Cross/Transgender-isms

In der klassischen antiken Kultur existierte noch die Vorstellung eines Zwitterwesens, das sowohl männlich wie weiblich war – aber kein Hermaphrodit im üblichen Sinn, sondern vielmehr eine Art siamesischer Zwilling: „ ... die ganze Gestalt jedes Menschen war damals rund, und der Rücken und die Seiten bildeten eine Kugel. Der Mensch hatte also vier Hände und vier Füße, zwei Gesichter drehten sich am Halse, und zwischen beiden Gesichtern stak ein Kopf, aber der Kopf hatte vier Ohren. Der Mensch besaß die Schamteile doppelt ... „, wie er in Platons „Gastmahl“ beschrieben wird.

In vielen Kulturen auf der ganzen Welt gibt es in der Gesellschaft traditionell verankerte Gruppen, die die Geschlechterrolle wechseln, sei es durch körperliche Eingriffe, sei es durch eine Form der Proklamation. In den westlichen Ländern sind solche Gruppen kaum vertreten, die bekannteste sind die sogenannten „eingeschworenen Jungfrauen“ in Albanien, bei denen ein Mädchen unter bestimmten Bedingungen (Verweigerung der Verheiratung oder Fehlen eines biologischen Mannes als Familienoberhaupt) offiziell zum Mann wird und als solcher auch anerkannt wird.

Während in den traditionellen Kulturen auch die Idee von Transgenderismus oder Transsexualität in der Regel von festen Rollenverständnissen und sozialen Funktionen geprägt ist, entwickelte sich in den modernen westlichen Gesellschaften eine Vielzahl von Erscheinungen und Bezeichnungen, bei denen sich die Grenzen zwischen anatomischer und seelischer Geschlechtsidentität oft verwischen. Verschiedene Begriffe wie Intersexualität, Intergeschlecht, pansexuell usw. werden oft mit unterschiedlichen Definitionen und Zusammenhängen verwendet. Diese Vielfalt zeigt, dass es für viele dieser Menschen schwierig oder nicht möglich ist, auszudrücken, als „was“ sie sich eigentlich fühlen bzw. wahrgenommen werden möchten.

Zwei Musiker, die Transgenderismus – mit sehr unterschiedlichen Ansätzen – auch als politische Aussage und Kunstform begreifen, sind der Musiker und DJ Terre Thaemlitz und der Musiker und Performance-Künstler Genesis Breyer P-Orridge.

Terre Thaemlitz

Terre Thaemlitz, 2000
Terre Thaemlitz, 2000

Thaemlitz wurde 1968 in einer Kleinstadt in Minnesota geboren und wuchs in Springfield, Missouri auf. Er studierte an der Cooper Union School of Art in New York, ihr Hauptinteresse galt jedoch schon früh der Musik, und als „DJ Sprinkles“ wurde er in New Yorks Transvestiten- und Transsexuellen-Clubs bekannt. Das Alias ist zum einen eine Anspielung auf Annie Sprinkle, die in den 90ern durch ihre erotisch-pornografischen Performances und Sex-Workshops bekannt wurde. Zum anderen ist es zu lesen als „Spritzer“, was als Anspielung auf die männliche Sexualität gedeutet werden kann. Diese Verweigerung einer eindeutigen Zuordnung bzw. geschlechtlichen Identität – stattdessen die Strategie eines Changierens dazwischen – kann als paradigmatisch für Thaemlitz Haltung gegenüber Transgenderismus gesehen werden.

Thaemlitz Musik wird vor allem durch die Technik des Samplings erzeugt, bei der Fragmente aus bestehenden Musikstücken aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst, klanglich bearbeitet und mit anderen Bruchstücken verbunden oder überlagert werden. In diesem neuen Kontext erhalten sie quasi weitere „Identitäten“. Das Ziel dabei ist, eine Ambivalenz und Instabilität zu erreichen, die eine Analogie zwischen musikalischen Strukturen und bestehenden sozialen Verwerfungen herstellt. Dabei geht es Thaemlitz jedoch nicht darum, eine Transzendenz zu erreichen, oder „andere Vagheiten, die dazu dienen, die sozialen Kontexte der Produzenten und Hörer zu verleugnen, um die Musik auf das masturbatorische Level subjektiver Introspektion zu reduzieren“. Vielmehr möchte Thaemlitz die oft verleugneten sozialen und politischen Kräfte offenlegen, die Einfluss auf die Konstruktionen von Identität, Geschlechtsrolle und Sexualität nehmen, um sie ihren Zwängen zu unterwerfen. CD- und Songtitel wie „Queer National Trust“, „Taking Stock in Our Pride“, „Meditation on Wage Labor and the Death of the Album“ und „Genrecide“ sprechen in diesem Zusammenhang auch die ökonomischen Zwänge an, denen nicht nur Transgender-Menschen unterliegen.

