Große Unterschiede bei HIV- und HCV-Behandlung sowie Opioid-Substitutions- Therapie unter Gefangenen in Deutschland
Hintergrund
Studien zeigen, dass bestimmte durch Tröpfchen, Blut und Sexualkontakte übertragene Infektionen und andere Krankheiten bei Inhaftierten stärker verbreitet sind als in der Allgemeinbevölkerung.1-7 In Deutschland und anderen europäischen Ländern war die Hepatitis C-Virus (HCV ) Prävalenz 17- bis 100-mal höher, die Prävalenz des Humanen Immundefizienz-Virus (HIV) war 5- bis 24-mal höher und die Opioidabhängigkeit war bei Häftlingen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung 70mal höher.1-8 HIV und HCV können durch ungeschützte Sexualkontakte, durch Drogengebrauch und Tätowierung mit nicht sterilem Material übertragen werden.7, 9-13 Da sterile Injektionsmaterialien und andere Utensilien für Drogenkonsum und Tätowierung in Haft in der Regel nicht verfügbar sind sowie aufgrund des eingeschränkten Zugangs zu Kondomen und anderen Präventionsmaßnahmen, sind Infektions- und Übertragungsrisiken in Gefängnissen stark erhöht.14-16
Nichtsdestotrotz bietet das Gefängnis neben diesen Herausforderungen auch Möglichkeiten zur Prävention und Behandlung von Infektionen und Opiatabhängigkeit.17 Die Prävention von HIV und HCV durch Test und Beratung, das Bereitstellen von Kondomen und Tätowiermaterialien sowie sterilen Injektionsutensilien für injizierende Drogenkonsumenten beinhaltet auch die Initiierung und Fortsetzung der Opioid-Substitutions-Therapie (OST) zur Senkung der Injektionsfrequenz. Darüber hinaus ist die Behandlung von neu diagnostizierten und bereits bekannten Infektionen nicht nur für den Infizierten, sondern auch für die Behandlung als Prävention wichtig.6, 18-23 Trotz verschiedener Herausforderungen bei der Behandlung der erwähnten Infektionskrankheiten und der Bereitstellung von OST im Gefängnis ist es praktikabel und entscheidend, um die Übertragung innerhalb der Gefängnisse zu reduzieren.
Um Infektionen bei Inhaftierten zu identifizieren, existieren verschiedene Screening-Ansätze. In Deutschland ist ein systematisches Screening auf Infektionskrankheiten bei Haftinsassen nicht flächendeckend implementiert. Teststrategien auf HIV und HCV unterscheiden sich in den Bundesländern (BL) und teilweise von Justizvollzugsanstalt (JVA) zu JVA und reichen von einem Zwangstest bei Antritt der Haft bis hin zu einem Testangebot nur auf eigenen Wunsch oder bei klinischen Symptomen.5
Therapieleitlinien für die hier besprochenen Krankheiten sind in Deutschland verfügbar und werden regelmäßig von den Fachgesellschaften aktualisiert.25-29 Alle empfohlenen Arzneimittel sind in Deutschland für gesetzlich krankenversicherte Personen erhältlich. Eine Person, die inhaftiert wird, verliert jedoch bei Hafteintritt ihre Krankenversicherung. Die Gesundheitsfürsorge und alle medizinischen Leistungen werden vom Justizministerium des jeweiligen Bundeslandes übernommen.30,31 Resultat dieses Zuständigkeitswechsels sind mögliche Unterbrechungen der Therapien, insbesondere nach Haftentlassung.15,32
Während des Untersuchungszeitraums von Januar 2012 bis März 2013 waren 67.607 Menschen in 186 Gefängnissen in Deutschland inhaftiert,33 was fast 0,08% der gesamten deutschen Bevölkerung entspricht. Während des gesamten Studienzeitraums haben fünf Apotheken alle Gefängniskrankenhäuser und Gefängnisse in Deutschland mit Arzneimitteln versorgt. Die medizinische Versorgung von Inhaftierten wird ambulant und stationär durch Gefängnisärzte in JVAen, Justizvollzugskrankenhäusern (JVK) sowie in speziellen Haft-Krankenstationen geleistet.15,32,34 Teilweise wird auch mit dem ambulanten und stationären System außerhalb der Haft kooperiert. Zwischen den BL existieren Kooperationen, da nicht alle Länder ausreichend mit JVK und weiteren Möglichkeiten zur Versorgung ausgestattet sind.32,35-37
Da die medizinische Versorgung von Inhaftierten nicht Teil der Regelversorgung ist, unterliegt sie auch nicht der üblichen Gesundheitsberichterstattung. Neu diagnostizierte Infektionen müssen zwar nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) gemeldet werden, jedoch nicht zwingend mit dem Zusatz, dass die Infektion in Haft diagnostiziert wurde. In welchem Ausmaß und mit welcher Qualität Behandlungen von Krankheiten in Haft durchgeführt werden, ist ebenfalls unbekannt.
