RAPHAELA BASDEKIS-JOZSA, WOLFGANG BERNER, PEER BRIKEN, HAMBURG
Sexsucht? - Implikationen für den klinischen Alltag

In der Beratung und Behandlung HIV-infizierter Patientinnen und Patienten hat sexuelles Risikoverhalten eine besondere Bedeutung. Dabei ist es für den Behandler wichtig, Übergänge zwischen riskanten Verhaltensweisen und dem Beginn bzw. dem Bestehen eines süchtigen, d.h. exzessiven sexuellen Verhaltens frühzeitig zu erkennen, um mögliche gesundheitliche Schäden zu begrenzen und andererseits eine geeignete Therapie einzuleiten.

Das Auftreten eines riskanten oder suchtähnlich verlaufenden Sexualverhaltens HIV-infizierter Patientinnen und Patienten wirft eine Reihe von Problemen auf. Dieser Artikel fokussiert auf dieses Thema bei Männern, die sexuelle Kontakte zu Männern haben (MSM). Wahrscheinlich spielt in diesem Zusammenhang die Benutzung des Internet eine große Rolle, da sowohl homo- als auch bisexuelle Männer - stärker als heterosexuelle Männer - dieses Medium für die Kontaktaufnahme im Vorfeld sexueller Aktivitäten nutzen.1 Unter dem Gesichtspunkt der steigenden Zahlen HIV-Infizierter unter der Gruppe der MSM hat das Internet mit seiner breiten Zugangsmöglichkeit und seinem vielfältigen Angebot eine besondere Bedeutung, insbesondere für diejenigen, denen die Kontrolle über ihr sexuelles Verhalten Schwierigkeiten bereitet. Für den Behandler besteht die Notwendigkeit, eine Abgrenzung zwischen sexuellen Spielarten, risikoreichem Sexualverhalten (z.B. als Ausdruck von Impulsivität) oder einer sexuell süchtigen Entwicklung zu finden.

NICHT-STOFFGEBUNDENE SUCHT

Die so genannten Verhaltenssüchte haben in den letzten Jahren immer wieder zu kontroversen Diskussionen über die Ätiologie bzw. die diagnostische Einordnung der bestehenden Symptomatik geführt. Dabei geht es eher generell um die Frage einer Zuordnung exzessiver Verhaltensweisen, die nicht mehr unter der Kontrolle der Betroffenen zu stehen scheinen, zu negativen Konsequenzen sowohl in medizinischer als auch sozialer Hinsicht führen und durch die ein deutlicher Leidensdruck bei den Betroffenen erzeugt wird, in Abgrenzung zu den stoffgebundenen Süchten.

Zu dieser allgemeinen Definition von nicht-stoffgebundenen Süchten gehören das pathologische Glücksspiel, Arbeits-, Computer-, Fernseh-, Kauf-, Sport- und eben Sex"sucht", wobei in diesem Diagnosenkatalog das pathologische Glücksspiel bereits einen eigenen Platz in den Internationalen Diagnosechecklisten2 gefunden hat. Es wurde den Störungen der Impulskontrolle zugeordnet, die ihrerseits den Zwangsspektrumsstörungen nahe stehen. Zu diesen Störungen gehören z.B. auch das pathologische Stehlen und die pathologische Brandstiftung (ICD 10, Kapitel F63). Auch die verschiedenen Formen von Störungen des Essverhaltens haben einen eigenen Platz erhalten, sie wurden den Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung mit körperlichen Störungen oder Faktoren (ICD 10, Kapitel F5) zugeordnet.

Die Definition von stoffgebundener Abhängigkeit beinhaltet selbstschädigendes Verhalten, sie kennt exzessives Verlangen, Kontrollverlust, negative gesundheitliche und soziale Konsequenzen, Toleranzentwicklung, Dosissteigerung und psychische sowie körperliche Entzugserscheinungen. Psychotrope Substanzen werden eingesetzt, um negative Affekte zu modulieren und das Selbstwertgefühl positiv zu beeinflussen. Vergleichbare Symptome werden auch bei manchen Patienten gefunden, deren sexuelles Verhalten in süchtig wirkender Weise außer Kontrolle zu geraten scheint.

