Die MiTest Studie
Wie wird das HIV/STI Test- und Beratungsangebot von Migrant_innen in Deutschland genutzt?

rki_logo.jpgMigration kann zu einem erhöhten Risiko hinsichtlich HIV und anderer sexuell übertragbarer Infektionen (STI) führen. Um HIV und andere STI zu vermeiden bzw. frühzeitig erkennen zu können, müssen entsprechende Test- und Beratungsangebote für alle Menschen zugänglich sein. Mit der Frage wie gut sie für zugewanderte Menschen zugänglich sind befasste sich die MiTest-Studie des Robert Koch-Instituts.

Migration und HIV/STI-Prävention: Was wissen wir?

Die epidemiologische Relevanz von HIV-Infektionen bei Migrant_innen in Deutschland zeigt sich unter anderem in den HIV-Meldezahlen. Der Anteil der HIV-Neudiagnosen bei Menschen mit nichtdeutscher Herkunft lag 2013 bei 32%. Knapp die Hälfte (42%) dieser HIV-Infektionen wurden vermutlich in Deutschland erworben.1

Die Forschung liefert bereits vielversprechende Daten. Wir wissen, dass Migrant_innen im Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung vielfach unterversorgt sind.2, 4 Und wir kennen Ursachen für bestehende Zugangsbarrieren wie etwa Sprachbarrieren, soziale Benachteiligung, aufenthaltsrechtliche Bestimmungen, die mangelnde interkulturelle Öffnung des Gesundheitswesens sowie kulturelle Unterschiede im Gesundheitsverständnis und -verhalten.3

Mit partizipativ durchgeführten Studien wie der PaKoMi-Studie7 und der MiSSA-Pilotstudie5, in denen betroffene Gruppen und Gemeinschaften als Forscher_innen in den gesamten Forschungsprozess mit einbezogen wurden, konnten diese Erkenntnisse insbesondere für bestimmte Subgruppen vertieft werden. Jedoch wissen wir zu wenig zu deren spezifischer Vulnerabilität und Bedürfnissen und dazu, welche unter ihnen bisher keinen oder einen eingeschränkten Zugang zu Präventionsangeboten haben.6

Abb. 1 Ziele der MiTest-Studie
Abb. 1 Ziele der MiTest-Studie

Migrant_innen

Unter Migrant_innen verstehen wir Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen nach Deutschland gekommen sind. Ihre Migration kann freiwillig oder erzwungen erfolgt sein, aus wirtschaftlichen, politischen, religiösen, sozialen oder individuellen Gründen. Es ist wichtig, sich der Komplexität des Phänomens „Migration“ bewusst zu sein. Wird das nicht getan, kann es in der Beforschung von Migrant_innen leicht zu Verallgemeinerungen, Stigmatisierung und
rassistischer Diskriminierung kommen. Die der MiTest-Studie zu Grunde liegende Annahme ist, dass ein erhöhtes HIV/STI-Risiko sich nicht per se aus dem Status „Migrant_in“ ergibt. Ausschlaggebend ist vielmehr ein erhöhtes Risikoverhalten, das im Zusammenhang mit Migration entstehen kann, aber nicht muss.

Die MiTest-Studie

Abb. 2 Verteilung der teilnehmenden Einrichtungen insgesamt
Abb. 2 Verteilung der teilnehmenden Einrichtungen insgesamt

Das RKI hat 2014/15 die MiTest-Studie zur HIV/STI-Test und -Beratungspraxis in Deutschland in Bezug auf Migrant_innen durchgeführt. Sie sollte einen Gesamtüberblick ohne Fokus auf bestimmte Zielgruppen und Regionen geben.

Was haben wir gemacht?

Es wurden Fokusgruppen (qualitative Methode) organisiert, um gemeinsam mit Praxispartner_innen derzeitige Zugangsbarrieren und Ansätze zur Beseitigung dieser Barrieren zu diskutieren. Sie fanden in Berlin, Frankfurt am Main und Offenbach, Hamburg, Köln, München und Stuttgart statt.

