Leitlinien zur antiretroviralen Therapie bei intravenös Drogenabhängigen

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* Der Begriff „Drogenabhängiger“, „Drogengebraucher“, „IVDU“ umfasst aktuell aktive, substituierte und ehemalige Drogengebraucher.

Im Juli letzten Jahres wurden auf dem interdisziplinären Suchtkongress in München die gemeinsamen Leitlinien der DAIG, DAGNÄ und DGS zur antiretroviralen Therapie bei Drogenabhängigen (IVDU)* verabschiedet. Vorausgegangen war eine Expertentagung, auf der der aktuelle Stand des Wissens und die Literatur zu den einzelnen Fragestellungen präsentiert wurde.

Im Mittelpunkt der Leitlinien stehen folgende Fragen:

  1. Wie hoch sind Prävalenz und Inzidenz der HIV-Infektion unter IVDU? Welche Präventionsmaßnahmen sind sinnvoll?
  2. Welche Diagnostik ist notwendig?
  3. Wann sollen IVDU mit einer HIV-Infektion antiretroviral behandelt werden?
  4. Gibt es Besonderheiten bei der Initialtherapie?
  5. Wie soll bei psychiatrischer Komorbidität vorgegangen werden?
  6. Welche Wechselwirkungen sind zu beachten?
  7. Gibt es speziell zu beachtende Nebenwirkungen?

INZIDENZ

Abb. 1: HIV-Erstdiagnosen mit Risikoangabe IVDU, Deutschland, 1993-2007.
Abb. 1: HIV-Erstdiagnosen mit Risikoangabe IVDU, Deutschland, 1993-2007.
Quelle: U. Marcus, RKI

Die Angaben zur HIV-Prävalenz bei IVDU sind je nach untersuchter Population und Region sehr unterschiedlich. In Deutschland betragen sie zwischen 5% in München und 50% in Berliner Haftanstalten. Das Robert Koch-Institut schätzt die Gesamtzahl der aktuell in Deutschland lebenden Personen, die sich bei intravenösem Drogenkonsum infiziert haben, auf derzeit ca. 7.000, wobei nicht alle noch aktive Drogenkonsumenten sind. Die Zahl der jährlichen HIV-Neuinfektionen, die auf intravenösen Drogengebrauch zurückzuführen sind, wird auf rund 200 geschätzt (Abb. 1). Ein Teil dieser Infektionen könnte jedoch auch sexuell übertragen sein. Weltweit betreffen 10% aller HIV-Neuinfek-tionen IVDU im Vergleich zu 7% in Deutschland. In einigen Ländern, insbesondere in Osteuropa und Asien, wird die Epidemie jedoch wesentlich durch den intravenösen Drogenkonsum voran getrieben.

PRÄVENTION

Im Fokus der bisherigen Maßnahmen stand bislang die Prävention der Transmission durch gemeinsamen Nadelgebrauch, d.h. Spritzenaustauschprogramme. Die niedrigschwellige Verfügbarkeit von sterilen Injektionsutensilien reduziert die HIV-Inzidenz unter Drogenabhängigen und sollte flächendeckend (auch in Haftanstalten) angeboten werden (A). Auch die Substitutionsbehandlung verhindert HIV-Neuinfektionen unter IVDU (A) und sollte als Kassenleistung flächendeckend angeboten werden (A). HIV, HBV und in besonderen Fällen HCV können jedoch auch sexuell übertragen werden. Die Prävention bei IVDU muss daher sowohl "safer use" als auch "safer sex" beinhalten (A).

DIAGNOSTIK

Beim Erstkontakt mit IVDU müssen der HIV-, Hepatitis A-, Hepatitis B- und Hepatitis C-Status kontrolliert werden (A). Im weiteren Verlauf sollten einmal jährlich HCV-Antikörper und bei nicht geimpften Personen auch HAV- und HBV-Antikörper bestimmt werden (A). HIV-Patienten haben gemäß STIKO eine Indikation für die Impfung gegen Hepatitis A und B sowie Pneumokokken, Meningokokken und Influenza (A).

Es muss überprüft werden, ob sich der Patient in einer Substitutionsbehandlung befindet oder nicht (A). Angaben zum aktuellen Konsum sollten durch ein Drogenscreening überprüft werden (A). IVDU leiden sehr häufig zusätzlich an psychiatrischen Erkrankungen. Psychische Beschwerden müssen daher evaluiert und bei der Anamnese muss nach der Einnahme psychotroper Substanzen gefragt werden (A).

INDIKATION ZUR HAART

Ehemalige IVDU und IVDU, die sich in einer stabilen Substitutionsbehandlung befinden, sollen nach den gleichen Kriterien und zum gleichen Zeitpunkt wie Nicht-IVDU eine antiretrovirale Therapie erhalten (A). Bei IVDU, die sich in einer nicht stabilen Substitutionsbehandlung befinden (Termine nicht zuverlässig einhalten können, unregelmäßig kommen) soll vor einer antiretroviralen Therapie u.a. mit Hilfe der psychosozialen Betreuung versucht werden, die Patientin/den Patienten in eine stabile Substitutionsbehandlung zu bringen (A). Die Substitutionsbehandlung ist das beste Setting für die Therapie aller chronischen Erkrankungen bei IVDU. IVDU, die eine HIV-Therapie wünschen, bei denen die Indikation zu einer solchen besteht und die keine Substitutionsbehandlung wünschen, ist eine HIV-Therapie anzubieten (A). Ein schlechter Immunstatus mit <200 CD4-Zellen/µl stellt eine dringliche Indikation zur Therapie dar, ebenso wie AIDS-definierende Erkrankungen, eine Schwangerschaft und eine symptomatische Infektion.

