FRANZ SOLLINGER, MÜNCHEN
Die Diagnose bearbeiten - Kinder und Jugendliche altersgemäß aufklären

Die Diagnose HIV wird von Neuinfizierten nach wie vor häufig als "Todesurteil" tituliert und löst in der Allgemeinbevölkerung mitunter überzogene und unangemessene Reaktionen gegenüber Betroffenen aus. Vor diesem Hintergrund bleibt die Geheimhaltung auch die häufigste Strategie, mit der Diagnose HIV umzugehen. Bei Familien mit HIV-infizierten Kindern oder Jugendlichen ist diese vielleicht noch ausgeprägter als bei Erwachsenen und schließt vor allem den Betroffenen selbst, also das HIV-infizierte Kind, lange mit ein.

Eltern HIV-infizierter Kinder und Jugendlicher geben als Gründe für die späte Mitteilung der Diagnose

  • die Angst vor sozialer Ausgrenzung des Kindes und der restlichen Familie und
  • die Angst einer emotionalen Überforderung des Kindes

In der medizinischen und psychosozialen Betreuung HIV-infizierter Kinder respektieren wir den Wunsch der Eltern nach Geheimhaltung und sehen in der Bearbeitung der zugrundeliegenden Ängste einen ersten Ansatzpunkt für die Bearbeitung der Diagnose. Hier wird ein Prozess in Gang gesetzt, der in der Diagnosemitteilung (wir sprechen auch von der Aufklärung) an das betroffene Kind ein Teilziel erreicht.

Aber nicht nur dem betroffenen Kind wird die Diagnose lange vorenthalten, sondern auch den Geschwistern, den Verwandten, Freunden der Familie und Sozialisationsinstanzen. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um horizontal oder vertikal infizierte Kinder handelt. Die Gefahr, die die HIV-Diagnose für die soziale Stellung der Familie darstellt, ist allen Eltern vom ersten Tag an schmerzlich bewusst und bestimmt ihr weiteres, angstbesetztes Verhalten. Dabei tritt oft die paradoxe Situation auf, dass sich Familien selbst sozial isolieren.

KINDERGARTEN UND SCHULE INFORMIEREN?

Viele wichtige Entwicklungsstufen und Meilensteine im Lebenslauf eines infizierten Kindes sind für die Eltern oft negativ besetzt. Der Besuch von Kinderkrippe, Kindergarten oder Schule wird dann nicht als Schritt in ein eigenständigeres Leben gesehen, sondern als Gefahr für das installierte Kontroll- und Geheimhaltungssystem der Familie. Das eigene Kind stellt, ungewollt, in seiner offenen und kindlich-naiven Art eine Bedrohung dieses Systems dar.


Abb. 1: Alter bei der Diagnosemitteilung* liegt zwischen 7 und 15 Jahren. Das Durchschnittsalter liegt bei der Diagnosemitteilung bei 10,8 Jahren. Von der Diagnose bis zur Mitteilung ans Kind vergehen im Durchschnitt 6 ? Jahre.


Abb. 2: Von aktuell 58 HIV-infizierten Kindern/Jugendlichen in der Immundefektambulanz des Dr. von Haunerschen Kinderspitals in München sind 60% über ihre Diagnose informiert. In der Gruppe der 13-16 Jährigen sind zwei schwer geistig behinderte Patienten mitgezählt, denen die Diagnose nicht zu vermitteln ist.

Die häufigste Form der Mitteilung legt die Diagnose für eine begrenzte Personengruppe offen. Viele Eltern wählen diesen Weg - zu dem sie rechtlich nicht verpflichtet sind -, um ein theoretisches Ansteckungsrisiko für Dritte zu minimieren. Dabei können die Eltern zwischen zwei Vorgehensweisen wählen. Die vorgreifende Variante ist die, bei der eine Einrichtung bereits vor dem Eintritt informiert wird. Sie birgt das Risiko, dass Einrichtungen die Auseinandersetzung mit der Infektion meiden und eine Ablehnung mit dem Hinweis auf die Belegungssituation aussprechen. Eine andere Form ist die Offenlegung nach einer Eingewöhnungszeit in der Einrichtung. Sie zielt darauf ab, die Einrichtung und das pädagogische Personal mit einem Kind und nicht mit einer Diagnose zu konfrontieren. Die Eröffnung der Diagnose erfolgt erst nach ein paar Wochen. Die Betroffenheit unter dem Personal ist dann natürlich sehr groß. Aber die entstandenen Beziehungen zwischen den pädagogischen Mitarbeitern, dem Kind und seinen Eltern führen dazu, dass eine Auseinandersetzung mit dem Thema HIV/AIDS stattfindet. Eine Ablehnung oder gar ein Ausschluss des Kindes erfolgt nicht mehr.

Andere Familien entscheiden sich, die Diagnose gegenüber Einrichtungen nicht zu offenbaren, was aber zu einem System von Ausreden, Ausflüchten und Lügen führen kann, in das auch das betroffene Kind mit einbezogen werden muss. Das Kind darf z.B. im Kindergarten nicht erzählen, dass es am gestrigen Fehltag zum Kontrolltermin in der Klinik war, sondern muss eine, von den Eltern vorgegebene Lüge verbreiten. Entweder muss das Kind die Tabletten heimlich auf der Toilette einnehmen oder kann nicht mit ins Schullandheim, da sonst bekannt wird, dass es Medikamente einnimmt. Diese Kinder stehen vor der Frage, was hier eine Lüge rechtfertigt. Trotzdem ist es mit den Eltern solidarisch und wird zum uninformierten Geheimnisträger.

