Christian Hoffmann, Hamburg
Zeit für den Frühjahrsputz

Deeskalation der ART bei früherem virologischem Therapieversagen

In jeder Praxis gibt es sie: Patienten mit resistenten Viren und ungewöhnlichen, über die Jahre stoisch fortgeführten ART-Kombinationen. Eine Modifikation ist oft schwierig. Sie erfordert nicht nur Zeit und Recherche, sondern auch Überzeugungskraft – dabei kann sie sich durchaus lohnen.

Scheibenwischer
@fotolia - Gunnar Assny

Viele Patienten, die sich aus den dunklen 80er und frühen 90er Jahren in die heutige Zeit hinüber gerettet haben, wurden lange mit – nach heutigem Kenntnisstand – schlechten ART-Regimen behandelt. Mancher hat nicht nur einmal ein virologisches Therapieversagen erlebt. Resistenzen sind die Regel, komplexe Therapien die Folge. In der ELBE-Studie betrug die Rate „unkonventioneller“ Therapien – abseits der klassischen Dreifachkonstellation – 28% bei jenen Patienten, die vor 1997 mit ART begonnen hatten. Der Anteil ART-Regime mit mehr als 7 Pillen lag bei 15%. Für viele dieser Kombis gibt es keine Studien, keine Leitlinien, höchstens Erfahrungswerte („es wirkt doch“).

Die Patienten nun sind oft konservativ. Verständlicherweise. Gerade die „alten Hasen“ jeder Schwerpunktpraxis sind glücklich über eine funktionierende Therapie und wollen nichts ändern („Ich vertrage das doch gut!“). Und welcher Arzt will durch eine Umstellung ohne Not ein mögliches Therapieversagen provozieren? Man will ja zudem auch nicht gleich jedem neuen Trend hinterher laufen. So werden dann viele Regime, deren Gründe und Ursprünge teilweise gar nicht mehr bekannt sind, stoisch über viele Jahre fortgeführt.

Nun haben sich aber die Zeiten geändert. Zeit für den Frühjahrsputz! Sind diese oft intensiven Therapien noch immer notwendig? Wurden robuste Medikamente wie Darunavir oder Dolutegravir, aber auch Rilpivirin oder Etravirin bei der Therapiewahl schon berücksichtigt? Wo ist eine Reduktion von Pillenzahl bzw. Langzeit-Exposition möglich? Wird die aktuelle Therapie wirklich so optimal vertragen? Was spricht eigentlich noch für AZT, DDI, Fosamprenavir oder
Saquinavir? Prinzipiell sollte jede ART immer wieder neu auf ihren Sinn und Notwendigkeit überprüft werden –
eigentlich die Kernkompetenz des HIV-Behandlers. Nehmen wir diese wirklich genug wahr?

Im Folgenden sollen ein paar typische Fälle und Studien zu diesem Thema vorgestellt werden. Natürlich bleibt jeder Fall einzigartig und ist individuell zu behandeln. Vorweg auch noch eins: Wenngleich nicht gesichert ist, dass alle viralen Resistenzen für immer archiviert werden (es gibt einige wenige Gegenbeispiele), sollte man nicht auf ein Verschwinden der Resistenz bauen. Jede nachgewiesene Resistenz sollte berücksichtigt werden.