BESONDERHEITEN INITIALTHERAPIE

Bei der Auswahl des antiretroviralen Therapieregimes ist die Adhärenz des Patienten/in zu berücksichtigen. Bei IVDU ohne stabile Substitution soll ein ART-Regime gewählt werden, das nur einmal täglich eingenommen werden muss (A). Die ART sollte direkt vor dem Substitutionsmittel unter Sicht des Arztes/medizinischen Personals eingenommen werden (A). Gemäß den europäischen Leitlinien sind Tenofovir und Emtricitabin oder Abacavir und Lamivudin in Kombination mit Efavirenz oder Nevirapin bzw. geboostertem Fosamprenavir, Lopinavir oder Saquinavir Mittel der ersten Wahl. Bei Patienten mit replikativer Hepatitis B sollte Tenofovir/Emtricitabin Bestandteil der ART sein. Bei der Auswahl der ART sind zudem mögliche Wechselwirkungen und bei Frauen Kinderwunsch bzw. die Möglichkeit einer ungeplanten Schwangerschaft zu berücksichtigen.

PSYCHIATRISCHE KOMORBIDITÄT

Aufgrund der hohen psychiatrischen Komorbidität soll der bei der initialen Diagnostik erhobene psychopathologische Befund im Verlauf kontrolliert werden (C). Psychiatrische Erkrankungen wie bipolare Störungen und Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis müssen medikamentös und psychotherapeutisch behandelt werden (A). Inwieweit Antidepressiva und/oder Neuroleptika bei gleichzeitiger Gabe von Opioiden wirken, ist kaum untersucht worden. Eine neuere Arbeit konnte jedoch zeigen, dass eine Reduktion des Benzodiazepinkonsums bei Steigerung der Psychopharmakotherapie zu einer Verminderung der depressiven Symptomatik bei mit Methadon behandelten Patienten führt. Antidepressiva der ersten Wahl sind SSRI, insbesondere Citalopram und Escitalopram (C). Zur Behandlung der Schizophrenie sollten primär atypische Neuroleptika eingesetzt werden (C).

WECHSELWIRKUNGEN

Abb. 2: Cytochrome P450-Enzyme und wichtige Substrate.
Abb. 2: Cytochrome P450-Enzyme und wichtige Substrate.
Quelle: H. Klinker, Würzburg

IVDU, die im Rahmen einer Substitutionsbehandlung antiretroviral behandelt werden, müssen engmaschig auf Entzugs- und/oder Intoxikationssymptome beobachtet werden (A). Sowohl Methadon als auch Buprenorphin werden über das Cytochrom P450-System in der Leber metabolisiert (Abb. 2). Durch die antiretrovirale Therapie kann es zur Enzyminduktion oder -inhibition kommen. Bei Auftreten von Entzugs- und/oder Intoxikationssymptomen muss die Dosis des Substitutionsmittels angepasst werden (A). Insbesondere bei gleichzeitiger Gabe der NNRTI Efavirenz und Nevirapin kann es zu einer deutlichen Verminderung der Methadonwirkung kommen. Dadurch kann es bereits nach wenigen Tagen zu Entzugssymptomen kommen, was eine Steigerung der Methadondosis um bis zu 50% notwendig machen kann (vergl. Beitrag Hartwig Klinker, Seite 18-21).

NEBENWIRKUNGEN

Die frühen Nebenwirkungen sind bei der Therapie von IVDU ähnlich wie bei anderen Patienten zu erwarten (C). Um die Adhärenz der Patienten zu unterstützen, sollen diese Nebenwirkungen behandelt werden. Gegebenenfalls muss das antiretrovirale Regime gewechselt werden. Die Hepatotoxizität der verschiedenen HIV-Medikamente muss vor allem bei den sehr häufig HCV-koinfizierten IVDU berücksichtigt werden (C). Hepatische Nebenwirkungen, z.B. Erhöhung der Transaminasen, sind bei HCV- und HBV-Koinfektion häufiger. Ob bestimmte antiretrovirale Medikamente die Progression einer Leberfibrose begünstigen, ist umstritten. Fest steht jedoch, dass hepatische Komplikationen bei der Morbidität und Mortalität der Koinfizierten immer mehr an Bedeutung gewinnen.

Mit Danksagung an die Referenten der Expertentagung zur Erstellung der Leitlinien am 5. April 2008 in Köln:

Ulrich Markus, Berlin; Dr. Günther Schmutz, Düsseldorf; Dr. Milo Huber, Zürich; Dr. Hartwig Klinker, Würzburg; Prof. Georg Behrens, Hannover; Dr. Birger Kuhlmann, Hannover; Dr. Jens Reimer, Hamburg.

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