„positive stimmen” verschaffen sich Gehör!

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Die einzigartige Studie „positive stimmen“ liefert erstmals aussagekräftige Zahlen zur Diskriminierung von Menschen mit HIV in Deutschland. 40 eigens ausgebildete HIV-Positive haben in über 2.000 Stunden 1.148 andere Menschen mit HIV über ihre Erfahrungen mit Stigmatisierung befragt – und damit zugleich die Interviewten und sich selbst gestärkt. Carolin Vierneisel zieht Bilanz.

Abb. 1Abb. 1

Ausgerechnet im Gesundheitswesen. Gerade dort, wo der Kenntnisstand über HIV besonders hoch sein und Vorurteile keine Chance haben sollten, kommt es häufig zu Diskriminierung von Menschen mit HIV. Rund 20 Prozent der Befragten im  Projekt „positive stimmen“ wurde im Jahr vor der Befragung eine medizinische Behandlung verweigert, zum Beispiel beim Zahnarzt (Abb. 1).

Auch sonst müssen Menschen mit HIV im Alltag nach wie vor mit sozialen Schwierigkeiten rechnen: Knapp 77% hatten im Jahr vor der Befragung Diskriminierung erlebt – von Tratsch über Beleidigungen oder die Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses bis hin zu tätlichen Angriffen.

Mit der Auswertung der Befragung „positive stimmen“ liegen erstmals aussagekräftige Zahlen zu Stigmatisierung und Diskriminierung von Menschen mit HIV vor. Das Projekt ist die deutsche Umsetzung des internationalen „The People living with HIV Stigma Index“, der unter anderem von der HIV-Organisation der Vereinten Nationen, UNAIDS, und dem Globalen Netzwerk von Menschen mit HIV, GNP+, getragen wird. Organisiert wird das Projekt in Deutschland von der Deutschen AIDS-Hilfe, inhaltlich gesteuert von Menschen mit HIV in einem Projektbeirat.

Das Prinzip: HIV-Positive befragen HIV-Positive. So werden nicht nur Stigmatisierung und Diskriminierung sichtbar, sondern gleichzeitig können sich alle Beteiligten mit ihrer Situation auseinandersetzen und Wege zum Umgang damit entwickeln. Forschung und Ermutigung sowie Hilfe zur Selbsthilfe gehen Hand in Hand.

Mehr als 40 HIV-positive Interviewerinnen und Interviewer wurden eigens für die Befragung ausgebildet. 1.148 HIV-Positive haben in persönlichen Gesprächen den international standardisierten Fragebogen beantwortet. Sie bilden die verschiedenen besonders stark von HIV betroffenen Gruppen in Deutschland recht gut ab. Auch wenn Repräsentativität bei Studien zum Leben mit HIV aus verschiedenen Gründen nicht möglich ist, sind die hier erhobenen Daten und Ergebnisse daher weitgehend verallgemeinerbar.

Erfahrungen im sozialen Umfeld

Abb. 2Abb. 2

Insgesamt 13% der Befragten berichten, in den zwölf Monaten vor der Befragung mindestens einmal von einer gesellschaftlichen Zusammenkunft wie Vereinsaktivitäten oder Feierlichkeiten ausgeschlossen worden zu sein, 6% führen dies direkt auf ihre HIV-Infektion zurück. (In den Interviews wurde immer zunächst nach negativen Erfahrungen allgemein gefragt, im nächsten Schritt dann, ob diese eindeutig auf den HIV-Status zurückzuführen waren.)

Ähnliches zeigt sich bei familiären Aktivitäten: 13% aller Befragten berichten von einem Ausschluss, 7% erlebten ihn aufgrund ihrer HIV-Infektion. Auf die Frage, ob andere hinter ihrem Rücken über sie getratscht hätten, antwortet über die Hälfte der Interviewten (55%) mit ja, 31% führen dies direkt auf ihre HIV-Infektion zurück (Abb. 2).

Die geschilderten Erfahrungen machen das Konzept der „HIV-bezogenen Stigmatisierung“ anschaulich, die immer beides umfasst: Stigmatisierung aufgrund von HIV und von Phänomenen, die damit in Verbindung gebracht werden – sexuelle Orientierung, Migrationshintergrund, Drogengebrauch, Sexarbeit. So gaben zum Beispiel viele Befragte Homosexualität als Grund für Ausschlusserfahrungen an.