Praxispartner_innen waren Berater_innen, Sprach- und Kulturmittler_innen und andere Mitarbeiter_innen der HIV/STI-Testung und -Beratung sowie Mitarbeiter_innen aus migrant_innenspezifischen Einrichtungen. Aus der hausärztlichen und gynäkologischen Versorgung nahmen einige Schwerpunktärzt_innen an der Studie teil.

Ergänzend wurden Fragebögen (quantitative Methode) eingesetzt, mit denen detaillierte Informationen zum Angebot derjenigen Einrichtungen gewonnen wurden, die eine Testung anbieten.

Anschließend kamen Fokusgruppenteilnehmende aus allen Städten in Berlin zu einem Workshop zusammen. Hier wurden die Ergebnisse der Fokusgruppen vorgestellt und Erkenntnisse regionen- und einrichtungsübergreifend als Grundlage für die Entwicklung von Empfehlungen zusammengetragen.

Ergebnisse der MiTest-Studie

Abb. 3 Studienablauf
Abb. 3 Studienablauf

Alle Beteiligten beschrieben ähnliche Herausforderungen hinsichtlich der Inanspruchnahme der Angebote durch bestimmte Migrant_innengruppen – trotz der unterschiedlichen Migrant_innenpopulationen und Angebotsstrukturen. In allen untersuchten Städten gab es vielversprechende Ansätze, die von Migrant_innen wahrgenommen wurden. Orte und Menschen, bei denen eine erhöhte Vulnerabilität vermutet wurde, wurden gezielt aufgesucht (z.B. Settings der Sexarbeit und des i.v.-Drogengebrauchs, Asylunterkünfte und Frauentreffs). Die Praxiserfahrung der Einrichtungen zeigte, dass als „schwer erreichbar“ gekennzeichnete Populationen mit den richtigen Angeboten erreicht werden können.

Dennoch gab es für bestimmte Subpopulation von Migrant_innen Einschränkungen im Zugang zu HIV/STI-Beratung und Testung. In den Fokusgruppen wurde beschrieben, dass Männer aus der russischen Föderation, der Ukraine, Osteuropa, der Türkei und aus dem arabischen Raum, sowie afrikanische, asiatische, rumänische und bulgarische Frauen nicht immer erreicht würden. Die Teilnehmenden legten dabei großen Wert auf eine Differenzierung von Migrant_innen über das Merkmal „Herkunft“ hinaus, denn wie alle Menschen haben Migrant_innen immer mehrere Identitäten: Die genannten Männer aus der Ukraine waren zum Beispiel drogenkonsumierende Sexarbeiter ohne schwule Identität, die asiatischen Frauen sehr junge, als Au-Pair eingereiste Mädchen, die wenig Wissen zu HIV haben. Mit den rumänischen Frauen waren diejenigen gemeint, die aus der Not heraus in der Sexarbeit tätig sind und sich daher nicht als Sexarbeiterinnen outen möchten. Und bei den Männern aus der Türkei und dem arabischen Raum war die Rede von Menschen der zweiten oder dritten Einwanderungsgeneration, die sich zwischen zwei Kulturen bewegen und auf der Suche nach ihrer sexuellen Identität sind. Es handelte sich also um viele verschiedene und ineinander verwobene Faktoren und Identitäten.

Die Teilnehmenden beschrieben, dass es unterschiedliche Zugangsbarrieren auf unterschiedlichen Ebenen gäbe. Politische und rechtliche Faktoren („Rahmenbedingungen“) spielen ebenso eine Rolle wie die HIV/STI-Test und -Beratungseinrichtungen („Angebote“) und die Lebensumstände von Migrant_innen („Nutzung“). In der folgenden Tabelle sind die beschriebenen Barrieren dargestellt.

Es wurde als dringender Handlungsbedarf beschrieben, Barrieren abzubauen und allen Migrant_innen einen uneingeschränkten Zugang zur HIV-/STI-Testung und Beratung zu ermöglichen. Der Idealzustand sei dabei eine Situation, in der alle Migrant_innen „genau wie alle anderen zu uns kommen“.

