Weiterdenken in der HIV-Therapie erforderlich

Patient Reported Outcomes, kurz PROs, sind in der modernen HIV-Therapie ein wichtiger Indikator für das allgemeine Befinden der Menschen mit HIV und damit für die Beurteilung des Behandlungserfolgs. Denn die Selbstauskünfte per validierter Fragebögen geben Behandlern wertvolle Informationen zur Verträglichkeit eines Medikaments im Alltagserleben, erklären mögliche Adhärenz-Probleme und helfen, die HIV-Therapie zu optimieren.

Den Erfolg einer Therapie kann man an verschiedenen Faktoren festmachen. Vielfach wird die Wirksamkeit einer Behandlung nach medizinischen Kriterien wie der Verbesserung der klinischen Symptomatik oder dem Vorliegen unkritischer Laborwerte beurteilt. Aber wie geht es Menschen mit HIV mit der Behandlung im Alltag? Für Menschen mit HIV zählt vermutlich das allgemeine Wohlbefinden oft mehr als die Anzahl der CD4 Zellen oder ein unauffälliges Blutbild. Häufig bestimmt das Erleben einer Medikation auch über die Adhärenz, die gerade bei Menschen mit HIV so wichtig ist1. Hinzu kommt, dass die Lebenserwartung von Menschen mit HIV dank effizienter antiretroviraler Therapien (ART) weiter steigt, was zwangsläufig eine längere Medikamenten-Einnahme erfordert und die Erwartungen an die HIV-Therapie verändern kann.

VideoPROs sind direkte und ungefilterte Informationen, die zeigen, wie Menschen mit HIV die Therapie und Ihren Gesundheitszustand im Alltag erleben4.

Daher gewinnen Patient Reported Outcomes (PROs), die auf der Selbsteinschätzung des Gesundheitszustands beruhen2,3, bei der Versorgung von Menschen mit HIV immer mehr an Bedeutung. In validierten PRO-Fragebögen werden z.B. Aspekte zur Funktionalität im Alltag, zur Schlafqualität oder zur Intensität bestimmter Symptome hinterfragt3, die Menschen mit HIV vielleicht nicht immer mit der Therapie in Verbindung bringen, die aber belastend sind und sich entscheidend auf das Wohlbefinden auswirken können.

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PROs liefern wertvolles, direktes, ungefiltertes Feedback

Großer Befürworter der patientenorientierten HIV-Betreuung unter Einbeziehung der PROs ist Prof. David Wohl M.D. vom Institute of Global Health and Infectious Diseases an der Universität North Carolina. Denn der HIV-Behandler erhält mit den PROs direkte und ungefilterte Informationen von seinen Patienten3,4. Informationen, die beschreiben wie Menschen mit HIV sich tatsächlich im Alltag fühlen, wie sie die Medikation erleben. Die gezielte Nachfrage nach Kopfschmerzen, Muskelschmerzen, Übelkeit etc. ist laut Prof. Wohl eine etwas andere Herangehensweise als in den meisten klinischen Studien, wo nach festgelegten Kriterien, wie möglichen Nebenwirkungen eines Wirkstoffs, untersucht wird4. PROs berücksichtigen, dass die in Studien belegte Wirksamkeit eines Medikaments im Alltag ganz anders wahrgenommen werden kann bzw. im Alltag andere Aspekte eine Rolle spielen5. Sie hinterfragen ganz generell Erfahrungen im Alltagserleben, mit und ohne Medikament4,5.

Wichtig sind präzise Fragen, sonst endet die Konversation schnell in einer Einbahnstraße. Denn auf ein allgemeines „Wie geht’s Ihnen?“ kann ein kurzes „Okay!“ folgen. Nutzt der Behandler aber einen im Wartezimmer ausgefüllten PRO-Fragebogen als Gesprächsgrundlage, um weitere Fragen zu stellen, entsteht ein Gesprächsfluss5.

VideoPROs können ein Gespräch eröffnen, das vielleicht nicht stattfindet, wenn ich einfach nur frage: „Wie geht es Ihnen heute?“5

Validierte und zuverlässige PRO-Messinstrumente sind unerlässlich

Entscheidend ist es, dass der PRO-Fragenkatalog sorgfältig definiert ist, damit zum einen tatsächlich die Informationen erfasst werden, die für Menschen mit HIV von Bedeutung sind, und zum anderen dass die Rückmeldungen vergleichbar und damit als messbare Parameter verwertbar sind3,6. VideoProf. Wohl warnt: Man kann sich nicht einfach über Nacht ein paar Fragen überlegen und diese am nächsten Tag bei seinen Patienten anwenden. Hier bedarf es regulierter, validierter Prozesse, damit die Fragen auch die zu der Fragestellung passenden Ergebnisse liefern – unabhängig vom Fragesteller6. Weiter ist die Untersuchung und Validierung von PROs wichtig, um besser zu verstehen, welche Erkenntnisse durch PROs überhaupt vermittelt werden können6.