Aus den genannten Gründen wurde eine Sekundärdatenanalyse von Apothekenverkaufsdaten der Arzneimittel zur Behandlung von Opioidabhängigkeit, TB, HIV-Infektionen und HCV-Infektionen an JVAen und JVK in ausgewählten BL zwischen Januar 2012 und März 2013 durchgeführt. Ziele der Arbeit waren 1.) die Einschätzung der Verfügbarkeit und Art von Arzneimitteln zur Behandlung der genannten Krankheiten bei Inhaftierten in Deutschland und 2.) eine Schätzung des Anteils behandelter Personen unter den Inhaftierten je BL und für die gesamte Studienpopulation im untersuchten Zeitraum.
Methoden
Die Projektbeschreibung wurde dem Vorsitzenden des Strafvollzugsausschuss der BL im August 2013 mit der Bitte um Zustimmung zu dem geplanten Projekt übergeben.
Während des Untersuchungszeitraums wurden alle teilnehmenden JVAen und JVK von drei Apotheken mit Arzneimitteln gegen HIV und HCV sowie mit Opioid-Substitutions-Therapie (OST) versorgt. Die Apotheken stellten die Verschreibungsdaten dieser Arzneimittel für den Zeitraum Januar 2012 bis März 2013 zur Verfügung. Im Datensatz waren Informationen zum Arzneimittel (Packungsgröße, Darreichungsform, anatomisch-therapeutisch-chemischer Code des Arzneimittels, Pharmazentralnummer), zur Anzahl der abgegebenen Arzneimittelpackungen pro Monat sowie zur belieferten JVA enthalten. Die Studie sammelte ausschließlich Verschreibungsdaten und keine individuellen Patientendaten. Es wurden keine ethischen oder datenschutzrechtlichen Bedenken vom Datenschutzbeauftragten des Robert Koch-Instituts (RKI) geäußert. Die Namen der JVAen wurden pseudonymisiert.
Erkrankung | Markersubstanzen | DDD [mg] |
---|---|---|
Tuberkulose
(39, 42) | Ethambutol (E)
Pyrazinamid (Z) Isoniazid (H)** Rifampicin (R)** Protionamid (Pto) Terizidon (Trd) Rifabutin (Rfb) | 1.200
1.500 300* 600 750 750 150 |
Hepatitis C (27, 42-44) | Pegyliertes Interferon-α
(PEG-INF) Boceprevir (BOC) Telaprevir (TVR) | 0,05; 0,08; 0,1; 0,12;
0,135; 0,15; 0;18 2.400 2.250 |
HIV (25, 42) | Emtricitabin (FTC)***
Lamivudin (3TC)*** | 200
300 |
Opioidabhängigkeit
(29, 45-48) | Methadon
Buprenorphin Buprenorphin/Naloxon | 90
45 8 8 |
Tab. 1 Markersubstanzen und die defined daily dose (DDD)
* Für die Formulierung von 400 mg Isoniazid pro Tablette betrug die ermittelte
DDD 400 mg.