Was sagen uns die Ergebnisse?

Tab. 1 Ergebnisse der Fokusgruppendiskussionen: Barrieren zu HIV-/STI-Test-und Beratungsangeboten für Migrantinnen
Tab. 1 Ergebnisse der Fokusgruppendiskussionen: Barrieren zu HIV-/STI-Test-und Beratungsangeboten für Migrantinnen

Sprach- und Kulturmittlung

Es war sinnvoll, auch Sprach- und Kulturmittler_innen als Expert_innen in die Forschung mit einzubeziehen. Denn sie haben eine zentrale Rolle in der HIV/STI-Beratung und -Testung. Ihre Arbeit ist bisher nicht ausreichend geschätzt und nicht als zentraler Bestandteil bei der Beratung von Migrant_innen mit fehlenden Deutschkenntnissen anerkannt. Das zeigen die Schwierigkeiten in der Finanzierung von Sprach- und Kulturmittlung. Zudem sollte ihre Kompetenz über eine sprachliche hinausgehen, denn der Aspekt der Kulturmittlung und ein inhaltliches Verständnis der Thematik sind ebenso wichtig wie die Vermittlung der Sprache. Sprach- und Kulturmittler_innen sind im Stande auch nicht-verbalisierte Aspekte wahrzunehmen und Vertrauen durch Identifikation zu schaffen, was dem
Gespräch einen wichtigen Mehrwert gibt.

Identität

Aus der Komplexität der Faktoren, die einen Einfluss auf die Zugänglichkeit von Angeboten haben, ergab sich folgende Erkenntnis: Angebote für bestimmte Gruppen erreichen nicht diejenigen, die sich nicht mit diesen Gruppen identifizieren. Angebote werden vor allem dann angenommen, wenn sie die Menschen mit ihrer selbst zugeschriebenen Identität ansprechen und nicht wenn umgekehrt von außen Identitäten für bestimmte Gruppen festgelegt werden. In der Konzeption von Projekten ist dies jedoch die gängige Praxis. Der Aspekt der Selbst-identität sollte aufgegriffen werden und eine stärkere Rolle in der zukünftigen Planung von Projekten spielen. Partizipation, also Teilhabe von Migrant_innen sowohl in der Forschung als auch in den Beratungsstellen, ist dabei eine wichtige Methode. Denn wichtig ist es, Angebote zu schaffen, die dem tatsächlichen Bedarf entsprechen. Ein gutes Angebot holt Menschen dort ab, wo sie gerade stehen. Dafür ist ein hohes Maß an Sensibilität und Offenheit gefragt.

Möglichkeiten, um Zugangsbarrieren abzubauen

Durch Sensibilisierung des Personals in Test-, Beratungs-, und Versorgungseinrichtungen für das Thema sexuelle Gesundheit und HIV sowie durch Förderung der Kultursensibilität kann der Abbau von Diskriminierung und Stigmatisierung in Bezug auf Migration und HIV gefördert werden. Dabei kommt der Etablierung einer Willkommenskultur in den Einrichtungen eine ganz wesentliche Rolle zu. Wichtig ist es, hier den Fokus auf die Ressourcen der Migrant_innen zu setzen, und nicht auf deren Defizite auszurichten.

Bedarfsangepasste Angebote könnten durch die Einbindung von Migrant_innen in die Ermittlung von Handlungsbedarfen und -möglichkeiten besser konzipiert werden. Auch könnte durch Qualitätssicherung und die wissenschaftliche Begleitung von Maßnahmen eine kontinuierliche Bedarfsermittlung erfolgen und somit Angebote besser an die dynamische Situation angepasst werden. Die Schaffung von Identifikationsflächen durch Kultur- und Sprachmittlung, Migrant_innen in den Test- und Beratungsteams, niedrigschwellige Angebote und gezielte Ansprache durch aufsuchende Arbeit haben das Potential, Menschen den Zugang zu HIV/STI-Test und -Beratungseinrichtungen zu erleichtern.