PROBLEM: GESELLSCHAFTLICHE NORMEN

Dennoch gibt es auch Unterschiede zwischen den stoffgebundenen und nicht-stoffgebundenen Süchten. Am offensichtlichsten wird das vielleicht im Hinblick auf das Therapieziel. Bei stoffgebundenen Abhängigkeitserkrankungen steht häufig die Abstinenz im Vordergrund, die im Falle von sexuell süchtigen Patienten kein Ziel sein kann. Wichtiger erscheinen die sozialen Implikationen, die Gefahr, eine Phänomenologie aus einer moralischen Be- bzw. Verurteilung zu entwickeln, in der richtiger und falscher Sex definiert werden sollen. Richtig sei eine vorzugsweise liebende, natürliche Intimität innerhalb einer langandauernden, monogamen, eheähnlichen Beziehung. Gegenübergestellt wird eine flüchtige Sexualität, die geprägt ist von Pornographiekonsum, der Benutzung von Sexspielzeugen und sexuellen Stimulantien, sexuellen Rollenspielen, Phantasien und Handlungen mit paraphilen Inhalten - bis hin zu sexuell delinquentem Verhalten. Daneben werden oft gute und schlechte Gründe für Sex unterschieden. Gute Gründe für Sex seien eine hingebungsvolle Beziehung mit einem Lebenspartner zu bereichern und Intimität zu fördern. Schlecht sei die kurzdauernde Befriedigung körperlicher Lust, die Ausübung sexuellen Verhaltens als Flucht vor Einsamkeit und depressiven Gefühlen oder das Ausleben sadistischer Neigungen.

NICHT-DEVIANTE STÖRUNG

Es ist somit wichtig, nicht unbedacht das Konzept von Abhängigkeitserkrankungen über eine Symptomatik exzessiven sexuellen Verhaltens stülpen zu wollen. Klinisch sinnvoll und hilfreich ist es, zwischen besonderen (bzw. devianten) Formen von Sexualität wie z.B. Exhibitionismus, Pädophilie und Sadismus (den so genannten Paraphilien oder Störungen der Sexualpräferenz) auf der einen Seite, und exzessiv verlaufenden, nicht-devianten Formen wie Pornographiekonsum, Internet- oder Telefonsex etc., die zu klinisch relevanten Schwierigkeiten führen, andererseits zu unterscheiden. Unsere Arbeitsgruppe3, 4 hat vorgeschlagen, für die nicht devianten Formen mit Störungscharakter den Begriff der "Paraphilie verwandten Störung" anstatt "sexueller Sucht" zu verwenden. Sofern zusätzlich auch Paraphilien auftreten, kann dies ein Hinweis auf den besonderen Schweregrad sein, der u.U. auch die Gefahr bergen kann, dass der Betroffene ein Risiko für fremdgefährdendes Verhalten hat.5, 6

PATHOPHYSIOLOGISCHES KONZEPT

Abb. 1: Differentialdiagnostik bei paraphilen und nicht paraphilen Formen sexuell "süchtiger" Syndrome nach Briken
Abb. 1: Differentialdiagnostik bei paraphilen und nicht paraphilen Formen sexuell "süchtiger" Syndrome nach Briken3, 4

Das Konzept der sexuellen Sucht wurde Mitte der 70er Jahre aus Kreisen einer Bostoner Selbsthilfegruppe der Anonymen Alkoholiker eingeführt, aus der ein Mitglied sein aus seiner Kontrolle geratenes sexuelles Verhalten selbst als Sexsucht identifizierte und Parallelen zu seiner Alkoholabhängigkeit herstellte.7 Weiterentwickelt wurde diese Idee vor allem von Carnes 19838, der die Symptome der "Sexsucht" denen der Abhängigkeitserkrankungen zuordnete, was vor allem aufgrund befürchteter moralisierenden Tendenzen und einer mangelhaften empirischen Datenlage auf Kritik stieß.9

