Internationale Aids-konferenz 2018
Beschleunigung mit Vollbremsung

Dolutegravir sollte gerade weltweit Standard in der First-Line-Therapie werden. Dann gab es Fehlbildungen bei Neugeborenen. Ergebnis: Eine ethische Zwickmühle. Und die Forderung nach Selbstbestimmung.

Am 18. Mai 2018 gaben die WHO1 sowie die US-amerikanische und Europäische Zulassungsbehörden2 eine Warnung vor der Einnahme von Dolutegravir (DTG) durch Frauen im gebährfähigen Alter heraus. Kurz zuvor war in Botswana über Fehlbildungen bei vier Neugeborenen berichtet worden, deren Mütter mit Dolutegravir gegen HIV behandelt worden waren.

Die Organisationen zogen aus diesem „möglichen Sicherheitsproblem“ folgenden Schluss: Frauen, die schwanger werden möchten, sollten die Einnahme von Dolutegravir vermeiden. Frauen, die schwanger werden könnten, sollten eine sichere Verhütungsmethode anwenden oder auf ein anderes Medikament ausweichen. Aber sowohl gleichwertige Alternativen zu Dolutegravir als auch sichere Verhütungsmethoden sind in vielen Ländern nicht erhältlich.

In Industrieländern wird die Therapieentscheidung für Frauen individuell getroffen werden können. In entwicklungsschwächeren Ländern jedoch werden wahrscheinlich die Gesundheitsbehörden entscheiden, ob DTG oder Efavirenz (EFV) für Frauen im gebärfähigen Alter eingesetzt wird.

Rückschritt bei der weltweiten HIV-Behandlung

Diese Empfehlung dreht die Uhren bei der weltweiten HIV-Behandlung zurück. Gerade hatte man sich vom nebenwirkungsreichen EFV als Standard verabschiedet. Die WHO hatte ihre Empfehlungen kurz vor der Welt-Aids-Konferenz in Amsterdam entsprechend geändert: Dolutegravir/Tenofovir/Lamivudin sollte nun bei der ersten Therapie Standard werden und auch zu dem Ziel beitragen, dass möglichst alle HIV-positiven Menschen sofort behandelt werden.

Grundsätzlich steht mit Dolutegravir ein in vielerlei Hinsicht besseres Medikament zur Verfügung. Integrasehemmer zeichnen sich durch hohe Wirksamkeit, wenig Nebenwirkungen und Wechselwirkungen aus. Dies habe auch eine geringere Zahl von Therapieabbrüchen zur Folge, hatte die WHO betont. DTG hat zudem eine hohe Resistenzbarriere.

Für weite Teile der Welt hat DTG noch einen zusätzlichen unschlagbaren Vorteil: Die Herstellerfirma ViiV hat das Medikament in den weltweiten Patentpool gestellt. Es ist daher – obwohl noch nicht lange auf dem Markt – in den einkommensschwächeren Ländern als günstiges Generikum erhältlich. Das Patent kommt nur in den reicheren Ländern zur Wirkung.

Botswana hatte die Kombination 2016 als eines der ersten wirtschaftsschwächeren Länder eingeführt. Der erhoffte Nutzen für die Patient_innen: mehr Teilhabe am öffentlichen Leben, eine bessere Arbeitsfähigkeit, mehr Lebensqualität, mehr Behandelte unter der Nachweisgrenze, dadurch auch besserer Schutz von Sexualpartner_innen und ungeborenen Kindern.

Wie hoch ist das Risiko wirklich?

Und nun das: Fehlbildungen bei Neugeborenen. Aber lag es wirklich an Dolutegravir? Und wie hoch ist das Risiko? Was ist daraus zu folgern? Diese Fragen waren bei der Welt-Aids-Konferenz in Amsterdam eines der meistdiskutierten Themen.

Rebecca Zash vom Aids-Forschungszentrum der Harvard-Universität berichtete von vier Kindern, die in Botswana mit „neural tube defects“ (NTDs) zur Welt gekommen waren. Gemeint ist ein „offener Rücken“ (spina bifida), das heißt der Rückenmarkkanal hat sich nicht geschlossen.

Diese Fehlbildung entsteht in den ersten Wochen der Schwangerschaft und tritt normalerweise bei einem von 1.000 Kindern auf. In der Tsepamo Study (Botswana) waren es zunächst 4 Fälle bei etwas über 400 Neugeborenen, deren Mütter Dolutegravir eingenommen hatten. Das entspricht einer erhöhten Wahrscheinlichkeit von 0,96% gegenüber 0,12% ohne Dolutegravir.

Vier Fälle können Zufall sein – oder der Hinweis auf ein grundlegendes Problem. Rebecca Zash und ihre Kolleginnen beobachten daher weiter. Im Juli 2018 waren 596 Geburten erfasst. Es trat kein weiterer Fall auf. Daher ist die Rate auf 0,67% gesunken. Im nächsten Frühjahr will man sagen können, ob sich der Anfangsverdacht gegenüber DTG erhärtet oder auflöst.

