg Dextro-Levomethadon | entsprechen | 60-80 mg ret. Morphin |
100 mg Dextro-Levomethadon | entsprechen | 600-800 mg ret. Morphin |
Tab. 2 Äquivalenzdosierungen
Nachdem in den letzten Jahren die Verschreibungen von Dextro-Levomethadon zu Gunsten des Anstieges von Buprenorphin und Levomethadon abgenommen haben, wird gespannt auf die Akzeptanz des retardierten Morphins gewartet. In Österreich steht retardiertes Morphin in der Verschreibungshäufigkeit ganz oben, in unserer Praxis verschreiben wir derzeit 5% der Patientinnen und Patienten retardiertes Morphin. Indikationshilfen für die jeweiligen Substitutionsmittel sind bisher nur unscharf formuliert und nicht in kontrollierten Studien belegt. Unbestritten ist, dass auf die QT-Zeit geachtet werden muss und Dextro-Levomethadon und Levomethadon diese mehr verlängern kann als Buprenorphin oder retardiertes Morphin. Vor Beginn und nach Dosisfindung sollte die QT-Zeit im EKG kontrolliert werden. Unter Dextro-Levomethadon wird die stärkste sedierende Eigenschaft beobachtet, gefolgt von Levomethadon. „Einen klaren Kopf“ hat man unter Buprenorphin. Die chemische Nähe zum Heroin verspricht beim retardierten Morphin das beste Wohlfühlen. Zusätzlicher Konsum von Alkohol und anderen Substanzen war in Studien deutlich geringer. Auch wenn retardiertes Morphin auch primär eingesetzt werden kann, tendieren wir derzeit noch zu den vertrauten Medikamenten und setzen es eher als zweite Wahl ein. Dies wird sich jedoch mit zunehmender Erfahrung sicherlich ändern. Dann wird Codein und Dihydrocodein eine noch geringere Rolle spielen. Für Patientinnen und Patienten, die mit den Substitutionsmitteln erster Wahl nicht zurecht kommen, kann die Originalstoffvergabe – Diacetyhlmorphin – eine Option sein.
Wie lange behandeln?
Bei
Abstinenzwunsch kann anschließend entweder ambulant langsam
herunterdosiert werden oder eine stationäre qualifizierte
Entzugsbehandlung angestrebt werden. Die Patienten sollten aufgeklärt
werden, dass sie mit der Entzugsbehandlung auch die Toleranz
verlieren. Die Mortalität ist bei Rückfällen nach abstinenten
Phasen besonders hoch. Besteht primär kein Abstinenzwunsch, wird
eine Stabilisierung angestrebt. Diese ist erreicht, wenn sich der
Patient bei gleicher Dosis wohl fühlt und er regelmäßig kommen
kann. Von Beginn der Substitutionsbehandlung sind Diagnose und
Therapie zusätzlicher psychischer und physischer Krankheiten
möglich. Gleichzeitig können gemeinsam persönliche Ziele
erarbeitet werden. Eine Behandlung kann Jahre lang dauern. Manche
Patienten
benötigen sie lebenslang.
Rechtslage
Das
Betäubungsmittelgesetz (BtMG) ist vor Jahrzehnten verabschiedet
worden. In ihm sind therapeutische Handlungsanweisungen
niedergeschrieben, die mittlerweile nicht mehr dem Stand der
Wissenschaft entsprechen. Der Arzt ist somit täglich damit
konfrontiert, zwischen möglicher Strafverfolgung und
Behandlung
nach heutigem Stand der Wissenschaft zum Wohle der Patienten zu
entscheiden. Fachgesellschaftsübergreifende Bemühungen einer
Veränderung des BtMG werden noch lange andauern müssen. Für
nächstes Jahr scheint Hoffnung für geringe Verbesserungen durch
Veränderungen der Betäubungsmittelverschreibungsverordnung (BtMVV)
gegeben.