SCHRITTWEISE DAS KIND AUFKLÄREN

Viele Eltern versetzen sich in eine passive Rolle und wollen die, möglichst konkrete Frage nach der Diagnose, beantworten, wenn das Kind so weit ist und von sich aus fragt. In einem Familienverband tendiert aber das Kind, um das sich das Geheimnis rankt, eher dazu, das nicht bekannte Geheimnis ebenfalls zu wahren. Sonst würden die Geheimnisträger (Eltern) von ihm schuldhaft in einen Konflikt gestürzt. Die Loyalität und die emotionale Verbundenheit mit den Geheimnisbewahrern hat das größere Gewicht.

Um diesen Mechanismus in der Vermeidung einer schmerzhaften Auseinandersetzung mit der Diagnose HIV zu bearbeiten, thematisieren wir die Aufklärung bei vielen Ambulanzterminen und Familienschulungen. Zudem wird eine schrittweise Aufklärung empfohlen und deren Umsetzung bis zur abschließenden Benennung der Diagnose begleitet.

Für Vorschulkinder geben wir den Eltern das leicht verständliche Bilderbuch "Peter weiß mehr" zur Hand, das bekannte Situationen in der Klinik aufgreift und mit Peter eine Identifikationsfigur anbietet. Die Körperpolizei versinnbildlicht in der Geschichte das Immunsystem und bildet dann für die nächsten Jahre den gemeinsamen Nenner die Kommunikation zwischen Kind, Eltern und Arzt. Die Begriffe HIV oder AIDS tauchen dabei noch nicht auf.

Als nächster Schritt folgt dann die Unterweisung im Umgang mit und in der Versorgung von blutenden Verletzungen. Hier wird frühzeitig darauf abgezielt, dem Kind zu vermitteln, dass es den Kontakt mit Blut durch Dritte vermeiden hilft und sich zur Wundversorgung an explizit benannte Personen in seinem alltäglichen Umfeld wenden soll.

Bis hier ist der Prozess hin zur Mitteilung für die Eltern durch die praktischen Handlungszwänge noch gut nachvollziehbar und ihr primäres Anliegen. Aber anschließend müssen erst die Ressourcen geweckt und gefördert werden, die die Eltern in die Lage versetzen, die Aufklärung zu bewältigen.

Die Unberechenbarkeit der Reaktion des Kindes ist für die Eltern dabei das größte Hemmnis, sich an die Diagnosemitteilung zu wagen. Sie sind in der Regel sehr pessimistisch und entwickeln Vorstellungen von Depressionen und Suizidalität bei ihrem Kind. Die Vermittlung unserer Erfahrungen ist oft ein erster Impuls, dass auch andere Reaktionen denkbar sind. Viele Eltern sind eher ungläubig, wenn wir ihnen von den ersten Fragen aufgeklärter Kinder berichten.

OHNE ELTERN IN GRUPPEN DIE KRANKHEIT BEARBEITEN

Anders als bei den Eltern gilt der erste Gedanke nach der Aufklärung nicht einer verkürzten Lebenserwartung oder einem baldigen Sterben, sondern eher der Dauer der medikamentösen Therapie, den Ursachen der Infektion oder den restlichen Mitwissern. Die Frage nach dem Ansteckungsweg ist dabei für die Eltern diejenige, die mit den größten Ängsten verbunden ist, weil sie Schuldzuweisungen des Kindes erwarten. Diese bleiben aber aus, weil die Jugendlichen ganz objektiv sehen, dass keine Absicht oder Fahrlässigkeit hinter der Transmission liegt.

Für unsere Patienten beginnt mit der Diagnosemitteilung nun der Bearbeitungsprozess, wobei es bis zu einem Jahr dauern kann, bis die medizinischen und psychosozialen Gesprächsangebote in der Klinik auch angefordert werden. Als sehr hilfreich erwiesen sich hier spezielle Gruppenangebote, die die Jugendlichen ohne ihre Eltern besuchen können. Im Gespräch mit anderen Betroffenen erleben sie oft das erste Mal, dass es außer ihnen noch andere Betroffene gibt, die sich mit ähnlichen Problemen beschäftigen müssen. In diesem geschützten Rahmen fällt es dann leichter, sich zu öffnen und sich mit anderen Modellen der Krankheitsbearbeitung zu beschäftigen.

Ohne die Eltern erscheinen die jugendlichen Patienten bei den Veranstaltungen selbständiger und eigenverantwortlicher als in der Klinik. Hier sprechen sie Themen wie ihre beginnende Sexualität, Kinderwunsch, berufliche Ausbildung, etc. unter dem Aspekt ihrer Infektion an. Bei diesen Veranstaltungen geschehen Veränderungen in der Beziehung zwischen Arzt, psychosozialen Mitarbeitern und dem jugendlichen Patienten, in deren Folge die Eltern als Ansprechpartner für medizinische und psychosoziale Fragen immer mehr in den Hintergrund treten und der zukünftige, selbstbestimmte und selbstsichere Umgang mit der HIV-Infektion eingeübt wird.

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