Natürlich haben auch neuere Erkenntnisse der Hirnforschung dazu beigetragen, exzessive Verhaltensweisen näher an die stoffgebundenen Abhängigkeitserkrankungen zu rücken. So wissen wir heute, dass das Belohnungssystem unseres Gehirns (N. accumbens und die Amygdala) durch verschiedene Neurotransmitterausschüttungen (z.B. Dopamin) angeregt wird. Eine besonders ausgeprägte Ausschüttung kann sowohl mit dem Konsum psychotroper Substanzen einhergehen, steht aber möglicherweise auch im Zusammenhang mit exzessiv betriebenem Verhalten bei Sport, Einkaufen, Fernsehen und Sex. Analog gehen manche Forscher davon aus, dass alles, was zu einer Aktivierung des Belohnungssystems führen kann, auch ein Suchtpotential besitzt.

In den gängigen Klassifikationssystemen wie der ICD-10 bzw. DSM-IV-TR10 existiert keine eigene Kategorie für "sexuelle Sucht". So kann in der ICD-10 eine derartige Symptomatik entweder als "gesteigertes sexuelles Verlangen" (F52.7) bzw. eine "(sonstige) Störung der Sexualpräferenz (F65.8) oder "Störung der Impulskontrolle (F63.8) diagnostiziert werden. In dem DSM-IV-TR wird "sexuell süchtiges Verhalten" als "sexual disorder, not otherwise specified" bzw. "paraphilia, not otherwise specified" (beides 302.9) kategorisiert, differentialdiagnostisch kommt auch hier die Diagnose einer "impulse control disorder, not otherwise specified" (312.30) infrage.

HÄUFIGKEIT

  1. Niedrige Zugangsschwelle
  2. Mannigfaltigkeit des Materials
  3. Grenzenloser Markt
  4. Verschwimmen der Grenzen zwischen Konsument, Produzent und Anbieter
  5. Verfügbarkeit devianterer, z.T. gewalttätigerer Pornographie
  6. Interaktive Kommunikation mit gegenseitiger Beeinflussung von Phantasien bzw. realem Verhalten
  7. Raum zum Experimentieren zwischen Phantasie und "real life"-Verhalten
  8. Annahme virtueller Identitäten (Anonymität)
  9. Leichte, unbegrenzte Vernetzung
Tab. 1: Sexuelles Material im Internet: Gründe für eine Begünstigung der Entwicklung sexuell süchtigen Verhaltens nach Hill 19

Bisher gibt es keine genauen epidemiologischen Erhebungen zur Häufigkeit von sexuell süchtigem Verhalten. Schätzungen aus dem angloamerikanischen Raum gehen von einem Anteil von etwa 4% der Gesamtbevölkerung aus11, 12, für Deutschland existieren keine Angaben. Dabei wird bezüglich der Geschlechterverteilung von einem Verhältnis von 3 bzw. 4:1 von Männern gegenüber Frauen ausgegangen.

ÄTIOLOGIE BZW. RISIKOFAKTOREN

Bislang existieren verschiedene, z.T. recht unspezifische Hypothesen darüber, wie sexuell süchtiges Verhalten entsteht. Neben den diskutierten biologischen Modellen, die - ähnlich anderen biologischen Modellen für psychiatrische Erkrankungen - von einer erhöhten Vulnerabilität des Gehirns für (in diesem Fall) Abhängigkeitserkrankungen oder Störungen der Impulskontrolle im weitesten Sinne ausgehen und damit auch die relativ hohe Komorbiditätsrate der Betroffenen zu stoffgebundenen Abhängigkeitserkrankungen (bis zu 40%) zu erklären versuchen13, 14, 15, wird immer wieder auch auf frühe Traumatisierungen wie z.B. den selbst erlebten sexuellen Missbrauch als potentieller Risikofaktor hingewiesen.16, 17