Die SWITCHMRK-Folgen

Kann man die HIV-Infektion sequentiell behandeln, d.h. auf eine intensive Induktionstherapie folgt eine weniger toxische Erhaltungstherapie? Die Idee ist alt. Frühe Studien mit Substanzen wie Saquinavir, Indinavir oder Nelfinavir enttäuschten. Auch der Wechsel auf TDF-haltige Triple-Nuke-Regime ging schief (Hoogewerf 2003, Bommenell 2011). Im Jahr 2010 mussten wir dann auch lernen, dass der Wechsel von Proteasehemmer auf Integrasehemmer nicht so ohne weiteres möglich ist. In den beiden SWITCHMRK-Studien waren insgesamt 702 Patienten auf einer stabilen Lopinavir/r-Therapie randomisiert worden, auf Raltegravir zu wechseln oder Lopinavir/r fortzuführen (Eron 2010). Zwar besserten sich die Lipide durch den Wechsel, jedoch konnte „eine Nicht-Unterlegenheit von Raltegravir im Vergleich zu Lopinavir/r hinsichtlich der Viruslastsuppression nicht nachgewiesen werden“. Nach 24 Wochen waren nur 82% unter Raltegravir unter 50 Kopien/ml, verglichen mit 88% unter dem fortgeführten PI. Ein kleiner Unterschied von 6%; ganze 8 (!) von 350 Patienten entwickelten Raltegravir-Resistenzen. Bei fünf dieser Patienten waren auch die NRTIs betroffen. Einzelfälle, und dennoch: psychologisch ein Desaster. Die SWITCHMRK-Studien wurden vorzeitig beendet. Die Durchbrüche betrafen vor allem vorbehandelte Patienten mit vorherigem Therapieversagen. In einer kleineren, offen randomisierten Studie aus Spanien wurde dies nicht beobachtet. Diese Patienten waren allerdings länger unter der Nachweisgrenze gewesen (Martinez 2010). Die Dauer der Virussuppression scheint überhaupt ein wichtiger Faktor zu sein. Je länger, desto geringer ist das Risiko eines Versagens (Reekie 2010). Verschwinden da am Ende nicht doch Resistenzen? Es gibt inzwischen übrigens auch Beispiele, bei denen Raltegravir lange wirkte, obwohl im Backbone nichts mehr aktiv war (Caby 2014).

Berechtigte Sorgen?

Patient 1

MSM, 73 Jahre. HIV seit 10/88, damals bei gutem Immunstatus frühe AZT-Monotherapie, dann die 90er hindurch mit vielen, nicht mehr nachvollziehbaren und wohl nur partiell wirksamen Kombis behandelt. 2001 ergab ein phänotypischer Resistenztest bei 5.000 RNA-Kopien/ml und einem CD4-Nadir um 300 unter AZT+3TC+NVP eine Komplettresistenz gegen die drei damals verfügbaren NNRTIs und gegen 3TC. Umstellung auf TDF+ABC+LPV/r. Seither gute Virussuppression, 2010 allerdings Ersatz von TDF durch MVC wegen erhöhten Nierenwerten, in 2012 Ersatz von LPV durch DRV wegen Diarrhoen. Seitdem also eine avantgardistische ART aus MVC+ABC+DRV/r 600/100 mg BID. Etwa 45 HIV-RNA-Messungen in den letzten 13 Jahren bleiben ausnahmslos unter 20 Kopien/ml, kein einziger Blip. Guter Immunstatus. Allerdings: Dyslipidämie, Durchfälle, auch die Frage nach ART-Vereinfachung (aktuell 2 x 4 Pillen, dazu Begleitmedikation). Nach SWITCHMRK ist dieser Patient kein Kandidat für Raltegravir. Aber könnte man ihn auf ABC+3TC+DOL umsetzen, die Pillenzahl von acht auf eine reduzieren, nebenbei auch die Jahrestherapiekosten um fast 5.000 Euro? Wie sicher ist das und was bringt es dem Patienten sonst? Zu blöd, dass ich nur einen alten phänotypischen Resistenztest vorliegen habe, die Mutationen wären viel wichtiger, weil heute noch beurteilbar! Der Patient nimmt mein Zögern wahr und entscheidet sich, auf dem aktuellen Regime zu bleiben.

Dennoch: Der SWITCHMRK-Schock wirkt noch heute nach. Obwohl die Durchbrüche nur in SWITCHMRK-2 (überwiegend Lateinamerika) beobachtet wurden, obgleich es keine Daten zu TDM, zur Adhärenz, zu präexistierenden Resistenzen und zu Art und Dauer der Vortherapie gab (MSD war recht blauäugig in diese Studie gegangen), bleibt die Message: bei vorbehandelten Patienten ist Vorsicht geboten! Raltegravir scheint zu wackeln, wenn der Backbone nicht mehr gut funktioniert. Eine Studie, von der man viel mehr hätte lernen können. Wessen ART versagte wirklich warum, und wie ging es weiter?

