Leserbriefe
Cave: Multiplex-PCR führt zu Übertherapie!
Tobias Glaunsinger
Facharzt für Allgemeinmedizin, Infektiologe (DGI/ÄK Berlin)
Praxis Prenzlauer Berg, Berlin
©privat
Zweifellos hat sich die Leistungsfähigkeit moderner Erregerdiagnostik dank der Multiplex-PCRs massiv erweitert und verbessert. Nur dank dieser ist mit Mykoplasma genitalium ein Keim in der Differenzialdiagnostik und -therapie zu berücksichtigen, der bereits seit 1980 als potenzieller Erreger venerischer Infektionen bekannt, jedoch kulturell in Routinelabors de facto nicht nachweisbar ist. Denke ich daran zurück, in wie vielen Fällen ich Patienten eine psychosomatische Genese „angedichtet“ habe, die nach mehrfachen Ceftriaxon-Azithromycin-Gaben – trotz vielfach negativer Gonokokken- und Chlamydien-Tests – immer noch über urethritische Beschwerden geklagt haben, werde ich heute ganz demütig. Weiß ich doch jetzt, wie oft Mykoplasma genitalium dahinter gesteckt haben wird und nicht – wie von STI-Spezialisten oft behauptet – von Azithromycin schon mitbehandelt wurde. Die Möglichkeit, bei einer entsprechenden klinischen Symptomatik im Rahmen einer umfassenden Differentialdiagnostik alle relevanten Erreger berücksichtigen zu können, ist also nicht wertvoll genug einzuschätzen.
Andererseits birgt die ungezielte „Schrotschuss-Diagnostik“ mittels einer Multiplex-PCR immer auch das Risiko, Ergebnisse zu erzielen, deren kritische Beurteilung auf Seiten der Laborärzte – aber auch auf Seiten der behandelnden Ärzte – eine (oft nicht ausreichend vorhandene) Expertise bedürfen. Jeder Infektiologe weiß: Nicht jeder Nachweis eines vermeintlichen Erregers ist beweisend für eine zugrundeliegende Infektion und Indikation für eine gezielte Therapie.
Dies zeigt sich beispielsweise sehr anschaulich anhand einiger aufgebrachter junger Frauen, die sich völlig verängstigt mit positiven Ureaplasmen-Nachweisen aus Cervix-Abstrichen in meiner Praxis vorstellen und davon berichten, dass sie bereits mehrfache Antibiotika-Gaben hinter sich und immer noch „positive“ Tests haben. Hier scheint weder auf der Seite der den Befund erstellenden und Therapieempfehlungen gebenden Laborärzte – und noch viel weniger auf der Seite der behandelnden Gynäkologen – bekannt zu sein, dass Ureaplasmen Teil des völlig normalen Schleimhaut-Mikrobioms in der Vagina und Cervix von mehr als 80% gesunder Frauen sind. Gerade Ureaplasma parvum und Mykoplasma hominis sind sehr viel häufiger harmlose Kommensalen als gefährliche Erreger!
Der unkritische Einsatz von Antibiotika führt jedoch gerade hier zu einer zunehmenden Resistenzentwicklung, die in den Fällen, in denen die Erreger wirklich schwere Infektionen auslösen (Frühgeborene, Schwangere), zu einem gefährlichen Verlust therapeutischer Optionen führen.
Dies berücksichtigend spricht sich eine Expertengruppe der Herausgeber europäischer STI-Behandlungsleitlinien um Horner, Jensen und Unemo in 2018 klar gegen den Einsatz von Multiplex-PCRs aus!1 Auch diese ausgewiesenen Mollicutes-Experten sehen die Gefahr unkritischer Antibiotika-Gaben aufgrund des in seiner Bedeutung oft überschätzten Nachweises vermeintlicher Erreger als zu hoch an.
Unstrittig ist die Rolle von Mykoplasma genitalium als Erreger der von Ihnen aufgeführten Infektionen. Viel häufiger verlaufen jedoch auch diese Infektionen asymptomatisch. Dies trifft auf nahezu alle der sowieso sehr seltenen Nachweise aus dem Pharynx und auf sehr viele Nachweise aus dem Anus und aus Vaginalabstrichen zu.