Untersuchungen an nicht-klinischen Stichproben weisen darauf hin, dass bei manchen Menschen mit gleichzeitig bestehender Ängstlichkeit, Bedrücktheit oder Depressivität sexuelles Verlangen und sexuelle Aktivität zunehmen. Dies wurde häufiger bei Männern als bei Frauen beobachtet und scheint vor allem bei solchen Männern aufzutreten, die physiologisch eher stark erregbar sind und gleichzeitig über nur wenige Kontrollmechanismen verfügen (vgl. 18).

CYBERSEX

WORAN KANN MAN SEXUELL "SÜCHTIGES" VERHALTEN ERKENNEN?

Trotz aller Schwierigkeiten, sexuell süchtiges Verhalten phänomenologisch zu erfassen, sind die Symptome, über die die Patienten klagen, relativ einheitlich. So beschreiben die meisten der Patienten (nach Carnes13):

  • eine Zunahme der Wichtigkeit sexueller Aktivität mit Vernachlässigung anderer Interessen und sozialer Aktivitäten
  • Kontrollverlust
  • Fortsetzung des Verhaltens trotz negativer Konsequenzen, unter Umständen erheblicher Eigen- (manchmal auch Fremd-)gefährdung
  • Unfähigkeit, das Verhalten zu beenden
  • progressiven Verlauf
  • sexuelle Aktivität als primäre Coping-strategie
  • Toleranzentwicklung
  • Schwerwiegende Affektveränderungen
  • Sexuelle Aktivitäten (bzw. die Beschäftigung mit sexuellen Inhalten und die Zeit nach sexueller Aktivität) nehmen die meiste Zeit des Tages ein

Als erster Schritt einer Diagnostik ist die Durchführung einer Sexualanamnese notwendig. Um spezifisch ein mögliches sexuell süchtiges Verhalten zu explorieren, können dann orientierend folgende Fragen gestellt werden (Tab. 2).

Daneben stehen für die Untersuchung verschiedene Instrumente zur Verfügung, wie z.B. der Screeningtest nach Carnes21 (Tab. 3).

International eingesetzt werden bereits mehrere spezifische Fragebögen zur Erfassung sexueller Verhaltensstörungen (Tab. 4).


  1. Hatten Sie jemals wiederkehrende Schwierigkeiten, Ihr sexuelles Verhalten zu kontrollieren?
  2. Hatte Ihr sexuelles Verhalten negative Konsequenzen (juristische, in der Partnerschaft, im Beruf, medizinisch z.B. sexuell übertragbare Erkrankungen)?
  3. Gab es Versuche, das Verhalten zu verheimlichen und/oder Schamgefühle?
  4. Hatten Sie jemals das Gefühl, zuviel Zeit mit sexuellen Aktivitäten zu verbringen?
  5. Hatten Sie jemals das Gefühl, einen ausgeprägten sexuellen Trieb zu haben? Hatten Sie z.B., wenn man sowohl Masturbation als auch Geschlechtsverkehr mit einem Sexualpartner berücksichtigt, sieben Mal oder häufiger pro Woche Sex über einen Zeitraum von 6 Monaten seit Ihrer Adoleszenz? Wenn ja, wann war das? Hat dieses Verhalten länger als 6 Monate angedauert?

Wird eine oder mehr Fragen mit "ja" beantwortet, sollte genauer nach Paraphilien bzw. Paraphilie verwandten Störungen gefragt werden.

