Matthias Stoll, Hannover
Sind ökonomische Betrachtungen in Therapieleitlinien angebracht?

Der Versuch einer Annäherung der Denkwelten von Ärzten und Ökonomen

„Du bist aber alt geworden!“ Es gibt Feststellungen, die mögen objektiv richtig oder unstrittig sein. Trotzdem ist es manchmal nicht ratsam, diese zu äußern. Das gilt auch für Fragen rund ums Geld.

Teuere Pillen Wenig geschäftstüchtig wäre es beispielsweise, wenn Sie als potenzieller Käufer Ihres erstrebten Traumhauses die Verhandlung mit dessen Eigentümer mit dem Satz eröffnen: „Für eine Immobilie in dieser phantastischen Lage und mit dieser Traumausstattung hatte ich eigentlich einen doppelt so hohen Preis eingerechnet“. Gerade in Deutschland besteht bei diesem Beispiel gleich ein zweifaches Unbehagen: Zum einen die berechtigte Sorge, die eigene Verhandlungsposition zu schwächen. Zum anderen spricht man hierzulande nicht gerne offen über die (eigenen) finanziellen Möglichkeiten. Vielmehr besteht bei uns eine Festpreiskultur. Gerade in der medizinischen Leistungsabrechnung gelten diese als erstrebenswert. Was bei Heizölpreisen oder Kaffee sofort das Kartellamt auf den Plan rufen würde ist im Medizinmarkt die Norm: Landesweite verbindliche Preise für Arzneien oder Fallpauschalen. Paradoxerweise sind diese Festpreise das Resultat eines Konsensusprozess, also von Verhandlungen. Nur die Regeln dazu sind zum Teil ungeschrieben. Wie in der berühmten Szene, in der Monty Pythons „Brian“ beim Versuch scheitert, auf dem Basar einen künstlichen Bart zu kaufen, ohne um dessen Preis zu feilschen (http://www.welt.de/print-welt/article472491/Brian_Kein_Bart_in_Eile.html), so ist es auch im Gesundheitswesen undenkbar, dass dessen Leistungen ohne mindestens rituelle Einbeziehungen der  Interessensparteien monetär bewertet würden.

Bisher spielte das Geld keine Rolle

Der Passus zur „Gesundheitsökonomie“ in den Anfang März in München verabschiedeten Deutsch-Österreichischen Therapieleitlinien ist ein Novum und dessen Diskussion war dementsprechend zunächst von Überraschung geprägt. Letztlich überwog aber die Zustimmung. Von einzelnen Kollegen wurde aber auch grundsätzliche Kritik geäußert: „Wir werden dadurch auf etwas festgelegt werden können“. Oder: „Es ist nicht unsere Aufgabe (oder Rolle oder Verantwortung) über den ökonomischen Aspekt zu reden“.

Während unserer Leitliniendiskussion war einerseits heiß umstritten, einen Kompromiss zwischen entweder möglicherweise überspitzten Präzisierungen oder potentiell plattitüd klingenden Verallgemeinerungen zu finden. Ein erkennbares Unbehagen an den Ausführungen betraf aber nicht so sehr, „wie“ der Passus formuliert wurde sondern „dass“ überhaupt auf das ökonomische Thema fokussiert wurde. Dahinter steckte auch eine stillschweigende, besorgte Annahme, dass andere Interessensgruppen über bedeutenderen ökonomischen Sachverstand, eine bessere
Datenbasis und besser durchdachte ökonomische Konzepte als unsere Fachgesellschaft verfügen könnten. Dies beruht aus meiner Sicht auf einem doppelten Missverständnis.

Spielregeln für den ökonomischen Konsens

SparschweinWir haben auf der einen Seite seriöse, wissenschaftlich tätige Ökonomen, die stets ganz offen darauf hinweisen, dass sie die ökonomische Realität deskriptiv und modellhaft abbilden und darstellen wollen. Sie erläutern ausgiebig die Limitationen ihrer Methoden und Modelle und sie lehnen es geradezu empört ab, in ihren Analysen „eigene“ Standpunkte einzunehmen. Vielmehr nehmen sie ausdrücklich den oder die Blickwinkel von Interessensgruppen ein, als da sind z.B. Patienten, Kostenträger, Leistungsanbieter etc. Andererseits gibt es Interessensgruppen. Eine davon ist unsere Fachgesellschaft. Die Interessensgruppen sind gemäß den Spielregeln der Wirtschaftswissenschaften verpflichtet(!) ihre Interessen zu benennen und offen zu legen, um adäquat und ethisch vertretbar in die Konsensfindung transparent mit einbezogen werden zu können.