Und, natürlich: Wäre das bei Elvitegravir/c oder Dolutegravir auch so gewesen? Mitunter wird man das Gefühl nicht los, die Firmen wollten das gar nicht so genau wissen. Zu Elvitegravir wurden jetzt Daten dreier randomisierter Studien veröffentlicht (Andreatta 2014), in denen Patienten jeweils von PIs, NNRTIs oder von Raltegravir auf TDF/FTC/Elvitegravir/c gewechselt waren. Vorheriges Therapieversagen war erlaubt. Insgesamt 628 Patienten, davon 25% mit Resistenzen im RT- oder im PI-Gen, immerhin. Der virologische Erfolg nach 48 Wochen lag unter dem STR bei 94% und teilweise besser als unter den Fortführungs-Armen. Es wurde keine einzige neue Resistenz beobachtet. Leider bleibt die Aussagekraft begrenzt: Mutationen wie K65R und M184V (wo es interessant geworden wäre!) waren vorsorglich ausgeschlossen worden. Man will eben kein zweites SWITCHMRK. Zu Dolutegravir laufen diverse Switch-Studien, aber auch hier wird man alles tun, um den „Fehler“ von MSD nicht zu wiederholen.

Mono-PI revisited

An dieser Stelle sei einmal eine Lanze gebrochen für PI-Mono. Ja, PI-Mono ist etwas schwächer als Dreifach! Ja, es gibt 2-10% mehr Therapieversagen, mehr niedrige Virämien als bei klassischen Regimen und ja, wenn die Adhärenz schlecht ist und die aktuelle Therapie versagt, sind PI-Monotherapien keine gute Idee (Paton 2014). Dennoch: bei adhärenten Patienten reicht eine PI-Monotherapie oft völlig aus. Die wichtigste Nachricht aus den zahllosen Studien, sei es MONOI, MONET, OK04, KALE-SOLO, PROTEA, MODAt usw. war doch: Das Resistenzrisiko ist sehr niedrig.
In 10 randomisierten Studien an fast 2.000 Patienten lag die Rate neuer Resistenzen gerade mal bei 1,1%, verglichen mit 0,7% in den Fortführungs-Armen (Arribas 2014). Die Resistenzbarriere geboosterter PIs wie Darunavir oder
Lopinavir ist hoch. Ich kann also bei Therapieversagen unter PI-Mono gut reintensivieren, nichts ist verloren. Warum hat sich dieses Konzept bislang so wenig durchgesetzt, gerade bei Patienten, bei denen NRTIs und NNRTIs verbrannt wurden? Und würde bei Patient 1, angenommen, er hätte keine Durchfälle, nicht auch PI-Mono reichen?

NRTIs – vier oder drei Nukes sind selten besser als zwei

Patient 2

MSM, 53, seit 1998 HIV-positiv, frisch nach Hamburg gezogen. Vorher Köln, München, Berlin. Die Viruslast supprimiert, CD4-Zellen normal. Er brauche „nur Rezepte“. Seit Jahren AZT+3TC+ABC+TDF+LPV/r, warum, weiß er nicht. Auf den ersten Blick besteht eine erhebliche Lipoatrophie. Der Patient, darauf angesprochen, bricht in Tränen aus. Telefonat mit seiner letzten Praxis: Man habe die ART seit der dortigen Erstvorstellung 2009 unverändert fortgeführt. Ich sitze auf einem Berg nichtssagender Laborwerte, vielen negativen Viruslasten, sehr vielen CD4-Zellen zwischen 700 und 1.300, weiß nun Bescheid über den Verlauf seiner NK-Zellen, den Augenhintergrund 2005, seine Toxoplasma gondii-Serologie (negativ) und eine Clavicula-Fraktur 2008. Warum er seit ungefähr 10 Jahren dieses knackige ART-Regime aus 6 Substanzen nimmt, bleibt im Dunklen. Welche Therapien haben wie versagt? Was sollen die vier Nukes, eine HBV-Infektion besteht nicht? Die jetzige ART wäre nicht seine erste, sagt der Patient, er habe bis 2004 einiges bekommen, könne sich aber nicht mehr erinnern. Ein Medikament habe er wegen Alpträumen nicht vertragen (Efavirenz! NNRTI-Exposition!) und bei einem habe er Nierenkoliken bekommen (Indinavir! PI-Exposition!). Weitere Telefonate. Der ehemalige Schwerpunktarzt ist im Ruhestand (ein Problem der Zukunft!). Der Resistenztest, auf dem die Therapieentscheidung 2004 wohl beruhte, ist „nicht im Computer“. Da könne man nichts machen. Na dann. Jüngere Kollegen bemühen sich, können die damalige Entscheidung allerdings auch nicht nachvollziehen, unter AZT+3TC (wohl auch D4T+DDI) und nacheinander Efavirenz, Nevirapin, Nelfinavir und Indinavir hätten aber wohl niedrige Virämien bis zu 3.000 Kopien/ml bestanden. Eine „virtuelle Bestandsaufnahme“: die erste NNRTI-Generation ist wohl weg, mit M184V und TAMs ist zu rechnen, wohl auch mit ein paar PI-Mutationen. Aber was riskieren wir mit einer Umstellung? „Never change a winning team“– dem matten Hinweis des Patienten wird entgegnet, dass dieses Team schon aufgrund seiner Nebenwirkungen nicht mehr gewinnt.
Dolutegravir sparen wir uns auf. Der Patient erhält DRV/r (800/100), aus Angst vor der eigenen Courage gebe ich im letzten Moment noch 3TC dazu. Ergebnis: Er bleibt seit nunmehr sechs Monaten unter 50 Kopien/ml, ohne jeden Blip. Statt täglich 7 Pillen nun 3, statt 2.400 Euro monatlicher Kosten nur noch die Hälfte, ein zufriedener Patient und dazu die (wenngleich vage) Hoffnung, dass sich bei der Lipoatrophie noch einmal etwas tun wird.