Um PROs im Zusammenhang mit der HIV-Therapie zu bewerten, stehen mehrere Messinstrumente zur Verfügung, die Auswahl ist u.a. abhängig von der gewünschten Fragestellung7. Der PRO-Fragebogenkann beispielsweise zur besseren Einschätzung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität (Health-Related Quality of Life, HRQoL) dienen oder gesundheitsbezogene Ansichten und Erfahrungen wie Qualität der Pflege, psychologische Ressourcen (z.B. Belastbarkeit) oder die Intensität von Symptomen untersuchen7,8. Bei der Messung der Symptome gilt der HIV-Symptom-Index (HIV-SI) seit vielen Jahren als Goldstandard9,10,11. Das validierte PRO-Messinstrument bewertet Belastungen zu den 20 häufigsten Begleiterscheinungen, die im Rahmen einer HIV-Behandlung auftreten können9,10:

  • Müdigkeit/Energieverlust
  • Fieber/Schüttelfrost/Schweißausbrüche
  • Schwindel/Lichtempfindlichkeit
  • Schmerzen/Taubheitsgefühle/Missempfindungen in Händen und Füßen
  • Konzentrations- und Gedächtnisprobleme
  • Übelkeit/Erbrechen
  • Durchfall/Darmprobleme
  • Traurigkeit/Depressive Verstimmungen
  • Nervosität/Ängste
  • Schlafschwierigkeiten
  • Hautirritationen (Ausschlag, Juckreiz)
  • Husten/Atemprobleme
  • Kopfschmerzen
  • Appetitlosigkeit/Geschmacksveränderung
  • Völlegefühl/Magenschmerzen/Blähungen
  • Muskelschmerzen/Gelenkschmerzen
  • Probleme beim Sex
  • Konzentrationsprobleme
  • Veränderungen der Körperformen
  • Gewichtsverlust
  • Haarausfall/Haarveränderungen

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Die Befragung nach dem HIV-SI erfolgt im Abstand mehrerer Wochen, die Antwortmöglichkeiten sind nach einer 5-Punkte-Skala vom Typ Likert gestuft10. Für die ärztliche Routine ist dieses aussagekräftige PRO-Tool eine Option, um einfach und zuverlässig behandlungsbedingte Symptome, die Menschen mit HIV bewusst oder unbewusst belasten, festzustellen oder diese auszuschließen.

PROs werden immer öfter in klinische Studien eingebunden sein

Nach Meinung von Prof. Wohl werden PROs immer häufiger fester Bestandteil klinischer Studien sein12. Der Fokus bei Studien zu den modernen hochwirksamen ART-Präparaten wird nach seiner Ansicht künftig weniger darauf liegen, die Viruslast noch mehr zu unterdrücken oder Bedenken hinsichtlich der Sicherheit zu äußern, sondern vielmehr darauf, die Erfahrungen von Menschen mit HIV, die über Jahrzehnte diese Medikamente einnehmen müssen, besser zu verstehen12, und Wirkstoffe dahingehend zu vergleichen5.

VideoWir müssen verstehen, wie es ist, unter dieser Medikation zu stehen12.

Das bedeutet, es wird in Zukunft nicht mehr allein darum gehen, die HIV-Infektion zu behandeln, sondern zu beobachten, wie sich die Menschen mit der aktuellen Medikation fühlen. Zeigen die PROs belastende Symptome, sollte versucht werden, selbst wenn diese mild sind, sie durch ein geeignetes Therapieregime zu vermeiden12. Die verstärkte Einbeziehung der PROs kann der Verantwortung für eine lebenslange Medikation im Sinne der Menschen mit HIV Rechnung tragen und die Qualität der Versorgung von Menschen mit HIV weiter verbessern.

PROs halten Einzug in den Praxisalltag

In der täglichen Praxis liefern PROs dem HIV-Behandler wertvolle Zusatzinformationen für die Einstellung und Kontrolle der HIV-Therapie. Ein standardisierter PRO-Fragebogen wie der HIV-SI lässt sich leicht in den Tagesablauf integrieren, nur etwa 5 Minuten dauert das Ausfüllen9. Doch einige Ärzte äußern Bedenken13. Behandler befürchten z.B., dass die Erfassung der PROs ihre Arbeitsbelastung erhöht, andere äußern, dass sie keine zusätzlichen Informationen von ihren Patienten benötigen. Aber Menschen mit HIV haben mit vielen psychologischen und psychosozialen Problemen zu kämpfen. Wie gehen sie mit ihrer HIV-Infektion um, wie belastend ist die mögliche Diskriminierung von außen? Wie schwierig ist die regelmäßige Tabletteneinnahme, wie sind die Einschränkungen im Alltag? Verändert sich der Anspruch an die Therapie, z.B. mit zunehmendem Alter und möglichen Komorbiditäten? Jeder Mensch mit HIV empfindet die Behandlung anders. PROs geben dem Behandler Aufschluss darüber, wie die Bedürfnisse seiner Patienten aussehen und wie sich die therapeutischen Interventionen auf das tägliche Leben des Menschen mit HIV auswirken12.