** Fixdosis-Kombinationen von Isoniazid und Rifampicin wurden in
einzelne Substanzen aufgeteilt; Pyridoxin als Zusatz zu Isoniazid
wurde nicht berücksichtigt.
*** Arzneimittel mit mehr als einer Substanz wurden in die einzelnen
Substanzen aufgeteilt.
Das defined daily dose-(DDD-)Konzept bildete die Grundlage für die Sekundärdatenanalyse.38,39 Substanzen, die für die Behandlung der Krankheit in der Regel bzw. typischerweise verwendet werden, wurden als Markersubstanzen für die jeweilige Krankheit definiert. Wir verwendeten definierte DDD der Markersubstanzen, um die Anzahl der täglich behandelten Personen zu berechnen. Die DDD wurde auf Basis der aktuellen nationalen Behandlungsrichtlinien, Fachinformationen und einer Literaturrecherche festgelegt (s. Tab. 1).
Humanes Immundefizienz-Virus
Die Standardtherapie für HIV während des Studienzeitraums enthielt genau ein Thiacytidin-Arzneimittel (TCM), entweder Lamivudin (3TC) oder Emtricitabin (FTC). Die Markersubstanzen für die HIV-Behandlung wurden als 3TC und FTC bestimmt (s. Tab. 1).25,41,42
Hepatitis C
Die Standardtherapie für HCV-Infektionen während des Studienzeitraums bestand aus Peginterferon α-2a (PEG-IFN α-2a) oder Peginterferon α-2b (PEG-IFN α-2b) in Kombination mit Ribavirin (RBV). Darüber hinaus war während der Studie eine Dreifachtherapie mit den Substanzen Boceprevir (BOC) oder Telaprevir (TVR) in Kombination mit PEG-IFN und RBV verfügbar. Als Markersubstanzen für die HCV-Behandlung wurden PEG-IFN α-2a/-2b, BOC und TVR bestimmt. Wir nahmen an, dass ein PEG-IFN-Pen mit einer behandelten Person korrelierte (s. Tab. 1).
Opioid-Substitutions-Therapie
Als Markersubstanzen für OST wurden Methadon, Levomethadon, Buprenorphin und Buprenorphin/Naloxon bestimmt (s. Tab. 1).
Berechnung
Abb. 1 Kumulierte Anzahl von defined daily dose (DDD), durchschnittliche tägliche Anzahl von DDD und durchschnittliche tägliche Behandlungsprävalenz
Zunächst wurde die kumulative DDD-Menge (DDDcum) der Markersubstanzen für den gesamten Studienzeitraum (456 Tage) berechnet, gefolgt von der durchschnittlichen täglichen DDD für jede Markersubstanz im Untersuchungszeitraum (DDDd). Dementsprechend steht die DDDd für eine Person, die pro Studientag mit der jeweiligen Substanz behandelt wurde. Schließlich berechneten wir die durchschnittliche Behandlungsprävalenz pro Tag in Prozent (durchschnittliche tägliche Behandlungsprävalenz, adTP), indem die DDDd durch die durchschnittliche Zahl der Inhaftierten im Untersuchungszeitraum dividiert wurde. Entsprechend bedeutet die adTP den Anteil der Inhaftierten, die pro Tag mit dem jeweiligen Arzneimittel behandelt wurden, an der durchschnittlichen Anzahl aller Inhaftierten im Untersuchungszeitraum (Abb. 1). Wir verglichen die adTP mit zuvor gemessenen Prävalenzen der jeweiligen Infektionen und Krankheiten aus publizierten Studien.
Die Anzahl der inhaftierten Personen wurde aus den Daten des Statistischen Bundesamtes ermittelt, die jedes Jahr im März, August und November zur Verfügung gestellt werden.33 Basierend auf diesen Daten wurde eine durchschnittliche monatliche Anzahl von Inhaftierten für die Monate März 2012, August 2012, November 2012 und März 2013 für die teilnehmenden BL einzeln und insgesamt berechnet (Abb. 2).