Es gibt also keine übergeordnete Interessensgruppe, auch wenn es zur professionellen Attitüde mancher Interessensvertreter gehört, eine solche Position für sich selbst zu beanspruchen. Dies ist erfolgversprechend, wenn die Gegenseite darauf hereinfällt. Da der mögliche Gewinn hoch ist und andererseits kaum eine negative Sanktion erfolgt, wenn ein solcher Bluff auffliegt, ist dieses gleichwohl unredliche Instrument häufig im Einsatz. Mein persönlicher Eindruck ist, dass gerade von westlicher Kultur geprägte Mediziner in doppelter Hinsicht dafür empfänglich sind: Zum einen dient gerade den Ärzten der Irrglaube an „höherwertige ökonomische Blickwinkel“ dazu, sich selbst weiszumachen, sie könnten mehrere Blickwinkel gleichzeitig vertreten; zum anderen ist die Basis jeder ärztlichen Kommunikation das Vertrauen in sein Gegenüber.

Kritische Gesetzestreue

Therapieleitlinien dienen einer konsentierten Standortbestimmung zur (medizinisch und ökonomisch) rationalen Auswahl einer bestimmten Behandlungsalternative. Das SGB V verpflichtet im §12 den Arzt ausdrücklich dazu, beim GKV-versicherten Patienten das dort formulierte Wirtschaftlichkeitsgebot zu beachten. Wie das im klinischen Alltag zu geschehen hat, ist allerdings kaum verbindlich erläutert. Dies erklärt die Häufigkeit und Unergiebigkeit mit der um diesen Punkt im Individualfall gestritten wird. Die antiretrovirale Therapie hat in dieser Auseinandersetzung lange Zeit eine Art natürlichen Nestschutz besessen: Das Krankheitsbild war akut lebensbedrohlich und die Therapieoptionen waren hoch innovativ und schon deshalb oft ohne Handlungsalternative. Das hat sich geändert: Wir haben so viele Optionen, dass wir uns in mehreren Therapieklassen bereits ein abgestuftes Ranking der Empfehlungen leisten können. Wir bewerten schon lange nicht mehr nach den Endpunkten „Krankheitsprogression und Tod“, sondern setzen ein gutes klinisches Outcome voraus, wenn definierte virologische Endpunkte („unter der Nachweisgrenze“) erreicht werden. Die zahlreich verbleibenden sehr gut wirksamen Optionen differenzieren wir inzwischen nach teilweise wenig scharf definierten, multifaktoriell beeinflussten „Langzeit-Toxizitätsrisiken“. Mit dieser neuen Akzentuierung beginnt zunehmend die Verantwortung, die ökonomische Verhältnismäßigkeit zu hinterfragen: Unstrittig ist es, jedem Ertrinkenden unmittelbar zu helfen, etwa durch das Zuwerfen eines Rettungsrings. Bisher unüblich in der Schiffbrüchigen-Rettung ist aber die Überlegung, jedem statt eines Rettungsrings eine eigene Motoryacht zukommen zu lassen, weil deren „Convenience“ der des einfachen Rettungsrings messbar überlegen ist. Trotzdem wird man nicht nur mit Rettungsringen auskommen, z.B. immer dann nicht, wenn der Schiffbrüchige bewusstlos ist oder zu werden droht.

Textauszug Leitlinien: 2.10 Wirtschaftlichkeit

Aus ärztlicher Sicht muss sich die Auswahl der individuellen Kombination vorrangig an Unterschieden in der Wirksamkeit, Begleiterkrankungen, eventuellen primären Resistenzen und anderen medizinischen Faktoren orientieren.