In einer eigenen Untersuchung in Zusammenarbeit mit Herrn Dr. Dumke aus dem Nationalen Referenzlabor für Mykoplasmen an der TU Dresden und mit Herrn Dr. Rust aus der Infektiologie Ärzteforum Seestraße in Berlin waren fast drei Viertel der Patienten mit Nachweisen von Mykoplasma genitalium in der PCR asymptomatisch.3
Gleichzeitig wurden in 79,9% der vornehmlich von MSM aus Berlin stammenden Mykoplasma genitalium-Stämme Makrolid-Resistenzen nachgewiesen! In 13% fanden sich Chinolon-Resistenzen, fast 12% der Patienten waren gegen beide Antibiotika-Gruppen resistent.3
Vom Berliner Labor Obermeier, das ähnliche Untersuchungen zur Makrolid-Resistenz von Mg gemacht hat, waren beim Deutsch-Österreichischen AIDS-Kongress im Juni 2019 in Hamburg sehr ähnliche Größenordnungen von Makrolid-Resistenzen berichtet worden.
In Anbetracht dieser extrem hohen Makrolid-Resistenzen kann die in der europäischen Leitlinie empfohlene primäre Gabe von Azithromycin – zumindest in der Gruppe der MSM aus Berlin – nicht mehr wirklich empfohlen werden!
Tests der Mg-Stämme auf Makrolid-Resistenzen – wie von der Europäischen Leitlinie seit Jahren und von Ihnen in Ihrem Artikel völlig zurecht empfohlen – sind erst seit kurzem und nur in sehr wenigen Labors verfügbar. In den meisten Fällen sind diese Tests leider noch nicht realistisch einsetzbar.
In der Folge würden also bei einem unkritischen Multiplex-PCR-Einsatz – zumindest beim Screening auf STI – eine Vielzahl asymptomatischer Mg-Infektionen gefunden und leitliniengerecht mit einer völlig unwirksamen, die weitere Resistenzentwicklung gegen Makrolide jedoch massiv befeuernden Therapie behandelt. De facto stellt jedoch der Nachweis von Mg bei einem MSM aus Berlin in 80% eine Indikation für Moxifloxacin und damit für den Einsatz eines Reserveantibiotikums dar, welches obendrein durch mehrere Warnungen und Rote-Hand-Briefe als potenziell schwerwiegende gesundheitliche Schäden auslösend eingeschätzt wird. Circa 12% der Mg-Stämme sind nur noch durch ein aus Frankreich zu importierendes, eine Kosten-übernahme der Krankenkasse voraussetzendes Antibiotikum (Pristinamycin/ Pyostacine®) adäquat zu behandeln.
Aus dem Gesagten ergibt sich, dass ich – und mit mir eine Vielzahl von im Gegensatz zu mir wirklichen Experten1,2 – einen unkritischen Einsatz von Multiplex-PCRs und das Screening Asymptomatischer auf Mollicutes – inclusive Mykoplasma genitalium – als sehr kritisch und potenziell sogar kontraproduktiv ansehe und davor – zumindest im Moment und bis zur Verfügbarkeit neuer, besser wirksamer Antibiotika – dringend warnen möchte.
Literatur:
1 Horner P, Donders G, Cusini M, Gomberg M, Jensen JS, Unemo M. Should we be testing for urogenital Mycoplasma hominis, Ureaplasma parvum and Ureaplasma urealyticum in men and women? - a position statement from the European STI Guidelines Editorial Board. Journal of the European Academy of Dermatology and Venereology. 2018.
2 Bradshaw CS, Horner PJ, Jensen JS, White PJ. Syndromic management of STIs and the threat of untreatable Mycoplasma genitalium. Lancet Infect Dis. 2017;18(3):251-252. doi:10.1016/S1473-3099(18)30080-X.
3 Dumke R, Ziegler T, Abbasi-Boroudjeni N, Rust M, Glaunsinger T. Prevalence of macrolide- and fluoroquinolone-resistant Mycoplasma genitalium strains in clinical specimens from MSM of two STI practices in Berlin, Germany. J Glob Antimicrob Resist. 2019;18:118-121. doi:10.1016/j.jgar.2019.06.015