Abb. aus dem Booklet zu „Replica Rubato“, 1999
Abb. aus dem Booklet zu „Replica Rubato“, 1999

Thaemlitz kritisiert aber auch Vertreter der Transgender-Bewegung, denen sie vorwirft, vor allem an „Passability“ interessiert zu sein, also um das Ziel, als Mann oder Frau akzeptiert zu werden. Eine Checkbox „Transgender“ als Alternative zu „Mann“ oder „Frau“ ist für Thaemlitz daher kein Zeichen einer öffentlichen Akzeptanz, sondern vielmehr das Gegenteil: der erneute Zwang, sich für eine soziale Identität entscheiden zu müssen. Darunter fallen auch Dualismen wie schwul versus nicht-schwul, Gesellschaft versus Natur, Mann versus Frau.

Identität ist für Thaemlitz etwas primar Instabiles und Ambivalentes, auf dem ein sozialer und besonders auch ein ökonomischer Druck wirkt, der Menschen dazu zwingt, den biologischen Körper und die Persönlichkeit „zuschreibbar“ zu machen. Thaemlitz begreift seine Form des Transgenderism als ein Nichtfestlegen – als Chance, sich all diesen Zwängen zu verweigern,  und auch denen der eigenen – anpassungwilligen – Community.

Genesis Breyer P-Orridge

Genesis und Lady Jaye Breyer P-Orridge mit P-Orridges Töchtern aus erster Ehe
Genesis und Lady Jaye Breyer P-Orridge mit P-Orridges Töchtern aus erster Ehe

Genesis und Lady Jaye Breyer P-Orridge
Genesis und Lady Jaye Breyer P-Orridge

Einen ganz anderen Ansatz des Transgenderismus verfolgt Genesis Breyer P-Orridge. Geboren 1950 in Manchester als Neil Andrew Megson, nannte er sich Mitte der 60er Jahre in „Genesis P-Orridge“ um, und ergänzte diesen später durch „Breyer“, den Namen seiner zweiten Ehefrau Jacqueline Breyer.

Genesis Breyer P-Orridge wurde zunächst durch Performances mit der Stripperin und Künstlerin Cosey Fanni Tutti unter dem Namen „COUM Transmissions“ bekannt, wobei pornografische Zitate sowie Blut und Exkremente beliebte Elemente waren. Anlässlich der Ausstellung „Prostitution“  im Londoner Institute of Contemporary Arts 1976 bezeichnete sie ein Abgeordneter als „Wreckers of Civilization“ – „Zerstörer der Zivilisation“.

Seinen Durchbruch hatte P-Orridge in den 70er Jahren mit der Gruppe „Throbbing Gristle“, die den Begriff „Industrial Music“ prägte. Themen wie Faschismus, Okkultismus, Pädophilie und Pornografie waren zentrale Themen. Die Motivation der Band dahinter war jedoch politisch: „Wir sind interessiert an Information, wir sind nicht interessiert an Musik als solcher. Und wir glauben, dass das zentrale Feld der Auseinandersetzung, wenn es ein solches unter Menschen gibt, die Information ist.“ Nach deren Auflösung gründete P-Orridge die Gruppe „Psychic TV“, die einen ähnlichen Ansatz verfolgte, und mit anderen Musikern das okkulte Künstlerkollektiv „Thee Temple Ov Psychick Youth“.

S/He

Seit Mitte der 90er Jahre konzentrierte P-Orridge sich verstärkt auf die Themen Transgender, Sexualität, Crossdressing, Radical-Queer, Pornographie und Sexualmagie. Im Jahr 2000 beginnt er zusammen mit Jaqueline Breyer, seiner zweiten Ehefrau, sein bislang radikalstes Projekt, Ziel der beiden ist, gemeinsam ein „pandrogynes“ Zwitterwesen zu schaffen:

„Der Körper ist nicht heilig. Er ist, wie Lady Jaye (Jaqueline Breyer) immer sagte, „ein billiger Koffer“. Und er trägt das wahre Ich herum, welches dein Bewusstsein ist, dein Geist, deine Gedanken, Hoffnungen und Träume. Natürlich sollte der Behälter so wundervoll und erstaunlich und fantasievoll sein, wie man ihn nur machen kann.“

P-Orridges Transgender-Ansatz verfolgt also nicht die Überwindung eines geschlechtlichen Dualismus, sondern vielmehr dessen lebendige Bestätigung durch einen künstlichen Eingriff. In der Folge ließen sich P-Orridge und seine Frau als „S/He” zur Mann/Frau umwandeln. Dies geschah durch vorwiegend chirurgische Eingriffe wie Brustimplantate, Fettabsaugungen, Hautstraffung usw., um äußerlich einander immer mehr zu ähneln. Das Projekt wurde 2007 jäh beendet, als Lady Jaye überraschend an Magenkrebs starb.

P-Orridge äußerte sich einmal folgendermaßen zu seinen theologischen Ansichten: „Wir waren wirklich nur zwei Teile eines einzigen Ganzen, das Pandrogyn war das Ganze und wir waren füreinander die andere Hälfte.“ Das Projekt S/He wirkt wie ein vorerst gescheiterter Versuch, den mythologischen Transgender auch biologische Wirklichkeit werden zu lassen.


Hans Brückner · E-Mail: ha.brueckner@web.de



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