Dr. Dr. Wolfgang Müller, Köln
Wie Aids mich fand: Erinnerungen an fast 30 Jahre Aidsprävention

Ich hatte mir meine berufliche Karriere als Mediziner, die sehr weit gehend von Aids geprägt ist, anfangs ganz anders vorgestellt. Aids kam ungefragt zu mir, als ich die ersten Schritte auf einem ganz anderen beruflichen Weg machte. Aber ich merkte frühzeitig, wie sehr mich dieses Thema packte – und vor allem die mit ihm verbundenen Menschen.

Gewidmet Gerhard, den ich fast 2 Jahre bis zu seinem Aidstod 1993 begleiten durfte.

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Foto: fotolia

In den 70er Jahren beendete ich mein Chemiestudium, hatte aber bereits parallel als Zweitstudium Medizin begonnen, da mir nach meinem späten Coming-Out klar geworden war, dass ich lieber mit Menschen arbeiten wollte, als dass Formeln und Reagenzgläser mein zukünftiges Leben definieren und dominieren sollten. Ich nutzte 1982/83 die Zeit, mehrere Reisen in die USA und speziell nach New York City zu machen. Diese sollten später noch eine für mich damals kaum vorstellbare Bedeutung bekommen...

„Bingo! Mir wurde schnell klar: das war, was ich gesucht hatte.“

Ich fokussierte mich auf die psychologischen und psychosomatischen Aspekte und Ausbildungsangebote in der Medizin und wählte nach dem Staatsexamen Urologie als Fach, in dem ich viel Psychosomatisches vermutete. An der Universitätsklinik Hannover lag ich mit dieser Vermutung aber falsch: dort wurden chirurgische Handwerker gebraucht, für psychologische Aspekte fehlte die Zeit. So entschied ich mich – sehr enttäuscht – etwa 1984, in die Psychiatrie und das damals neue und sehr seltene Teilgebiet Sexualmedizin zu wechseln.

Bingo! Mir wurde schnell klar: das war, was ich gesucht hatte – genau mein Interesse, innovativ, ungewöhnlich, allerdings auch beargwöhnt und voller Fantasien Externer, die sich ausmalten, was wir mit unseren Patienten so alles anstellten. Ich lernte tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und immer mehr über das Unbewusste und Nicht-Rationale, das unser aller Verhalten in höchstem Maße bestimmt. Und ich arbeitete therapeutisch mit unterschiedlichsten Menschen, die ihr Leben neu finden oder sich darin zurechtfinden mussten. Andere Abteilungen der Klinik schickten konsiliarisch ihre Patientinnen und Patienten, bei denen sie sexuelle Probleme vermuteten – und mit denen sie nicht umgehen konnten oder es nicht wagten.

„Ihr Rezept ..... hieß: distanzieren, delegieren, diskriminieren.

So lernte ich die allerersten Menschen mit HIV (damals noch HTLV III genannt) in Niedersachsen kennen, die angesichts kaum vorhandener therapeutischer Optionen und vor allem des in der Bevölkerung extrem hohen Angst- und Panikpegels in großer psychischer Not waren. Sie wurden geschickt, weil ich auch psychologisch etwas von Aids wusste.

Für mich am eindrucksvollsten war aber, wie schlimm viele scheinbar gut ausgebildete Kolleginnen und Kollegen mit diesen Menschen in Not umgingen. Ihr Rezept, ihre eigene Unsicherheit und Unwissenheit zu verstecken hieß: distan- zieren, delegieren, diskriminieren. Die Erzählungen über Erfahrungen gerade im ärztlichen Sektor waren schockierend für mich. Bei weitem am schlimmsten waren die geschilderten Erfahrungen mit Zahnärzten. Niemals hätte ich mir vorher vorstellen können, wie ahnungslos, unmenschlich und irrational sich damals viele Angehörige dieser Berufsgruppen verhielten.

Es war die Zeit der bevölkerungsweiten Hysterie, die sich viele heute wohl kaum mehr vorstellen können. In den Medien wurde zum Teil gezielt gegen angeblich verantwortungslose Gefährdete und Betroffene Stimmung gemacht, so zum Beispiel im SPIEGEL vom schon damals berüchtigten Hans Halter, der wohl selber Arzt war. Die Politik war davon ebenfalls ergriffen: an der Spitze der Scharfmacher, die Argumenten und Fakten nicht zugänglich waren, standen Peter Gauweiler und die politisch Verantwortlichen im Freistaat Bayern. Die alte Seuchenpolitik mit Wegsperren und Isolieren der „Infektionsquellen“ feierte ihre Wiederauferstehung.

