Prof. Dr. Elisabeth Pott, Köln
Ein persönlicher Rückblick auf mehr als 25 Jahre AIDS-Prävention

Es ist das Jahr 1985, als die Bundesrepublik Deutschland mit einer neuen, bis dahin völlig unbekannten Seuche konfrontiert wird, der Immunkrankheit AIDS. Die ersten Krankheits- und Todesfälle waren in Deutschland – etwa drei Jahre nach den USA – aufgetreten. Sie sorgten für außergewöhnlich große Beachtung in der Fachwelt und in der Bevölkerung für Angst und Unsicherheit. Neben der tatsächlichen Bedrohung durch das neue Retrovirus HIV, damals noch HTLVIII genannt, entwickelte sich zusätzlich ein ganz anderes Phänomen: Die schnell wachsende Sensationalisierung durch fast sämtliche Medien, die bereits damals von vielen Fachleuten und auch informierten Teilen der Bevölkerung als unangemessen empfunden wurde und die schließlich für beispiellose Hysterie und Panik sorgte.

Gewidmet Ian Schäfer, der als Gründungsvorstand der Deutschen AIDS-Hilfe seit 1985 die Kontakte mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung anbahnte, über Jahre entscheidend mittrug und im November 1989 an AIDS verstarb.

Auf der politischen Ebene wurde vom Deutschen Bundestag eine „Enquête-Kommission“ eingesetzt. Es fand, wie in fast allen westlichen Industrieländern, eine  sehr schwierige kontroverse Auseinandersetzung über die richtige AIDS-Bekämpfungsstrategie statt. Die Verfechter der „alten“ Seuchenstrategie stritten heftig mit den Vertretern der damals erst wenig wissenschaftlich erforschten Präventionsrichtung des „New Public Health“. So gab es auf der einen Seite diejenigen, die sich für die Testung breiter  Bevölkerungsgruppen zur Identifizierung Infizierter und deren Isolierung aussprachen. Auf der anderen Seite stand der Vorschlag, möglichst schnell bevölkerungsweit gesellschaftliche Lernprozesse zu initiieren. Individuen, soziale Gruppen, Institutionen und die gesamte Gesellschaft sollten Verantwortung für sich selbst und andere übernehmen, sich gegenseitig vor Ansteckung und ohne Diskriminierung der Betroffenen auf die Situation mit dem Virus einstellen.

„Allerdings hatte es bis dahin eine alle Kommunikationswege umfassende Aufklärungsstrategie [...] noch nie gegeben.“

Vor diesem Hintergrund erfolgte das Vorgehen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Praktisch gleichzeitig mit dem Auftreten von AIDS in Deutschland habe ich die Leitung der BZgA 1985 übernommen. Gemeinsam mit vielen Verantwortlichen in Wissenschaft und Gesellschaft war die BZgA der Auffassung, dass dieser neuen Bedrohung durch sachliche und auf wissenschaftlichen Informationen gegründete Aufklärung und Prävention begegnet werden musste. Allerdings hatte es bis dahin eine alle Kommunikationswege umfassende Aufklärungsstrategie, die zudem sämtliche Bevölkerungsschichten in der Bundesrepublik Deutschland erreichen muss-te, noch nie gegeben. Entsprechend groß war die Unsicherheit. Noch größer aber waren die Erwartungen, mit denen die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung konfrontiert war.

Um die Bevölkerung möglichst schnell auf den Stand der vorhandenen Erkenntnisse zu informieren, entwickelte die BZgA zunächst das Informationsblatt „Was Sie über AIDS wissen sollten“, das Ende 1985 als Postwurfsendung an alle 27 Millionen Haushaltungen der damaligen Bundesrepublik Deutschland verschickt wurde. Dieses Informationsblatt, das das damals verfügbare Wissen zusammenfasste, sorgte für große Beachtung und der „AIDS“-Schriftzug auf dem Deckblatt mit dem charakteristischen Schattenspiel wurde für mehr als ein Jahrzehnt Erkennungszeichen der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender, wenn diese über das Thema AIDS berichteten.