Abb. 2 Durchschnittliche Anzahl der Inhaftierten pro Monat in den jeweiligen BL und insgesamt während des Studienzeitraums Januar 2012 und März 2013
Ergebnisse
Bis Juni 2014 hatten 12 BL (BY, BE, HB, HH, MV, NI, RP, SL, SN, ST, SH und TH) der Studie zugestimmt. Rheinland-Pfalz konnte die Daten nicht liefern und wurde ausgeschlossen. Im Untersuchungszeitraum stellten die 11 teilnehmenden BL mit 34.191 Inhaftierten in 97 JVAen fast die Hälfte aller Inhaftierten in Deutschland (Gesamt: n = 67.607 in 186 JVAen).
In den teilnehmenden BL waren alle JVAen und Inhaftierten der jeweiligen BL Bestandteil der Studie mit Ausnahme einer Krankenstation (5 Betten) und einem JVK (52 Betten), da sie nicht von den Vertragsapotheken beliefert wurden. In der Folge werden die Hauptergebnisse beschrieben. Detaillierte Ergebnisse für jede Krankheit nach BL können in Tabelle 2 der frei verfügbaren englischsprachigen Langfassung dieses Textes eingesehen werden.
Humanes Immundefizienz-Virus
Insgesamt wurden 71% der eingeschlossenen JVAen in den jeweiligen BL mit HIV-Arzneimitteln beliefert. HIV DDDcum reichte von 510 in TH bis 18.900 in BY. HIV DDDd reichte von 1 in TH bis 41 in BY. HIV adTP reichte von 0,06% in SN bis zu 0,94% in HB. Die HIV adTP über alle BL betrug 0,39%.
Hepatitis C
Insgesamt wurden 58% der eingeschlossenen JVAen mit Arzneimitteln zur HCV-Behandlung versorgt. In HB und ST wurden alle JVAen mit HCV-Arzneimitteln versorgt. HCV DDDcum reichte von 182 in MV bis 4.116 in BY. HCV DDDd reichte von 0 in MV bis 9 in BY. HCV adTP lag zwischen 0,03% in MV und 0,59% in HB. Die HCV adTP über alle BL betrug 0,12%.
Opioid-Substitutions-Therapie
Von den eingeschlossenen JVAen wurden 58% mit Arzneimitteln zur OST versorgt. OST DDDcum reichte von 0 im SL bis 151.684 in NI. OST DDDd reichte von 0 im SL bis 333 in NI. OST adTP lag zwischen 0% im SL und 7,90% in HB. Die OST adTP über alle BL betrug 2,18%.
Diskussion
Unter der Annahme, dass die Anzahl der DDD pro Tag je Krankheit im jeweiligen BL dem Anteil der Inhaftierten, die pro Tag mit dem jeweiligen Arzneimittel behandelt wurden, an der Gesamtanzahl der Inhaftierten im BL entspricht, haben wir die Anzahl der behandelten Inhaftierten pro Tag bestimmt. Im Untersuchungszeitraum fand die medizinische Behandlung aller untersuchten Krankheiten in JVAen in den teilnehmenden BL statt, jedoch zeigten sich teils große Unterschiede im Ausmaß der Behandlung zwischen den BL, insbesondere bei der Opioid-Substitution und der HCV-Therapie.
Humanes Immundefizienz-Virus
HIV-Behandlungen wurden in JVAen aller teilnehmenden BL durchgeführt. Wir haben eine Gesamt-HIV-Behandlungsprävalenz von 0,39% pro Tag gefunden. Unter der Annahme einer HIV-Prävalenz unter Inhaftierten von 0,7%-1,2%, die aus in Deutschland publizierte Studien hervorgeht,5 wurden damit im Untersuchungszeitraum etwa die Hälfte der Infizierten in der Stichprobe antiretroviral behandelt. In der Studie von Schulte et al. wurde eine HIV-Prävalenz von 1,2% unter 14.187 Inhaftierten gefunden, 147 Inhaftierte pro Jahr gegen HIV behandelt, entsprechend 1,0% der Inhaftierten und 89% der infizierten Inhaftierten.5 In einer Studie von Reimer et al. wurden 300 Inhaftierte behandelt, entsprechend etwa 1,0% der Inhaftierten und etwa 94% der infizierten Inhaftierten.51 Die HIV-Behandlung scheint die einzige der vier untersuchten Behandlungen zu sein, die zu einem mehr oder weniger angemessenen Anteil den geschätzten infizierten Inhaftierten angeboten wird.
