Pietro Vernazza, St. Gallen

PIETRO VERNAZZA, ST. GALLEN
Weshalb veröffentlicht die Eidgenössische Kommission für AIDS-Fragen ein Papier über das vernachlässigbare Risiko einer HIV-Transmission unter HAART?

Am 30. Januar 2008 veröffentlichte die Schweizerische Ärztezeitung eine Information zu neuen Beratungsinhalten für HIV-positive Personen und deren PartnerInnen. In diesem Papier wird weltweit erstmals über das vernachlässigbare Risiko einer HIV-Ansteckung unter optimal durchgeführter HIV-Therapie berichtet. Kernpunkt ist die Aussage "Eine HIV-infizierte Person unter einer antiretroviralen Therapie mit vollständig supprimierter Virämie ist sexuell nicht infektiös". Was hat die Kommission zu diesem Schritt bewogen?

Das Statement war mutig, das war allen klar. Doch es war auch überfällig. Viele Ärzte haben im persönlichen Gespräch mit ihren Patienten auf das minimale Risiko einer Übertragung unter einer erfolgreichen antiretroviralen Therapie hingewiesen. Gelegentlich auch mit dem Hinweis, niemandem davon zu erzählen. Ein solcher Umgang mit einer medizinischen Information ist sonderbar. Gleichzeitig haben verschiedene Beratungspersonen diametrale Informationen abgegeben. Sex ohne Kondom bei komplett supprimierter Viruslast wurde von "hoch riskant" bis "null Problem" bezeichnet. Diese Uneinigkeit im Beratungssetting hat auf Patientenseite zu großen Unsicherheiten geführt.

Die Unsicherheit im Umgang mit einem möglichen HIV-Übertragungsrisiko in einer Partnerschaft hat auch viele Paare davon abgehalten, eine entspannte Sexualität zu leben oder gar Kinder zu zeugen. Gerade im Bereich Kinderwunsch waren die Auswirkungen teilweise grotesk. In den letzten sieben Jahren gingen viele Paare, wenn der Mann HIV-positiv und die Frau HIV-negativ war, in eine spezialisierte Klinik zur Inseminationsbehandlung mit aufbereitetem Sperma. Der Aufwand kostete nicht nur Geld, auch Nerven, Frustration und Zeit.

DREI RISIKOKLASSEN

In dieser Situation hat die Fachkommission Klinik und Therapie von HIV/AIDS des Schweizerischen Bundesamtes für Gesundheit (FKT) das medizinische Wissen zur HIV-Transmission zusammengetragen und beurteilt. Das Resultat des Literaturstudiums war eine Klassifizierung der Risiken in drei Klassen.

  • Hohes Risiko
  • Mäßiges Risiko
  • Vernachlässigbares Risiko

HOHES RISIKO

Die Dreiteilung folgt einer Logik, die zwischen öffentlichem und privatem Interesse unterscheidet. Ein öffentliches Interesse ist es, die HIV-Epidemie zum Verschwinden zu bringen. Dies wird dann erreicht sein, wenn die basale Reproduktionsrate unter 1 sinkt. Darunter versteht man die durchschnittliche Anzahl Personen, welche von einer infizierten Person (zeitlebens) mit HIV infiziert werden. Wenn diese Zahl für eine Infektionskrankheit unter 1 fällt, verschwindet die Infektion über kurz oder lang. Im öffentlichen Interesse ist es somit, diejenigen Situationen zu vermeiden, welche besonders häufig zur HIV-Übertragung führen. Die Risikosituationen, die es aus öffentlichem Interesse zu vermeiden gilt, wurden als hohes Risiko eingestuft. Darunter fallen zum Beispiel Sexualkontakte, wenn zusätzlich aktive Geschlechtskrankheiten vorhanden sind oder Sex während einer frischen HIV-Infektion.

MITTLERES RISIKO

Dem gegenüber stehen private persönliche Interessen. Jeder möchte für sich aus persönlichen Gründen eine HIV-Infektion vermeiden, selbst wenn eine Epidemie abklingt. Das Risiko einer sexuellen Übertragung von HIV kann dabei auch relativ gering sein (z.B. 1:1.000 pro Sexualkontakt) während einer chronisch asymptomatischen Phase der HIV-Infektion.

VERNACHLÄSSIGBARES RISIKO

Als vernachlässigbar wurden Risiken klassifiziert, welche so unwahrscheinlich zu einer Infektion führen, dass deren Eintrittswahrscheinlichkeit mit anderen vernachlässigbaren Risiken unseres täglichen Lebens vergleichbar ist (zum Beispiel das Risiko eines Flugzeugabsturzes). Die Fachexperten der FKT kamen aufgrund des Literaturstudiums zum Schluss, dass das Risiko einer HIV-Übertragung unter einer gut eingenommenen antiretroviralen Therapie ohne andere Geschlechtskrankheiten so gering sein muss, dass die Eintretenswahrscheinlichkeit eines solchen Ereignisses in der Größenordnung von 1:1 Million oder kleiner ist.