Bei therapienaiven Patienten sind drei Nukes im Backbone nicht besser als zwei, das wissen wir spätestens seit 2003 durch ACTG 5095. Aber wie ist das bei virologischem Versagen? Hilft viel vielleicht doch viel? AZT und TDF mag das Virus nicht gern zusammen, die Resistenzpfade divergieren und 3TC hemmt die Fitness. Die drei zusammen ärgern das Virus sehr – bei Multiresistenz eine gute Strategie. Aber sonst, und vor allem ohne AZT? Kann man sich aus drei wackeligen NRTIs einen starken Backbone basteln? Ich mache eine kurze Umfrage unter fünf Virologen meines Vertrauens: „Gibt es eigentlich aus virologischer Sicht eine Indikation für drei Nukleosidanaloga statt zwei – abgesehen von AZT+TDF+3/FTC?“. Die Antwort der Cracks kommt prompt: Nein. Einer befürchtet gar eine Kompetition dieser drei Nukes am Zielenzym und einen Effekt, der sogar unterhalb des additiv zu erwartenden liegt. Als Triple-Nuke war die Kombi extrem anfällig (Hoogewerf 2003). Also: bitte kein TDF+FTC+ABC oder TDF+3TC+ABC im Backbone! Und Quadruple als Backbone (siehe Patient 2) erst recht nicht. Von Salvage-Regimen vielleicht abgesehen.

NNRTI-Resistenzen – ist ein PI immer notwendig?

Viele Patienten mit virologischem Versagen unter der ersten NNRTI-Generation sind seit Jahren auf geboosterten PIs, neuerdings auch auf Integrasehemmern. Muss das sein? NNRTIs sind eine gut verträgliche Substanzgruppe, die man nicht voreilig verschenken sollte. Leider werden nach Versagen mit Nevirapin und Efavirenz oft Rilpivirin-Resistenzen nachgewiesen, die Raten liegen bei 26-32% (Lambert-Niclot 2014, Gallien 2015). Bei Etravirin sind es wesentlich weniger, es dauert wahrscheinlich ein Jahr, bis es nach Efavirenz verschossen ist, nach Nevirapin womöglich länger (Cozzi-Lepri 2012). Leider ist Etravirin aber nur in Kombination mit einem PI zugelassen. Kann man das nicht mal
ändern und es so endlich aus der Mottenkiste holen? In der Zwischenzeit muss ich (wie bei Patient 3) mit Rilpivirin zurechtkommen. Aber kann ich dem Resistenztest trauen?