Tab. 2: Screeningfragen für die weitere Diagnostik von Paraphilie verwandten Störungen nach Kafka20


  1. Sind Sie als Kind oder Jugendlicher sexuell missbraucht worden?
  2. Haben Sie eindeutige Sex-Magazine abonniert oder regelmäßig gekauft?
  3. Hatten Eltern sexuelle Probleme?
  4. Haben Sie bei sich oft festgestellt, dass Sie in Gedanken sexuellen Inhalts versunken sind?
  5. Haben Sie das Gefühl, Ihr sexuelles Verhalten ist nicht normal?
  6. Macht Ihr/Ihre Partner/in (oder sonstige nahestehende Person) sich Sorgen oder beklagt sich über Ihr Sexualverhalten?
  7. Haben Sie Schwierigkeiten, Ihr sexuelles Verhalten abzubrechen, wenn Sie wissen, dass es unpassend ist?
  8. Haben Sie sich jemals schlecht gefühlt wegen ihres Sexualverhaltens?
  9. Hat Ihr Sexualverhalten jemals Ihnen oder anderen Ihnen nahe stehenden Personen Probleme bereitet?
  10. Haben Sie jemals Hilfe gesucht wegen eines Sexualverhaltens, das Ihnen unangenehm war?
  11. Sind Sie jemals besorgt gewesen, andere Menschen könnten über Ihr Sexualverhalten Kenntnis erlangen?
  12. Ist jemand durch Ihr Sexualverhalten emotional verletzt worden?
  13. Sind irgendwelche Ihrer sexuellen Vorlieben gegen das geltende Gesetz?
  14. Haben Sie den Vorsatz gefasst, einige Aspekte Ihres Sexualverhaltens aufzugeben?
  15. Haben Sie sich bemüht, eine Art Ihres sexuellen Verhaltens aufzugeben und sind dabei gescheitert?
  16. Müssen Sie einige Aspekte Ihres Sexuallebens vor anderen verbergen?
  17. Haben Sie versucht, einige Teile Ihrer sexuellen Aktivitäten aufzugeben?
  18. Haben Sie sich irgendwann einmal erniedrigt gefühlt durch Ihr Sexualverhalten?
  19. Ist Sex für Sie eine Möglichkeit gewesen, vor Ihren Problemen zu fliehen?
  20. Wenn Sie Sex haben, fühlen Sie sich anschließend niedergeschlagen/deprimiert?
  21. Haben Sie die Notwendigkeit gefühlt, mit einer bestimmten Form sexueller Aktivität aufzuhören?
  22. Ist Ihre sexuelle Aktivität mit Ihrem Familien-/Privatleben kollidiert?
  23. Sind Sie einmal Minderjährigen sexuell nahe gewesen?
  24. Fühlen Sie sich durch Ihr sexuelles Verlangen bestimmt oder kontrolliert?
  25. Denken Sie, dass Ihr sexuelles Verlangen stärker ist als Sie?

*13 oder mehr mit "ja" beantwortete Fragen geben einen starken Hinweis auf sexuell süchtiges Verhalten

Tab. 3: Screening Test für sexuell "süchtiges" Verhalten nach Carnes21*


Sexual Addiction Screening Test (SAST),21

Sexual Dependence Inventory-Revised (SDI-R),22

The Gast and Bisexual Male Sexual Addiction Screening Test (G-SAST),23

Women's Sexual Addiction Test (W-SAST),24

Online Sexual Addiction Questionnaire (OSA-Q),25: www.onlinesexaddict.com/osaq.html

Sexual Behaviors Inventory for Male (SBI-M) and Female (SBI-F),26

Sexual Sensation Seeking and Compulsivity Scale von Kalichmann und Rompa (SCS),27

Tab. 4: Screening-Instrumente für sexuelle Verhaltensstörungen

Über diese distalen Ursachen hinaus ist es wichtig, die spezifische Verstärkerfunktion sexueller Reize als so genannte proximale Auslöser4 nicht zu vernachlässigen. Sexuelle Reize sind heute ohne größeren Aufwand jedermann zugänglich - z.B. über die Nutzung von Internetpornographie und Cybersex. Das Internet spielt dabei, wie bereits erwähnt, aus verschiedenen Gründen eine wichtige Rolle (vgl. Tab. 1).