Hepatitis C
Die Daten zeigen, dass Arzneimittel zur antiviralen Behandlung der Hepatitis C in JVAen aller untersuchten BL geliefert wurden. Insgesamt wurden etwa 0,12% der Inhaftierten pro Tag im Studienzeitraum behandelt. Diese Behandlungsprävalenz erscheint sehr niedrig angesichts veröffentlichter HCV-Prävalenzen von 14-21% unter Inhaftierten.3,5,51 Im Vergleich der BL zeigte sich in Bremen die höchste Behandlungsprävalenz, gefolgt vom Saarland und Schleswig-Holstein. In den beiden anderen Stadtstaaten Berlin und Hamburg wurden sehr niedrige Behandlungsprävalenzen beobachtet. Die um ein Drittel niedrigere HCV-Behandlungsprävalenz im Vergleich zur Gesamt-Behandlungsprävalenz überraschte, zumal Berlin die höchste Inzidenz gemeldeter Neudiagnosen im bundesweiten Vergleich aufweist.52
Die niedrige Behandlungsprävalenz von HCV in Berlin und Hamburg steht auch im Gegensatz zur hohen HIV-Behandlungsprävalenz in beiden BL. Diese Zurückhaltung bei der HCV-Therapie im Vergleich zur HIV-Therapie, die trotz niedriger erwarteter Prävalenz in einem höheren Ausmaß durchgeführt wird, wurde in der gesamten Stichprobe beobachtet. Studien zeigen eine weitaus höhere HCV-Prävalenz von 20,6%, 14,3% und 15,0% unter Inhaftierten.3,5,51 Die niedrigen jährlichen Behandlungsraten von 0,8% bzw. 1,4% der Inhaftierten in diesen Studien bestätigen unsere Ergebnisse. Schulte et al. zufolge waren die Hauptkriterien für Nichtbehandlung einer HCV-Infektion eine zu kurze Inhaftierungsdauer und Drogengebrauch.5 Gemäß der Therapieleitlinien ist injizierender Drogenkonsum per se allerdings keine Kontraindikation für die Behandlung einer HCV-Infektion.27
Wir vermuten, dass sich die HCV-Prävalenz und damit die Notwendigkeit einer Behandlung je nach Zusammensetzung der Inhaftiertenpopulation von JVA zu JVA unterscheiden, je nach Anteil von Drogengebrauchenden oder Inhaftierten aus Hochprävalenzländern. Auch können intra- und extramurale Kooperationen zwischen den BL teilweise die unterschiedlichen Behandlungsprävalenzen erklären.53
Zum Zeitpunkt der Studie bestand die leitliniengerechte Therapie einer chronischen HCV-Infektion aus einer Kombination von PEG-IFN und RBV bzw. aus der Option einer Tripeltherapie mit BOC oder TVR in Kombination mit PEG-IFN/RBV. Die Tripeltherapie war jedoch kostenintensiv und mit häufigen Nebenwirkungen belastet und hat daher wahrscheinlich nur eine kleine Rolle bei der intramuralen HCV-Behandlung gespielt.
Im Jahr 2013 waren bereits vielversprechende hocheffektive direkt antiviral wirkende Substanzen (DAAs) kurz vor Marktzulassung. Es ist möglich, dass die niedrigen Behandlungsprävalenzen in unserer Studie die abwartende Haltung der Ärzte auf die DAAs widerspiegeln, die auch extramural in einer Untersuchung von gesetzlich Krankenversicherten in Deutschland zu sehen ist.54 Auch mag die nebenwirkungsreiche und teils nicht effektive interferonbasierte Behandlung von Inhaftierten häufig abgelehnt worden sein.