Da die antiretrovirale Therapie inzwischen der größte Faktor der erheblichen direkten Krankheitskosten der HIV-Infektion ist, sollte sich jede verordnende Ärztin/jeder verordnende Arzt darüber hinaus der Verantwortung bei der Verschreibung bewusst sein. Für die Pharmakotherapie von gesetzlich Versicherten gilt diesbezüglich in Deutschland das Wirtschaftlichkeitsgebot (§12 SGBV). Apothekenabgabepreise erlauben dabei nur eine Abschätzung der aktuellen Therapiekosten, nicht jedoch der langfristigen Kosteneffektivität, die aus Sicht der Kostenträger das entscheidende wirtschaftliche Kriterium darstellt. Insgesamt ist die wissenschaftliche Datenlage zur Kosteneffektivität für Einzelfallentscheidungen noch unzureichend. Aktuelle wissenschaftliche Instrumente zur Abschätzung der Kosteneffektivität berücksichtigen vorrangig kontrollierte klinische Studien mit ihrer vom experimentellen Ansatz her bestimmten Patientenauswahl. Die Abschätzung der Kosteneffektivität ist daher derzeit nur auf Populationsbasis für selektierte Patientengruppen möglich, nicht jedoch für die Versorgungssituation im klinischen Alltag und ist zudem methodisch als eine Form der Kostenvorhersage für den Individualfall grundsätzlich nicht geeignet. Daher sollte eine laufende, gut vertragene Therapie bei einem Patienten nicht ausschließlich wegen hoher Tagestherapiekosten umgesetzt werden.

Bei der Initiierung einer antiretroviralen Therapie ist andererseits für eine wirtschaftliche Verordnungsweise die Berücksichtigung der Größenordnungen aktueller Tagestherapiepreise somit dann hilfreich, wenn im individuellen Fall zwischen gleichwertigen Therapieoptionen gewählt werden kann. Die Allokation individuell geeigneter antiretroviraler Behandlungsalternativen erfordert also auch unter dem wirtschaftlichen Blickwinkel in besonderem Maße ein spezifisches medizinisches Fachwissen und zudem die genaue Kenntnis des individuellen Falles und kann derzeit nicht schematisch vorgegeben werden.

Das Ende der Therapiefreiheit?

Werden uns die Ausführungen in unseren neuen Leitlinien die auf die persönlichen Bedürfnisse des Patienten optimierte Therapieauswahl einschränken? Sind wir künftig gar auf die „Sonderangebote“ unter den verfügbaren antiretroviralen Therapieoptionen festgelegt?

Eine Reihe von Gründen spricht beim genaueren Lesen der Textpassage gegen diese Sorge: 

  • Es geht zunächst um ein aktives Bekenntnis zur Beachtung dessen, was gesetzlich vorgegeben ist: das Wirtschaftlichkeitsgebot. Das klingt so selbstverständlich, dass man fast meinen könnte, es sei überflüssig. Das Bekenntnis ist aber sinnvoll vor dem Hintergrund der weiteren Aussagen, die sich alle kritisch mit der Unsicherheit in der Interpretation des Wirtschaftlichkeitsgebots auseinandersetzen.
  • Das Wirtschaftlichkeitsgebot ist nachrangig, es gilt nur im Falle einer Auswahl von vergleichbar zweckmäßigen Behandlungsalternativen.
  • Es besteht ein bemerkenswertes Missverhältnis zwischen der viel beschworenen Forderung an die Ärzteschaft, das Wirtschaftlichkeitsgebot optimal zu beachten und dem weitgehenden Fehlen von belastbaren wissenschaftlich fundierten Daten, die die Wirtschaftlichkeit von definierten Behandlungsalternativen bewerten könnten.
  • Unsere Leitlinien fordern folgerichtig, dass bestehende Defizite in der Versorgungsforschung ausgeglichen werden müssen. Sie signalisieren unsere aktive Unterstützung, diese Forderung im deutschen Gesundheitswesen künftig besser zu erfüllen, aber weisen auch daraufhin, dass hierzu bisher unzureichende Forschungsförderung erfolgte und dass einige offiziell vorgeschlagene Methoden, wie der Vergleich über Studiengrenzen hinweg mit der sog. Kosteneffizienzgrenzbetrachtung zu falschen Ergebnissen führen können.
  • Zusammenfassend bedeuten die ökonomischen Überlegungen also weniger eine für Arzt und Patienten potenziell riskante Einengung der Optionen. Sie reflektieren vielmehr eine vorsorgliche Forderung, die teilweise mit harten Bandagen geführte Auseinandersetzungen über die Wirtschaftlichkeit einer Verordnung konstruktiv, also prospektiv, an wissenschaftlich belegbaren Analysen auszurichten.