Erfahrungen im Gesundheitsbereich

Diskriminierung hat Folgen. Besonders deutlich wird das im Gesundheitsbereich. Von den rund 20 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmern, denen in den zwölf Monaten vor der  Befragung eine Gesundheitsleistung verweigert worden war, gaben 18 Prozent an, mindestens einen notwendigen Arztbesuch unterlassen zu haben (insgesamt: 10%).

Erfahrungen im Arbeitsbereich

Fast ein Drittel der in Voll- oder Teilzeit Beschäftigen in der Studie gibt an, ihren Arbeitgeber gegenüber offen mit ihrem HIV-Status umzugehen. 45% der Arbeitgeber haben unterstützend und 29% neutral auf dieses „positive Coming-out“ reagiert – ermutigend hohe Anteile, denen allerdings völlig inakzeptable 26% gegenüberstehen, die diskriminierend reagiert haben. Hier bleibt noch viel zu tun. Gefragt sind positive Beispiele für einen akzeptierenden und unterstützenden Umgang in der Öffentlichkeit.

Abb. 3Abb. 3

Es bleibt festzuhalten: Menschen mit HIV verlieren auch heute noch ihren Job aufgrund HIV-bezogener Diskriminierung (Abb. 3). Diskriminierung führt heute häufiger zur Kündigung als ein schlechter Gesundheitszustand.

Erfahrungen im Bereich Sexualität

Geht es um die Sexualität von Menschen mit HIV, stößt man schnell auf Ängste, Unsicherheiten und offene Fragen. Fast die Hälfte der sexuell aktiven Befragten (47%) berichtete, in den zwölf Monaten vor der Befragung aufgrund der HIV-Infektion im Bereich Sexualität Zurückweisung erfahren zu haben. Solche Erlebnisse können sehr verletzend sein und starke Auswirkungen auf das psychische Gleichgewicht haben, vor allem dann, wenn jemand diese Erfahrung häufiger macht. Dies zeigt sich auch daran, dass 20% der Interviewten im Jahr vor der Befragung mindestens einmal aufgrund ihrer HIV-Infektion auf Sex verzichtet haben.

Die Gründe für Zurückweisung, die HIV-Positive im Bereich Sexualität erfahren, liegen dabei meist in Ängsten und Unsicherheiten der potenziellen Sexpartnerinnen und -partner, die ihr Risiko oft deutlich überschätzen. Auch deswegen ist es wichtig, zu vermitteln, dass HIV-Positive unter wirksamer Therapie nicht infektiös sind.

Verinnerlichung von Stigmatisierung

Abb. 4Abb. 4

Menschen verinnerlichen Normen und Bilder der Gesellschaft, in der sie leben. Gesellschaftliche Bilder von HIV sind mit Unsicherheit, Angst und Bedrohung verbunden. Auch eigene Erfahrungen von Stigmatisierung und Diskriminierung hinterlassen Spuren – die Daten belegen dies deutlich. Viele Menschen mit HIV haben Schuld- und Schamgefühle wegen ihrer Infektion, ein vermindertes Selbstwertgefühl oder erleben depressive Zustände (Abb. 4).

Veränderungen bewirken

Hoffnung machen die Ergebnisse zur Selbstorganisation von Menschen mit HIV: Engagieren lohnt sich – denn wer engagiert ist, setzt sich bei Stigmatisierung und Diskriminierung mit höherer Wahrscheinlichkeit (58%) zur Wehr als Leute, die das nicht sind (36%). HIV-Positive darin zu unterstützen, sich auf kleiner wie auf großer Ebene für ihre eigenen Interessen einsetzen zu können, muss also weiterhin Priorität für alle Akteure im Bereich HIV haben!

Ausblick

Nach der Laufzeit von eineinhalb Jahren geht das Projekt nun zu Ende. Die Arbeit mit den Ergebnissen und den geschaffenen Strukturen beginnt indes gerade erst richtig. Insgesamt 40 außerordentlich engagierte Interviewerinnen und Interviewer sowie eine höhere Sensibilität für das Thema in der (Fach-) Öffentlichkeit bilden eine einzigartige Ausgangsbasis, um Strategien zu entwickeln, mit denen mittel- und langfristig HIV-bezogene Stigmatisierung und Diskriminierung abgebaut werden können. Zu diesem gemeinsamen Vorhaben sind alle eingeladen!

positive-stimmen@dah.aidshilfe.de

Ausgabe 4 - 2012Back

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