Diese Maßnahmen sind natürlich nur umsetzbar, wenn die finanzielle und personelle Ausstattung in den HIV/STI Präventionseinrichtungen ausreichend sind.

Ausblick

Die Gespräche in den Fokusgruppen zeigten auf, dass alle Beteiligten mit ähnlichen Problemen und Barrieren konfrontiert sind und „etwas passieren muss“. Es sei sinnvoll, sich gut funktionierende „Leuchtturmprojekte“ als Beispiele anzusehen und weiterhin zusammenzuarbeiten. Einem gut funktionierenden Netzwerk kommt dabei eine wesentliche Bedeutung zu. Dabei sollten verschiedene Akteur_innen aus der HIV-/STI-Testung und Beratung, der Migrant_innenberatung und der Ärzteschaft eingebunden sein.

Forschungsbedarfe ergeben sich aus den offenen Fragen der Fokusgruppenteilnehmenden:

  • Wie können wir besser mit der Tabuisierung von Sexualität, Risikoverhalten, Coming-Out und sexueller Identität umgehen?
  • Selbstreflexion: Was können wir verbessern? Welche Rolle spielen wir?
  • Wie können wir unser Wissen zu relevanten Gruppen verbessern (Lebenswelt, rechtliche Aspekte etc.) und ein Bewusstsein für die Thematik schaffen (bei Migrant_innen und sowohl medizinischem als auch Betreuungspersonal)?

Die MiTest-Studie machte deutlich, dass es bereits an vielen Stellen gute Ansätze und einen reflektierten Umgang mit den Themen Migration und HIV/STI gibt. Durch die heterogene Zusammensetzung der Fokusgruppen konnten Problemfelder detailliert beschrieben und Möglichkeiten zu deren Beseitigung konkretisiert werden. Die Ergebnisse der Fokusgruppen und des abschließenden Workshops sind eine gute Basis für die Entwicklung von Praxisempfehlungen, um diese guten Beispiele und auch neue Ansätze noch breiter in Deutschland zu verankern.

Die MiTest-Studie wurde vom Robert Koch-Institut unter der Studienleitung von Frau Dr. Claudia Santos-Hövener und der fachlich und methodischen Beratung von Frau Dr. Viviane Bremer, Herr Dr. Klaus Jansen und Frau Gyde Steffen durchgeführt. Wir danken allen Kolleg_innen der teilnehmenden Einrichtungen.



1 RKI, HIV-Infektionen und AIDS-Erkrankungen in Deutschland – Bericht zur Entwicklung im Jahr 2013 aus dem Robert Koch-Institut. Epidemiologisches Bulletin, 2014(26).

2 Spallek J, R.O.) Gesundheit von Migranten: Defizite im Bereich der Prävention. Med Klein 2007.102:p.451-456.

3 Borde T, D.M., ed. Gut versorgt? Migrantinnen und Migranten im Gesundheits- und Sozialwesen. 2003, Mabuse: Frankfurt.

4 Nitschke, H., F. Oliveira, and A. Knappik, Seismograph für Migration und Versorgungsdefizite – STD-Sprechstunde im Gesundheitsamt. Gesundheitswesen, 2011. 73(03): p. V20.

5 Santos-Hovener, C., et al., Determinants of HIV, viral hepatitis and STI prevention needs among African migrants in Germany; a cross-sectional survey on knowledge, attitudes, behaviors and practices. BMC Public Health, 2015. 15(1): p. 753.

6 von Unger, H., et al., Stärkung von Gemeinschaften: Partizipative Forschung zu HIV-Prävention mit Migrant/innen. Prävention und Gesundheitsförderung, 2013. 8(3): p. 171-180.

7. von Unger, H.G., T, PaKoMi_Handbuch. HIV-Prävention für & mit Migrant/inn/en. 2011.


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