KONSEQUENZEN FÜR DIE PRÄVENTION

HIV-Infizierte unter wirksamer Therapie nicht infektiös

Das Schweizerische Ärzteblatt hat am 30. Januar 2008 ein Statement der Eidgenössischen Kommission für Aidsfragen (EKAF) veröffentlicht. Die Autoren sind Pietro Vernazza, St. Gallen, Bernard Hirschel, Genf, Enos Bernasconi, Lugano und Markus Flepp. Darin stellt die Kommission fest, dass HIV-Infizierte sexuell nicht ansteckend sind, wenn

  • die antiretrovirale Therapie eingenommen und durch den Arzt kontrolliert wird
  • die Viruslast seit mindestens sechs Monaten unter der Nachweisgrenze liegt
  • keine anderen Geschlechtskrankheiten bestehen

Risiko vernachlässigbar

Als wissenschaftliche Grundlage für ihre Aussagen beruft sich die EKAF auf verschiedene Längsschnittstudien, mathematische Modelle, biologische Daten sowie auf das Fehlen von Berichten über eine Transmission bei einer Viruslast unter der Nachweisgrenze. Das Fazit der EKAF: "Das Risiko einer HIV-Übertragung beim Sex ohne Kondom unter vollständig supprimierter Viruslast ist deutlich geringer als 1:100.000. Das verbleibende Restrisiko lässt sich wissenschaftlich nicht ausschließen, es ist aber nach Beurteilung der EKAF und der beteiligten Organisationen vernachlässigbar klein".

Beratung

HIV-Infizierte sollen laut EKAF wissen, dass sie - solange sie diese Bedingungen erfüllen - HIV sexuell nicht weitergeben. Die Eigenverantwortung für die Gesundheit, d.h. die Entscheidung für oder gegen das Kondom, obliegt dem HIV-negativen Partner.


Weitere Informationen hier auf hivandmore.de

Interview mit Pietro Vernazza

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Kommentar Ramona Pauli-Volkert:
Neue Ära der Prävention


Originalpapier
Statement: EKAF

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Kommentar Pietro Vernazza:
Die HIV-Prävention wird einfacher - also komplexer!

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Im Anschluss an diese Evaluation der Risiken hat die Eidgenössische Kommission für AIDS Fragen die Konsequenzen dieser Information für die Präventionsarbeit evaluiert. Die Kommission kam nun zum Schluss, dass es nicht mehr statthaft sei, im Beratungssetting falsche Informationen über Transmissionsrisiken zu kommunizieren. Vielmehr wollte man durch eine offene und klare Information sicherstellen, dass sowohl die Anliegen der Prävention bewahrt bleiben als auch unbegründete Ängste und unnötig unerfüllter Kinderwunsch auf der Seite der Betroffenen verschwinden.

Daher enthält die Information der EKAF an die Adresse der Schweizer Ärzteschaft klare Informationen zum Geltungsbereich der Aussage: "Eine HIV-infizierte Person unter einer antiretroviralen Therapie mit vollständig supprimierter Virämie ist sexuell nicht infektiös" klare Präzisierungen zu dieser Aussage. Die Aussage gilt, wenn:

  • Die Therapie konsequent eingehalten und ärztlich überwacht wird
  • Die Viruslast seit mehr als 6 Monaten supprimiert ist
  • Beide Partner keine aktiven Geschlechtskrankheiten aufweisen.

Die Empfehlung der EKAF hat bewusst Geschlechtskrankheiten als mögliche "Störfaktoren" ausgeschlossen. Allerdings bedeutet dies nicht, dass die Wahrscheinlichkeit einer Transmission unter Therapie mit einer Urethritis oder Syphilis tatsächlich merklich ansteigt. Es ist durchaus denkbar, dass selbst in dieser Situation kein relevantes Transmissionsrisiko vorhanden ist. Doch die vorhandene Datenlage scheint zu spärlich, um diesbezüglich eine definitive Beurteilung abzugeben.

Die Kommission hat auch den Anwendungsbereich dieser Information umschrieben. Die Information hat in erster Linie eine Konsequenz für HIV-negative Partner einer behandelten Person. Da die konsequente Einnahme einer Therapie praktisch nur durch eine feste Partnerin/einen festen Partner beurteilt werden kann, betrifft das Statement in erster Linie feste Partnerschaften. Diese logische Konsequenz muss gut kommuniziert werden.

JURISTISCHE KONSEQUENZEN

Die Information hat aber auch eine Konsequenz für die Rechtsprechung. Daher ist es auch wichtig, dass sie öffentlich gemacht wird. Gerichte müssen bei der Beurteilung einer Strafbarkeit einer versuchten HIV-Übertragung nun auch neu die Frage der Therapie einbeziehen. Sicher kann ein Paar, welches Sex ohne Kondom praktiziert, wenn der eine Partner HIV-positiv unter einer Therapie steht, nicht wegen versuchter Verbreitung einer HIV-Infektion verurteilt werden (Art 231 StGB).

WENIGER BERÜHRUNGSÄNGSTE

Eine weitere indirekte Konsequenz dürfte sein, dass auch die allgemeine Wahrnehmung der Infektiosität von HIV eine Änderung erfahren wird. Dies dürfte die unnötigen Probleme von HIV-positiven Menschen am Arbeitsplatz und in anderen Lebensbereichen lindern. Doch was durch die neue Information gänzlich unverändert bleibt, ist die allgemeine Präventionsempfehlung: Schutz mit Kondom bei allen Sexualkontakten mit Personen, deren HIV-Serostatus bzw. deren Therapiesituation man nicht sehr gut kennt.

Bis sich diese Wirkung bei Betroffenen durchsetzt, wird sehr viel Zeit vergehen. Wer nun 10 Jahre und länger aus (unbegründeter) Angst vor einer Infektion in der Partnerschaft das Kondom routinemäßig verwendet hat, wird diese Angst nicht von einem Tag auf den anderen ablegen können. Das wird Zeit benötigen. Doch mit der entsprechenden Beratung wird die Information auch sehr viel positive Wirkungen bei Betroffenen zeigen, Sexualität mit dem festen Partner wird unbeschwerter und der Kinderwunsch unbehinderter.

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