„Damals gab es für eine solche Kooperation im Gesundheitswesen  allerdings keine Vorbilder – und entsprechend vorsichtig waren die ersten Schritte.“

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1987 · Kampagnen-Logo „Gib AIDS keine Chance“

Das Jahr 1986 war geprägt von der politischen Diskussion über die Notwendigkeit der AIDS-Prävention und ihre angemessene finanzielle Ausstattung. Es wurde deutlich, dass auf absehbare Zeit kein Impfstoff und kein Heilmittel zur Verfügung stehen würden. Zur gleichen Zeit entstand die AIDS-Selbsthilfebewegung, die aus der gerade so weit erstarkten Schwulenbewegung hervorging, dass sie eine tragfähige Struktur für die AIDS-Arbeit mit den Hauptbetroffenengruppen aufbauen konnte. Als Partner für die gesellschaftliche Lernstrategie bot sich deshalb die 1985 gegründete „Deutsche AIDS-Hilfe“ an. Damals gab es für eine solche Kooperation im Gesundheitswesen  allerdings keine Vorbilder – und entsprechend vorsichtig waren die ersten Schritte.

In der medialen Berichterstattung wurden damals AIDS-Betroffene und gefährdete Gruppen häufig als nicht gesellschaftsfähige „Randgruppen“ und als „Schmuddelkinder“ gebrandmarkt. Entsprechend distanziert und skeptisch waren die Vertreter der Deutschen AIDS-Hilfe bei den ersten Kontaktversuchen gegenüber staatlichen Institutionen, zunächst auch gegenüber der BZgA.

Die ersten Kontakte zur Deutschen AIDS-Hilfe fanden auf eher informeller Ebene statt und waren weniger „institutionell“ geprägt. Der Persönlichkeit, die mich damals am meisten beeindruckt hat, habe ich diesen Beitrag gewidmet: Ian Schäfer, einem der Gründungsvorstände der DAH. Für mich persönlich gehörten diese Begegnungen zu den ersten bewussten Kontakten mit offen schwul lebenden Männern. Bereits kurz nach dem Beginn meiner Amtszeit in der BZgA fand Ende 1985 die erste offizielle Einladung an den DAH-Vorstand statt. Kurz darauf begann die Förderung der Deutschen AIDS-Hilfe, damals mit einigen zigtausend DM. Das wichtigste  für das Gelingen dieser Zusammenarbeit war es, das vorhandene Misstrauen und die Skepsis gegenüber der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung als Vertreterin „des Staates“ abzubauen. Durch viele Gespräche und die Entwicklung einer engen Zusammenarbeit wuchs langsam das gegenseitige Verständnis und Vertrauen, das notwendig war, um so schnell und wirksam wie möglich die Aufklärung der unterschiedlichen Zielgruppen zu stärken, Schutzverhalten zu entwickeln und der Diskriminierung der hauptsächlich betroffenen und  besonders gefährdeten Gruppen wirksam entgegenzutreten.

„Dabei zeigte sich sehr schnell, dass eine einfache massenmediale Kampagne mit ausschließlicher Wissensvermittlung bei weitem nicht ausreichte. “

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1987 · „Supermarkt“ Fernsehspot

Es bestand die Herausforderung, eine langfristig angelegte, bevölkerungsweite Präventionskampagne vorzubereiten und umzusetzen. Dafür gab es weder national noch international irgendwelche Vorbilder, so dass wir mit dem damals vorhandenen Expertenwissen arbeiten und dieses kreativ in eine Kampagne nie dagewesener Art und Größe umsetzen mussten. Dabei zeigte sich sehr schnell, dass eine einfache massenmediale Kampagne mit ausschließlicher Wissensvermittlung bei weitem nicht ausreichte. Mit AIDS eng verbundene Themen wie (schwule) Sexualität,  illegaler Drogengebrauch und Persönlichkeits- und Identitätsfragen forderten sehr viel weiter gehende, vor allem auch individuell intensive Auseinandersetzungen. Bis heute ist das Kooperationsmodell zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Stellen, wie es in Deutschland von BZgA und DAH entwickelt wurde, auf allen internationalen Konferenzen Vorbild für Präventionsstrategien in aller Welt und nachgewiesen erfolgreich.