Die WHO stellte ihre Empfehlungen trotzdem sofort um. Die Warnung gleicht damit einer Vollbremsung während des Beschleunigungsvorgangs. Nebenwirkung: vollkommene Verunsicherung aller Beteiligten. Die schnelle Reaktion auf eine noch unsichere Datenlage wurde in Amsterdam immer wieder scharf kritisiert.

Was aber würde die Rolle rückwärts konkret für Folgen haben?

Caitlin Dugdale vom Medical Practice Evaluation Center in Massachusetts hat in einem Modell dargestellt, was in Südafrika über fünf Jahre passieren könnte, wenn DTG statt EFV eingesetzt würde. Auf Basis der unterschiedlichen Wirksamkeit der Therapien – mit DTG erreichen 94% eine effektive Therapie, mit Efavirenz 86% – würden 28.400 Frauen weniger sterben, 52.800 Sexualpartner und 5.000 Kinder bei der Geburt mehr würden sich nicht infizieren. Auf der anderen Seite der Bilanz stünden demnach vermutlich 10.000 Kinder mit Neuralrohrdefekt. Die meisten von ihnen würden sterben.

Ein dramatisches ethisches Dilemma: Das Leben der Frau wird gegen das Wohl des Kindes abgewogen. Zugleich steht eine ganz andere Frage im Raum: Wer hat welche Informationen? Wer hat welche Wahl? Und wer darf was entscheiden?

Und was ist mit dem Recht auf Selbstbestimmung?

Hände mit Herz

Mit dem Vortrag von Lynne Mofenson von der Elizabeth Glaser Pediatric AIDS Foundation aus den USA begann eine Verbindung zum historischen Kampf der Frauen um ihre Rechte und ihre Körper deutlich zu werden. Maggie Little von der Georgetown Universität betonte: „Gebärfähige Frauen sollten nicht als bloße Reproduktionsmaschinen gesehen werden.“

Es ist Teil des Dilemmas, dass die Frau das bessere oder schlechtere Medikament für sich bekommt, weil sie schwanger werden KÖNNTE. Die Fehlbildung wird schon ausgelöst, wenn die meisten Frauen noch nichts von ihrer Schwangerschaft wissen. Das Medikament rechtzeitig abzusetzen, ist daher nicht möglich.

Ziel könnte nun sein, diese Komplexität des Problems in gut verständliche Kommunikation zu überführen, so dass die Frauen eine informierte Entscheidung für sich treffen können. Doch stattdessen, so die Kritik aus der Community, werden rasch Empfehlungen und Therapierichtlinien geändert, unabhängig von den betroffenen Menschen und ihren Bedürfnissen.

In Kenia formiert sich bereits Widerstand. Dort hat das Gesundheitsministerium im Juli allen Frauen im reproduktionsfähigen Alter den Zugang zu DTG versperrt. HIV-positive Frauen planen laut Daily Nation dagegen zu klagen: „Wir haben vom Zugang zu einem Medikament wie DTG geträumt. Wenn die Regierung eine Entscheidung über uns fällt, ohne uns einzubeziehen, ist das ein Verstoß gegen unsere Grundrechte”, zitiert das Blatt Patricia Asero, Vize-Vorsitzende der International Community of women living with HIV Kenya.

Als Community-Vertreterin sprach in Amsterdam Martha Akello zum Thema (auch wenn sie bezeichnenderweise im Programmheft nicht genannt wurde). Ihre Position: Die Mitarbeiter_innen im Gesundheitswesen sollten darauf bauen, dass Frauen die für sie beste Entscheidung treffen, wenn sie nur mit allen nötigen Informationen versorgt werden. Denn Frauen wollten in aller Regel das Beste für sich und ihr Kind.

Laut Martha Akello erwägen derweil manche Frauen bereits Sterilisationen, um das Etikett „gebährfähig“ zu umgehen und das bessere Medikament zu bekommen. Damit wird ein wesentlicher Mangel deutlich: der Zugang zu adäquaten Verhütungsmöglichkeiten.

Im Verlauf der Diskussion wurde deutlich: Das Dilemma darf weder zu einem Boxkampf zwischen Frau und Kind werden noch zu einer Entscheidung, die Gesundheitsbehörden über Frauen treffen.

Es geht zuerst einmal um die HIV-positive Frau, um ihre Gesundheit und ihre Lebensqualität. Und um die Möglichkeit, überhaupt eine Wahl zu haben. Diese Wahl sollte eigentlich auch keine zwischen Efavirenz und Dolutegravir sein, und schon gar keine zwischen der eigenen Gesundheit und dem des potentiellen Kindes. Aber wenn solche Entscheidungen getroffen werden müssen, weil andere Medikamente nicht zur Verfügung stehen, dann sollten sie von den Menschen, um die es geht, selbst getroffen werden dürfen.


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