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Glücklicherweise setzte sich die Linie des „New Public Health“ als vor allem von der BZgA organisierter gesellschaftlicher Lern- und Überzeugungs-Prozesse durch: durch umfangreiche, langfristig angelegte und miteinander vernetzte Präventionsangebote seitens der BZgA für alle („Gib Aids keine Chance“) und der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH) für die Prävention bei Hauptgefährdeten und Betroffenen. Seit ca. 1986/87 konnte so nachhaltig Wissen, förderliche Einstellungen und vor allem schützendes Verhalten der Gefährdeten erreicht werden – ein erstaunlich starker Prozess, der auch heute nach fast 25 Jahren noch anhält.

„So gehörte ich mit meinem aus heutiger Sicht eher spärlichen Wissen ... plötzlich zu den ,Aidspräventionsexperten‘.“

Zu Beginn meiner beruflichen Kontakte zu Menschen mit Aids im Jahr 1984 war an all dies aber nicht einmal im Traum zu denken. Ich hatte aus dem letzten New York-Aufenthalt ein paar sehr erotisch und zielgruppengerecht gestaltete Safer Sex-Leporellos der „Gay Mens Health Crisis“ mitgebracht, die mir nun in Deutschland einen Wissensvorsprung zum Thema Prävention gaben. Denn zu jenen Zeiten waren uns die USA um mehrere Jahre voraus, sowohl bezüglich des zeitlichen Verlaufs der Epidemie als auch bei den Präventionskonzepten (was sich heute leider komplett umgekehrt hat: Die HIV-Zahlen dort liegen heute um ein Vielfaches über denen in Deutschland, die in Europa zu den niedrigsten gehören).

So gehörte ich mit meinem aus heutiger Sicht eher spärlichen Wissen (das ich allerdings schnell gezielt ergänzte) plötzlich zu den „Aidspräventionsexperten“ in Niedersachsen, wurde in Gremien geholt, schrieb Artikel in Fachzeitschriften und hielt Vorträge – vor allem vor Zahnärzten, eingeladen von deren Kammer! Es war für mich eine ziemlich wilde, aufregend-anstrengende, aber äußerst befriedigende Zeit.

Dann wurde  Anfang 1987 eine Stellenausschreibung der BZgA veröffentlicht, die wie für mich gemacht erschien: Gesucht wurde ein Mediziner, der Wissen und Erfahrung in der Aidsprävention hatte, schriftlich und mündlich darüber kommunizieren konnte und mit den anderen BZgA-Verantwortlichen die frisch gestartete Kampagne „Gib Aids keine Chance“ aufbauen sollte.

Ich bewarb mich zusammen mit über 200 anderen, wurde ausgewählt und begann am 01.07.1987 meine Arbeit in der BZgA in Köln – und wurde bereits kurz darauf zum Referatsleiter und damit zum Verantwortlichen für die gesamte große deutsche Kampagne sowie die Zusammenarbeit mit der DAH bestimmt. Diese höchst anspruchsvolle und spannende (in jedem Wortsinn) Aufgabe hat mich seitdem nicht mehr losgelassen – bis ich sie vor kurzem aus eigener Entscheidung aufgab, weil meine Kraft zur Bewältigung des zu Leistenden nicht mehr reichte.

Ich glaube, dass ich in meinem Beruf etwas gefunden habe, was nur wenige in dieser Form erleben dürfen: eine sich über die Zeit mehrfach radikal verändernde Herausforderung (ohne dass ich meinen Arbeitsplatz wechseln musste) und vor allem die Chance, entscheidend daran mitzuwirken, dass sich wahrscheinlich mehrere zehntausend Menschen in Deutschland NICHT mit HIV infiziert haben.

Dafür bin ich sehr dankbar – und bleibe dem Thema und den Menschen gerne verbunden!




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Dr. Dr. Wolfgang Müller, Köln

Wolfgang Müller schloss 1975 zunächst das Chemie-Studium mit der Promotion an der Universität Hannover ab und studierte anschließend Medizin mit Promotion 1984. Nach klinischer Tätigkeit in der Urologie, Abdominal-Chirurgie, Transplantationschirurgie, Psychiatrie und Sexualmedizin in der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) wurde er 1984 Referent im Referat „Maßnahmen zur Aidsprävention“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Köln (BZgA). Von 1988 bis 31.03.2011 war er Leiter des Referates „Maßnahmen zur Aidsaufklärung“ in der BZgA.


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