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1993 · „Safer Sex.… sicher!“

1987 wurde von der Bundesregierung das „Sofortprogramm AIDS“ auf den Weg gebracht. Neben großen Modellvorhaben, die beispielsweise die Einrichtung einer qualifizierten AIDS-Beratung und psychosozialen Betreuung an jedem Gesundheitsamt  umfassten, startete die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung im gleichen Jahr die Kampagne „Gib AIDS keine Chance“. Mit  knapp 50 Millionen DM (ca. 25 Millionen  Euro) war sie finanziell angemessen ausgestattet. Ziel der Kampagne war es von Anfang an, alle Bürgerinnen und Bürger zu erreichen und so anzusprechen, dass eine persönliche Auseinandersetzung mit den schwierigen, für viele bedrohlichen und in jedem Fall ungewohnten Themen möglich wurde. So wurde die „gesellschaftliche Lernstrategie“ in die nationale AIDS-Aufklärungskampagne umgesetzt. In diesem Zusammenhang hat die BZgA zusätzlich zur Massenkommunikation die „personale Kommunikationskampagne“ als entscheidenden Baustein von „Gib AIDS keine Chance“ entwickelt.

„Bis heute sind personalkommunikative Angebote ein entscheidender Baustein der Kampagne ,Gib AIDS keine Chance‘. “

Etwa 50 so genannte „Gesprächspartnerinnen“ und „Gesprächspartner“ der BZgA organisierten in den folgenden Jahren flächendeckend in ganz Deutschland AIDS-Präventions-Tage und -Wochen sowie eine Fülle anderer Einzelveranstaltungen in Schulen, auf öffentlichen Plätzen, in Städten, Gemeinden und Regionen. Ein wesentliches Ziel bestand von Anfang an darin, die örtlichen und regionalen Akteure einzubeziehen und so dazu beizutragen, sich effektiver zu vernetzen und die Zusammenarbeit nachhaltig zu verankern. Bis heute sind personalkommunikative Angebote ein entscheidender Baustein der Kampagne „Gib AIDS keine Chance“. Inzwischen ist es wissenschaftlich gesichert, dass personalkommunikative Maßnahmen unverzichtbar  zu einer wirksamen Prävention dazu gehören.

Die vielen unterschiedlichen, manchmal kaum miteinander in Einklang zu bringenden Anforderungen an eine erfolgversprechende Kampagne, die gleichzeitig alle gesellschaftlichen und politischen Sensibilitäten berücksichtigen musste, haben mir und der BZgA immer wieder Gradwanderungen abverlangt. Besonders in Erinnerung ist mir, dass es anfangs kaum möglich war, seitens der BZgA das Wort oder gar ein Bild des zentralen Präventions-Mittels „Kondom“ zu verwenden. Die Sorge, man würde die Öffentlichkeit damit überfordern und unerwünschte Gegenreaktionen hervorrufen, war ausgesprochen groß.

Hinzu kam, dass gerade in den Medien der Deutschen AIDS-Hilfe für eine bis dahin nie direkt angesprochene Zielgruppe mit sehr eigenen Rezeptionsgewohnheiten eine Bilder- und Sprachwelt verwendet werden musste, die einer „staatlichen“ Aufsicht und Abstimmung kaum zugänglich war. Eine Reihe von Skandalisierungen von DAH-Medien begleiteten mich und die Bundeszentrale deshalb insbesondere durch die 80er und 90er Jahre.

„In der ersten Zeit musste das Wort ,Kondome‘ umschrieben werden.“

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2006 · mach’s mit „Gemüsekampagne“

Aber auch für die BZgA selbst und die mit zunächst 10 TV-Spots gestartete Kampagne „Gib AIDS keine Chance“ war diese Hürde zu nehmen. In der ersten Zeit musste das Wort „Kondome“ umschrieben werden. Das kann man sich heute kaum noch vorstellen. Der damals anerkannteste AIDS-Experte, Prof. Luc Montagnier, Leiter des Pasteur-Instituts in Paris, half der Kampagne der BZgA damals auf seine Weise: In einem von uns als TV- und Kino-Spot genutzten Interview wies er erstmals explizit öffentlich auf das Kondom als sichersten und empfehlenswertesten Schutz hin. Nach und nach trug die 1993 von der BZgA gestartete „mach‘s mit“-Kampagne mit ihren Plakatmotiven wesentlich dazu bei, dass Kondome im öffentlichen Raum immer selbstverständlicher wurden. Wenn man heute die „mach’s mit“-Plakate und die entsprechenden Spots der BZgA-AIDS-Kampagne sieht, in denen Kondome öffentlich und widerspruchsfrei als das Mittel der Wahl gegen eine Ansteckung mit HIV und AIDS propagiert werden, muten die damaligen Schwierigkeiten ein wenig seltsam an. Trotzdem waren sie damals sehr real und es war für die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung nicht einfach, damit umzugehen und trotzdem gute Präventionsarbeit zu leisten.