Es wird Zeit, dass wir mehr klinische Daten zu NNRTI-resistenten Viren bekommen. Warum gibt es nicht eine deutschlandweite Studie für Patienten mit Primärresistenzen? Immerhin 5-10% sind betroffen. Was wissen wir über die Wirksamkeit bei K103N? Liegt sie isoliert vor, ist Eviplera® wohl wirksam. Wohl. Es ist bezeichnend, dass eine unkontrollierte Ministudie mit 10 (!) Patienten noch vor wenigen Monaten so relevant war, dass sie es in ein wichtiges Journal schaffte (Rokx 2014). In SPIRIT, in der die Patienten randomisiert auf ihrem PI blieben oder auf Eviplera® wechselten, blieb die Viruslast bei 17/18 Patienten mit K103N supprimiert (Palella 2014). M184V und K65R waren allerdings auch hier ein Ausschlusskriterium. Was wäre eigentlich bei der Kombination aus K103N und M184V?

Rethinking Dolutegravir

Patient 3

MSM, 52 Jahre. Primärresistenz K103N. Nebendiagnose Chronisch Lymphatische Leukämie, bislang nicht behandlungsbedürftig. In 2005 beginnt der damalige Schwerpunktarzt bei 450 CD4-Zellen und 16.000 RNA Kopien/ml wegen des niedrig-malignen NHL „zur Sicherheit“ mit einer ART, ebenfalls „zur Sicherheit“ mit AZT+3TC+TDF+LPV/r (!). AZT wird nach zwei Jahren wegen einer beginnenden Lipoatrophie beendet, seither TDF+FTC+LPV/r. Guter Immunstatus, keine Blips. Der Patient klagt über Durchfälle, Gewichtszunahme. Sobald ich von einem Therapiewechsel anfange, heißt es: „so schlimm ist es nun auch nicht“. Zwei, drei Jahre vertagen wir beide immer wieder einen Wechsel. Ich frage mich immer mehr: Kann ich noch einmal einen NNRTI, also Eviplera®, versuchen? In vitro wirkt Rilpivirin ja. Aber hat er evtl. noch zusätzliche, nicht detektierte Minor-Resistenzen?

Patient 4

Afrikaner aus Togo, 53 Jahre, seit 11/91 positiv. HBV-Koinfektion. Problem: die Adhärenz. Mehrfach jahrelanges Verschwinden und Wiederauftauchen, gefühlt 20 ART-Regime, Therapiepausen, Chaos. Die CD4-Zellen seit 20 Jahren nie über 100, zuletzt bei 0/µl, die Viruslast nie unter 200 Kopien/m), der Setpoint sechsstellig. Schwerer refraktärer Herpes, PCP, Soor-Ösophagitis, Pneumonien, 2005 Nierenversagen unter Tenofovir. Je nach Perspektive also entweder eine Katastrophe (die Werte, die OIs) oder ein Wunder (er lebt!). Ein sehr netter Patient! Im März 2014 Resistenztest mit M184V, L90M, diversen TAMs und mindestens 4 NNRTI-Mutationen. Ermahnung, Bitten, ja, er will wieder eine ART nehmen. Ich werfe alles in den Ring, was ich habe, starte mit AZT+3TC+DRV/r+ RAL, alles BID. Er ist adhärent! Die HIV-RNA unduliert bei 200 Kopien/ml, die CD4-Zellen bei 50/µl. Wir sind beide stolz und glücklich. Im September 2014 dann der nächste Schlag, ein Anruf aus dem Krankenhaus: kulturell gesicherte TB. Ich verteidige seine ART mit Zähnen und Klauen, sie sollen sich was einfallen lassen, verdammt, die ART hat jetzt mal Vorfahrt, bei den Resistenzen! Das Krankenhaus tut was es kann. Entlassen wird er, nachdem er unter Rifabutin plus ART eine Rhabdomyolyse entwickelt hat, mit INH+EMB+PYR. Und seiner ART, unverändert. Am gleichen Tag trifft der TB-Resistenztest ein: INH-Resistenz. Was nun? Die TB muss endlich vernünftig behandelt werden, ich kann die ART mit Booster so nicht halten. Ich gebe ihm RIB+MOX+EMB+PYR und stelle ihn voll dunkler Vorahnungen nun doch um auf ein weniger interaktionsträchtiges STR aus ABC+3TC+DOL. Er ist baff, was, nur eine HIV-Pille? Kann das wirken? Es kann! Die HIV-RNA liegt seit 3 Monaten unter 20 Kopien/ml, zum ersten Mal „seit Beginn der Aufzeichnungen“. War ich zu vorsichtig, wegen der vielen Resistenzen? Wahrscheinlich.