Opioid-Substitutions-Therapie
Die große Spanne der Behandlungsprävalenzen für OST zwischen 0% im Saarland und 7,9% in Bremen deutet darauf hin, dass Substitution sehr unterschiedlich in den BL umgesetzt wird. Insbesondere die nördlichen BL zeigten hohe OST-Raten, was deren liberalere und auf Schadensminimierung ausgerichtete Politik unterstreicht, wohingegen im Saarland, Bayern und in den östlichen BL nur einige wenige JVAen mit OST-Mitteln beliefert wurden. Die fehlende und niedrige Behandlungsprävalenz im Saarland und in Bayern weist auf eine reine Entzugsbehandlung statt Substitution und eine stark auf Abstinenz orientierte Politik im dortigen Justizvollzug hin.55 Diese Heterogenität und das auf Abstinenz zielende Paradigma in manchen BL wurden von anderen Autoren bereits beschrieben.31,53
Für Berlin konnten wir unsere Daten mit denen aus anderen Studien bestätigen: Nach Keppler in Lehmann et al. erhielten 3,6% der Inhaftierten in Berlin eine OST im Vergleich zu 3,2% in unserer Studie.53 Bei Schulte et al. ergaben sich 1.137 OST pro Jahr insgesamt, was 8,0% der vertretenen Inhaftierten und 37% der Inhaftierten mit Drogenkonsum entsprach.5 In Reimers Arbeit entsprachen 320 Langzeit-OST etwa 1,1% der vertretenen Inhaftierten.51
Die Gesamt-OST-Behandlungsprävalenz von 2,18% in unserer Studie entspricht ungefähr den OST-Behandlungsprävalenzen bei Schulte und Reimer. Injizierender Drogenkonsum, meist Opioidkonsum, liegt jedoch bei 22-30% der Inhaftierten vor,3,5 d. h. nur etwa 10% von diesen erhalten eine angemessene Substitution, in manchen BL weitaus weniger.
Möglicherweise lehnen manche Opioidkonsumenten eine OST ab und bevorzugen einen kalten Entzug in Haft, andere offenbaren ihre Sucht nicht, um Stigmatisierung oder Nachteile in Bezug auf ihre Haftbedingungen zu vermeiden. OST ist, insbesondere in Kombination mit anderen Strategien zur Schadensminimierung, eine evidenzbasierte Maßnahme für die HIV- und HCV-Prävention.16,56,57 In der regulierten Gefängnisumgebung mit überwachter Anwendung, Regelmäßigkeit der Aufnahme und strukturiertem täglichen Leben ist OST gut durchführbar.31 Substituierte zeigen häufig eine höhere Compliance in Bezug auf eine antivirale und antiretrovirale Behandlung.56,58 Es ist daher unverständlich, dass der Zugang zur OST für Inhaftierte offenbar so unterschiedlich ist. In Studien hing der OST-Zugang hauptsächlich von Substitutionsbehandlung vor Inhaftierung, kurzer Haftdauer und Komorbidität wie Infektionskrankheiten ab.5,59
Obwohl OST-Richtlinien für Deutschland existieren,29,60 zeigt diese Arbeit, dass diese Richtlinien nicht konsistent intramural angewendet werden.
Limitationen
Die folgenden Limitationen müssen bei der Interpretation der Daten berücksichtigt werden.