International stand Deutschland mit diesen Schwierigkeiten keineswegs allein da, sondern in praktisch allen europäischen Ländern galt es ähnliche Schwierigkeiten zu überwinden. Deswegen war für die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung die enge Kooperation und der Erfahrungs- und Wissensaustausch mit anderen europäischen aber auch außereuropäischen Ländern von Beginn an ein entscheidendes Vorgehen zur Weiterentwicklung der Kampagne und der Prävention insgesamt.

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2007 · TV-/Kinospot „Beleidigte Kondome”

In den 90er Jahren gab es einen weiteren Durchbruch: Die medizinische Therapie von HIV und AIDS wurde 1996 durch die wirksamen „HAART“-Medikamente revolutioniert. Durch sie konnten viele bereits schwerst erkrankte Menschen wieder zu einem lebenswerten, sogar weitgehend gesunden Leben zurückfinden. Mit den heute zur Verfügung stehenden Behandlungsmethoden können gut versorgte Menschen mit HIV eine fast normale Lebenserwartung erreichen. Dieser Fortschritt ist allerdings oft erkauft durch schwere Nebenwirkungen und nicht zuletzt durch den Zwang, lebenslang sehr regelmäßig teure Medikamente einnehmen zu müssen. Bei allem medizinischen Fortschritt ist klar: Das Leben mit HIV ist möglich, jedoch das Leben ohne HIV sehr viel leichter.

„Kondomnutzung und Kondomverkäufe sowie Kondomakzeptanz [sind] über die Jahre immer weiter gestiegen und heute auf einem Höchststand.“

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2011 · mach’s mit: „Liebesorte”

Auch in der Prävention führten die neuen Medikamente zu einem Umbruch: Das „alte AIDS“ trat kaum noch auf. Es entstand die paradoxe Situation, dass aufgrund der guten Behandelbarkeit immer mehr Menschen mit HIV in Deutschland leben, gleichzeitig die Krankheit aber immer unsichtbarer wurde und damit nicht mehr so gefährlich erscheint. Der  Internationale AIDS-Kongress 2010 in Wien zeigte erneut, welche Herausforderungen AIDS weltweit immer noch darstellt.

Deutschland hat in der AIDS-Prävention mit der Aufklärungs- und gesellschaftlichen Lernstrategie in den vergangenen Jahrzehnten große Erfolge erzielt. Der auf größtmögliche Nachhaltigkeit angelegte Präventionsansatz hat sich bis heute bewährt und in den wichtigen Zielgruppen zu langfristigen und nachhaltigen Verhaltensänderungen geführt. Die Evaluation zeigt, dass Kondomnutzung und Kondomverkäufe sowie Kondomakzeptanz über die Jahre immer weiter gestiegen und heute auf einem Höchststand sind. Die Infektionszahlen in Deutschland sind dementsprechend die zweitniedrigsten in Europa.

Die AIDS-Bekämpfungsstrategie ist inzwischen ein Modell für einen modernen „new public health“-Ansatz in der Prävention geworden. In einer globalisierten Welt, in der AIDS weltweit noch für viele Jahre eine lebensbedrohliche Krankheit darstellen wird, ist es unverzichtbar, mit AIDS-Prävention das Erreichte zu stabilisieren und in Zukunft weiter auszubauen, wenn die bisherigen Erfolge nicht gefährdet werden sollen.

Der Rückblick auf die letzten 25 Jahre und die Erinnerung an herausragende Persönlichkeiten wie Ian Schäfer, ihr Engagement, ihr Leiden und Sterben an AIDS, sind uns dabei Verpflichtung und Ermutigung.




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Prof. Dr. med. Elisabeth Pott, Köln

Direktorin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung

Elisabeth Pott studierte Medizin in Bonn und Kiel und promovierte 1976 in der Gerichtsmedizin. Seit 1981 ist sie Ärztin für öffentliches Gesundheitswesen und wurde im selben Jahr Referatsleiterin im Niedersächsischen Sozialministerium (Gesundheitsvorsorge und -fürsorge im ÖGD). Seit 1986 ist sie Direktorin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Im März 2007 erhielt sie eine Honorarprofessur im Zentrum Öffentliche Gesundheitspflege an der Medizinischen Hochschule Hannover am Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung.


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