Dolutegravir hat eine hohe Resistenzbarriere, möglicherweise die höchste aller antiretroviralen Substanzen. In sämtlichen Studien an therapienaiven Patienten (n=1.118) waren Resistenzen Fehlanzeige, und zwar sowohl hinsichtlich Dolutegravir, aber auch, ein Novum, gegenüber dem Backbone. Das hat sogar Darunavir/r nicht geschafft. Wie hoch die Barriere wirklich ist, ist noch unklar, verschiedene biochemisch-strukturelle Erklärungen werden diskutiert. Wahrscheinlich gräbt es sich tiefer und fester in die Bindungstasche ein als andere INIs (schöner Review: Llibre 2015). In SAILING, einer doppelblinden Studie an 715 überwiegend PI-vorbehandelten Patienten mit Zweiklassenresistenz war Dolutegravir besser als Raltegravir (Cahn 2013). 71% der Patienten erreichten eine Virussuppression auf unter 50 Kopien/ml. Keine einzige neue phänotypische INI-Resistenz wurde bei den 354 Patienten unter Dolutegravir beobachtet, bei ganzen 4 war der Backbone betroffen – und das bei diesen weit fortgeschrittenen Patienten mit aktuellem Therapieversagen, bei denen nur eine einzige wirksame Substanz im Backbone gefordert war! Von 32 Patienten mit nicht mehr voll wirksamem NRTI-Backbone (allein 13 Patienten erhielten ABC+3TC trotz M184V), blieben alle 32 nach 48 Wochen unter 50 Kopien/ml – bei Raltegravir versagten 7/32, also 22% (Demarest 2014). Dolutegravir wirkt also möglicherweise auch als Monotherapie.

Wenn wir das glauben wollen, müssen wir es freilich neu bewerten. Und übrigens auch das sibyllinische GBA-Urteil zum (nicht vorhandenen?) Zusatznutzen von Dolutegravir bei vorbehandelten Patienten ignorieren!

Insgesamt scheint das Potential von Dolutegravir noch nicht annähernd ausgeschöpft. Wissen wir wirklich schon, was wir da in der Hand haben? Es scheint ja fast immer zu wirken. In VIKING-3 erreichten rund 70% der 183 Patienten mit wirklich exzessiven Resistenzen eine Viruslast unter die Nachweisgrenze, und zwar weitgehend unabhängig davon, wieviel weitere Substanzen noch aktiv waren – teilweise wirkte sonst nichts mehr (Castagna 2014). Heißt das nun: Dolutegravir für alle? Nein. Es stellt sich eher die Frage, ob man sich Dolutegravir nicht lieber aufsparen soll, für die zweite oder dritte Therapielinie. Eine Monokultur wollen wir nicht, die Langzeitverträglichkeit ist unklar, aber wir haben jetzt ein Sicherheitsnetz, für die allermeisten Patienten. Gut zu wissen.

Fazit

Auch bei langzeitbehandelten Patienten mit früherem Therapieversagen und aktuell guter Virussuppression lohnt es sich, immer wieder auf die ART zu schauen. Die reine virologische Kontrolle ist nicht genug. Wir behandeln Jahrzehnte! Was muss wirklich sein? Resistenzen sollten gut dokumentiert werden, sie gehören in jeden Arztbrief und sollten niemals verloren oder untergehen. Meine Prophezeiung: mit den Jahren wird die Situation bei vielen Patienten noch wesentlich unübersichtlicher werden! Wenn man sich entscheidet, an der ART etwas zu ändern, empfiehlt sich in den ersten Monaten ein engmaschiges Monitoring, um das Risiko weiterer Resistenzen möglichst zu minimieren.


Andreatta K, Kulkarni R, Abram ME, et al. Baseline Antiret-roviral Resistance Mutations and Treatment-emergent Resistance in HIV-1 RNA-suppressed Patients Switching to EVG/COBI/FTC/TDF or continuing on their PI-, NNRTI-, or RAL-based Regimen. J Acquir Immune Defic Syndr. 2014 Dec 31. [Epub ahead of print] PubMed PMID: 25559592.

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