PROs sind eine wichtige Ressource für Behandler, insbesondere bei der Auswahl der besten therapeutischen Strategien. 7

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PROs können Effizienz der Therapie verbessern

Bezieht der HIV-Behandler das Wissen eines validierten PRO-Fragebogens in das Therapiekonzept ein, können Effizienz und Effektivität der Therapie optimiert werden14. HIV-Behandler können unter Berücksichtigung der PROs das geeignete Therapieregime für die Menschen mit HIV in ihrer Praxis auswählen. Bereits eine bessere Schlafqualität15, kein Auftreten von Übelkeit und Erbrechen können wichtige Faktoren bei der Entscheidung für ein bestimmtes Therapieregime und die damit verbundene Adhärenz sein. Höheres Wohlbefinden der Menschen mit HIV als Behandlungsziel kann eine Umstellung des Therapieregimes durchaus rechtfertigen.

nochvielvor Weitere Informationen zum Leben mit HIV und finden Sie unter www.nochvielvor.de

  1. U.S. Department of Health and Human Services. Panel on Antiretroviral Guidelines for Adults and Adolescents. Guidelines for the use of antiretroviral agents in adults and adolescents living with HIV. Available at: https://aidsinfo.nih.gov/contentfiles/lvguidelines/adultandadolescentgl.pdf - abgerufen März 2019
  2. Der Stellenwert von Patient Reported Outcomes (PRO) im Kontext von Health Technology Assessment (HTA); https://portal.dimdi.de/de/hta/hta_berichte/hta220_bericht_de.pdf - abgerufen März 2019
  3. FDA. Patient-reported outcome measures: Use in medical product development to support labeling claims. 2009 Available from: https://www.fda.gov/downloads/drugs/guidances/ucm193282.pdf - abgerufen März 2019
  4. Interview mit Prof. David Wohl (What are PROs?) im Rahmen eines Gilead HIV-Symposiums, November 2018 Youtube Video
  5. Interview mit Prof. David Wohl (How PROs can tell you more about your patient‘s response to HIV therapy?) im Rahmen eines Gilead HIV-Symposiums, November 2018 Youtube Video
  6. Interview mit Prof. David Wohl (PROs validated, reliable and ready for use today) im Rahmen eines Gilead HIV-Symposiums, November 2018 Youtube Video
  7. HIV.eu – Stop the Virus.; https://hiv.eu/2018/10/patient-reported-outcomes-how-important-are-they-in-hiv-practice - abgerufen März 2019
  8. Engler K, et al. A Review of HIV-Specific Patient-Reported Outcome Measures. Patient 2016; DOI 10.1007/s40271-016-0195-7.
  9. Wohl D, et al. Patient-Centered Outcomes Research, The Patient. October 2018, Volume 11, Issue 5, 561–573. https://doi.org/10.1007/s40271-018-0322-8
  10. Simpson KN, et al. Patient reported outcome instruments used in clinical trials of HIV-infected adults on NNRTI-based therapy: a 10-year review. Health Qual Life Outcomes. 2013;11:164.
    https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0895435601004498?via%3Dihub – abgerufen März 2019

  11. Justice A, et al. Development and validation of a self-completed HIV symptom index. J Clin Epidemiol. 2001;2001(54):77–90.
  12. Interview mit Prof. David Wohl (How PROs might become part of clinical care?) im Rahmen eines Gilead HIV-Symposiums, November 2018 Youtube Video
  13. Nelson EC, et al. Patient reported outcome measures in practice. BMJ 2015;350:g7818.
  14. Santana M, and Feeny D. Framework to assess the effects of using patient-reported outcome measures in chronic care management. Quality of Life Research 2014;23:1505-1513.
  15. Sleep an Chronobiology Center, University Pittsburgh; https://www.sleep.pitt.edu/research/instruments.html - abgerufen März 2019


Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die zusätzliche Verwendung der weiblichen Form verzichtet (z.B. nur „Behandler“ statt „Behandler und Behandlerin“). Wir möchten aber darauf hinweisen, dass die überwiegend alleinige Verwendung der männlichen Form explizit als geschlechtsunabhängig verstanden werden soll.


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