Die Auswertung von Apothekenabgabedaten erlaubt keine Aussage darüber, welche und wie viele Arzneimittel den einzelnen Patienten tatsächlich erreicht haben. Dies kann möglicherweise zu einer Überschätzung der berechneten DDD führen. Auf der anderen Seite werden Notfall- oder Ad-hoc-Bestellungen von lokalen Apotheken übernommen, die nicht in unserer Analyse enthalten sind, was zu einer möglichen Unterschätzung der entsprechenden Behandlungen führen könnte. Laut Aussage einer Vertragsapotheke belaufen sich die Notfallbestellungen jedoch auf weniger als 2%.55 Darüber hinaus könnte eine Arzneimittelpackung für mehrere Patienten verwendet werden. In der Regel werden die Pillen nach Rezept pro Patient oder pro Patient und Tag verpackt.56 Wir haben versucht eine Verzerrung zu vermeiden, indem wir die Behandlungsprävalenz pro Tag berechneten. Tablettenblister werden nur in bestimmten Fällen geteilt, wobei dieses Verfahren von JVA zu JVA unterschiedlich sein kann. Darüber hinaus gibt es Unterschiede im Behandlungsmanagement bei Verlegung von Inhaftierten. In einigen Fällen werden Arzneimittel vollständig von der zuvor zuständigen JVA bereitgestellt. In anderen Fällen wird die Arzneimittelversorgung nach Verlegung von der neuen JVA übernommen.56
Behandlungserfolg und -versagen, einschließlich Nebenwirkungen und Arzneimittelinteraktionen, bleiben bei dieser Analyse unbekannt, ebenso wie die Behandlungsdauer. Daher haben wir die durchschnittliche Behandlungsprävalenz als Punktprävalenz in Prozent an jedem einzelnen Tag des gesamten Studienzeitraums berechnet. Für OST wurde weder Einschleichen noch schrittweise Reduktion in Betracht gezogen, sondern eine konstante Dosierung angenommen, was zu einer Unterschätzung der Anzahl an Personen unter OST-Medikation geführt haben kann.
Aufgrund der fehlenden Apothekendaten einer Krankenstation in einer JVA in Mecklenburg-Vorpommern mit fünf Betten und einer JVA in Niedersachsen mit 52 Betten sind die Daten dieser BL nicht vollständig und DDD und adTP könnten unterschätzt worden sein.
Weiterhin bestehen mehrere Transfer-Kooperationen zwischen BL, die die Repräsentativität der Daten für das jeweilige BL begrenzen.
Darüber hinaus besteht eine weitere Einschränkung in den unterschiedlichen zeitlichen Einheiten der Apothekenlieferdaten einerseits (pro Quartal eines Jahres) und der Anzahl der Inhaftierten andererseits (vier Kalendermonate). Die tatsächliche Dauer der Inhaftierung sowie die Informationen zu Freilassungen, wie Tag der Freilassung und Anzahl freigelassener Gefangener, können aus den vorliegenden Daten nicht abgeleitet werden und bleiben unbekannt. Daher haben wir uns entschieden, die DDD für jeden Tag im Untersuchungszeitraum zu berücksichtigen.
Schließlich beschreibt diese Studie lediglich den Anteil der behandelten Personen an allen Inhaftierten und nicht an den infizierten Inhaftierten je BL. Um die errechnete Behandlungsprävalenz zu bewerten, verglichen wir sie daher mit der in früheren Studien beobachteten Prävalenz der Erkrankungen.