Eine Reihe von Gründen führen nach meiner Erfahrung in der Ärzteschaft gelegentlich zu einer negativ empfundenen Wahrnehmung des Themas „Gesundheitsökonomie“. Neben dem teilweise als existentiell empfundenen Drohpotential, das von Regressforderungen ausgeht, besteht oft ein Gefühl der Ohnmacht gegenüber anderen Interessensgruppen in der Verteilungsdiskussion. Es wäre nicht nur aus emotionalen sondern auch aus sachlichen Gründen wünschenswert, sich von diesem im Grunde ungerechtfertigten Gefühl freizumachen. Es behindert jede erfolgreiche Verhandlung massiv, wie auf etwas abstruse Weise die oben erwähnte Episode um das Feilschen im Film der Monty Pythons illustriert.

In Ermangelung eines mir bekannten zitierfähig publizierten Beispiels möchte ich das Problem mit eigenen Erfahrungen bei einem Autokauf illustrieren.

Flagge zeigen!

Frustriert von der Unzuverlässigkeit der diversen älteren Fahrzeuge in meiner Studienzeit und zum Berufsanfang hatte ich mich während meiner Facharztausbildung zum Kauf eines ganz bestimmten Neuwagentyps entschieden. Der äußerst distinguiert wirkende Verkäufer in einem großen Autohaus ließ mich auf sehr professionelle Art spüren, dass ich mit keinerlei Verhandlungsspielraum zu rechnen hätte und er legte es für mich geradezu unangenehm spürbar darauf an, mir zu zeigen, dass er mich als seinen Kunden eher in der Rolle eines Bittstellers sah. Ich war eigentlich so verärgert, dass ich das Gespräch abbrechen wollte, aber ich wollte wenigstens ohne Gesichtsverlust aus der mir fremden Arena treten. Aus einer spontanen Eingebung heraus überraschte ich den Verkaufsprofi mit der beiläufig vorgebrachten Aussage, dass der Preis des gewünschten Neuwagens für mich eine Menge Geld bedeuten würde, denn „immerhin müsste ich dafür fast einen Monat lang hart arbeiten“. Das wunderbare Gefühl, einen Stich bei meinem Verhandlungspartner gelandet zu haben, brachte unmittelbar seine erste Reaktion, als er mindestens für den Bruchteil einer Sekunde fassungslos war – und ich spürte, wie er jede verbale oder mimische Äußerung unterdrücken musste, dass er mir das natürlich nicht glaubte. Ich kriegte es so hin, dass er sich nicht sicher war, ob diese grobe Übertreibung meiner wahren Einkommensverhältnisse (als Angestellter des öffentlichen Dienstes) nicht vielleicht doch zutreffend sein könnte. Jedenfalls änderte sich unerwartet die Stimmung auf beiden Seiten grundlegend zum Positiven: Wir wurden uns relativ rasch und in freundlicher Atmosphäre handelseinig – und zwar zu für mich wesentlich günstigeren finanziellen Konditionen, als in den vier Autohäusern, in denen ich zuvor dieselbe Kaufverhandlung bereits geführt hatte. Selbst die Lieferzeit schrumpfte überraschenderweise drastisch. Für mich ist bis heute bemerkenswert, dass nach dem verfahrenen Anfang das unerwartet erzielte Ergebnis keinen Verlierer hinterließ. Beide Seiten waren zufrieden und ich glaube inzwischen, dass noch mehr als ich selbst der Autoverkäufer stolz darauf war, dass ich (bei ihm) eine Lektion zum Umgang mit der Ökonomie begriffen hatte: Nämlich selbstbewusst den eigenen Standpunkt zu benennen.

Seither bin ich der festen Überzeugung, dass es nützlich ist, sich über die vielfältigen Spielregeln der Ökonomie Gedanken zu machen, auch über ungeschriebene. Vermutlich nicht ohne guten Grund wurden bisher z.B. auf dem für manchen Laien unseriös erscheinenden mathematischen Gebiet der „Spieltheorie“ schon acht Wirtschafts-Nobelpreise vergeben. Der letzte im Jahr 2007.

Indem wir in unseren Leitlinien den ökonomischen Aspekt unserer Therapieentscheidungen ausdrücklich anerkennen, tragen wir letztlich zu einer wünschenswerten, angemesseneren Versachlichung der Diskussion in diesem Bereich bei.

Ausgabe 2 - 2010Back

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