Schlussfolgerungen
Diese Arbeit ist die erste umfassende Beschreibung und Bewertung der Arzneimittelversorgung von Inhaftierten mit einer HIV-, HCV-Infektion oder Opioidabhängigkeit in JVAen. Die Studie zeigt, dass die Behandlung dieser Krankheiten in JVAen durchgeführt wird und dass leitliniengerechte Substanzen und Standardbehandlungen verwendet werden. Allerdings wurde eine hohe Variation bei der Behandlung pro JVA-Population in den BL und bei den jeweiligen Krankheiten beobachtet, was durch die beschriebenen Transfer-Kooperationen nicht vollständig erklärbar ist. Die Behandlung von chronischen Infektionen und OST bei Inhaftierten scheint von strukturellen und individuellen Faktoren abhängig zu sein, z.B. der Struktur der Gesundheitsversorgung in der jeweiligen JVA, aber auch von der politischen Haltung gegenüber Drogenkonsum und der Verteilung des Finanzbudgets für die medizinische Behandlung in der jeweiligen JVA und im BL. Die Unterschiede spiegeln das dezentrale föderale System in Deutschland wider, in dem die BL unterschiedliche Ansätze in Bezug auf das Management der medizinischen Versorgung verfolgen.5,17,51
Die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Mandela-Regeln der Vereinten Nationen legen fest, dass die Gesundheitsversorgung von Inhaftierten im Einklang mit den allgemeinen Gesundheitsstandards und unter der Leitung des Gesundheitsministeriums erfolgen sollte.57 Nach unseren Ergebnissen sind die Gesundheitsversorgung und -politik in JVAen in Deutschland damit nicht vollständig im Einklang, insbesondere im Hinblick auf die Behandlung von HCV und OST. Die Behandlung von HIV scheint einem in etwa adäquaten Anteil von erwarteten Infektionen unter Inhaftierten gerecht zu werden. Im Hinblick auf die zu erwartende hohe HCV-Prävalenz unter Inhaftierten und im Vergleich zur Prävalenz von HIV und Opioidabhängigkeit war die von uns beobachtete HCV-Behandlungsprävalenz sehr niedrig. Allerdings hat sich die Therapie einer HCV-Infektion seit dem Studienzeitraum deutlich verbessert. Neue hochwirksame DAAs sind seit 2014 erhältlich, die sich hoffentlich trotz hoher Kosten auf die Behandlungsprävalenz in JVAen positiv auswirken. Eine Folgeuntersuchung zur Bestimmung der aktuellen Qualität und Quantität der HCV-Behandlungsprävalenz unter Inhaftierten nach dieser Behandlungsrevolution wäre wünschenswert.
Trotz der Einschränkungen dieser Studie aufgrund der reinen Sekundärdatenanalyse und weiterer Faktoren, wie eines möglicherweise unterschiedlichen Anteils von Drogengebrauchenden unter Inhaftierten und damit unterschiedlicher Anteile von Infizierten, weisen die großen Unterschiede zwischen den BL auf inkonsistente Behandlungspraktiken bei allen untersuchten Therapien hin. Es ist alarmierend, dass einige Bundesländer OST auf einem sehr niedrigen Niveau durchführen, wohingegen in anderen ein hoher Anteil von Inhaftierten mit OST versorgt wird.
Trotz seiner Herausforderungen bietet die JVA die Möglichkeit zur Prävention und Behandlung von HIV- und HCV-Infektionen sowie OST,18 die in größerem Umfang und konsequenter durchgeführt werden könnten. Die regulierte Umgebung bietet gute Bedingungen für z.B. Vertrieb von sterilen Injektionsutensilien, überwachte Anwendung, Regelmäßigkeit der Einnahme und die Möglichkeit zur Strukturierung des täglichen Lebens. JVAen bieten daher Möglichkeiten zur Vorbeugung der Infektionen.17 Kontinuierliche Analysen über längere Zeiträume sind notwendig, um weitere Aussagen zur Gesundheitssituation in deutschen JVAen treffen zu können. Eine Erfassung von Infektionskrankheiten unter Inhaftierten würde dazu beitragen, einen gleichberechtigten Zugang zu Behandlungen sicherzustellen und die Strategien der Bundesländer zu harmonisieren. Schließlich sollten JVAen Maßnahmen zur Prävention und Schadensminimierung wie Nadelaustausch- und Kondomverteilungsprogramme konsequent umsetzen, um eine weitere Ausbreitung von Krankheiten zu vermeiden.30
Deutschsprachige Kurzfassung der Publikation Müller J. et al.: High variability of TB, HIV, hepatitis C treatment and opioid substitution therapy among prisoners in Germany. BMC Public Health 2017; 17(1): 843. DOI: 10.1186/s12889-017-4840-4
Der Originalartikel wurde unter den Bedingungen der CC Attribution 4.0 International Lizenz (http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/) veröffentlicht.
Literatur beim Verfasser