Das eigentliche Suchtpotential liegt wahrscheinlich in der wechselseitigen Begünstigung von Medium und lusterzeugender Wirkung. Bei der Entwicklung eines sexuell exzessiven Verhaltens kommt es häufig nach primärem Überwiegen der lustverstärkenden Funktion von Sex zu einem Überwiegen der negativen Verstärkerfunktion im Sinne einer Reduktion von z.B. Angst und Depression. Häufige Auslöser für eine Symptomeskalation sind z.B. partnerschaftliche oder berufliche Krisen.

Natürlich kann das Internet auch eine Reihe positiver Auswirkungen auf sexuelle Verhaltensweisen haben. So kann die Kontaktaufnahme zwischen potentiellen Partnern erleichtert werden, sexuelle Kontakte über das Internet können sicherer sein als reale Begegnungen (z.B. online cruising), das Internet kann Informationsquelle sein und zu Beratungszwecken nutzbar gemacht werden.

RISKANTER SEX

Inzwischen existieren auch Untersuchungen, die einen Zusammenhang zwischen einer sexuell süchtigen (oder zwanghaften) Symptomatik, riskantem Sexualverhalten und dem Vorliegen sexuell übertragbarer Erkrankungen nahe legen. Insbesondere bei zusätzlicher Stimulation mit Alkohol und anderen psychotropen Substanzen (z.B. Metamphetaminen) scheint die Gefahr für riskantes Sexualverhalten (z.B. ungeschützten Analverkehr, barebacking) groß. Daneben bestehen allerdings eine Reihe weiterer Einflussfaktoren auf riskantes Sexualverhalten, so dass keinesfalls automatisch auf eine sexuell süchtige Symptomatik zurück geschlossen werden kann.28, 29, 30, 31

So ist eine zugrunde liegende Impulsivität häufig ebenfalls mit riskantem Sexualverhalten verbunden. In bisherigen Untersuchungen konnten allerdings keine erhöhten Raten von HIV-Infektionen bei Patienten mit ausgeprägt impulsivem Sexualverhalten gefunden werden, dafür waren aber die Infektionsraten anderer sexuell übertragbarer Erkrankungen wie Gonorrhoe, Hepatitis A und B, Herpes und Syphilis erhöht.29 Insgesamt konnte in verschiedenen Untersuchungen ein Zusammenhang zwischen starker sexueller Erregbarkeit, sexuell impulsivem Verhalten und einer größeren Wahrscheinlichkeit für ungeschützten Geschlechtsverkehr gefunden werden.28, 32 Das Internet spielt hier eine uneindeutige Rolle: einerseits erleichtert es das Eingehen sexueller Kontakte, die ohne dieses Medium vielleicht nicht zustande gekommen wären, andererseits benutzen es auch viele anstelle eines persönlichen sexuellen Kontaktes, wodurch es zu einer Risikominimierung bezüglich sexuell übertragbarer Erkrankungen kommen könnte.30, 36 Insgesamt zeigen diese Untersuchungen zu sexuellem Risikoverhalten, dass dieses nicht auf eine "süchtige Grundstruktur" der Patienten reduziert werden sollte, sondern dass hier auch das Selbstverständnis der eigenen Sexualität im gesellschaftlichen Kontext eine große Rolle spielt.

THERAPEUTISCHE MÖGLICHKEITEN

Nach einer eingehenden Diagnostik sollte bei gleichzeitig bestehenden stoffgebundenen Abhängigkeitserkrankungen zunächst diese behandelt werden, d.h. der Betroffene sollte eine teil-/stationäre oder ambulante Entzugs- und anschließend eine Entwöhnungsbehandlung durchführen, bevor weitere therapeutische Schritte bezüglich des sexuell süchtigen Verhaltens eingeleitet werden.

Wichtig ist dabei, dass nicht erwartet werden kann, dass durch die Therapie der stoffgebundenen Abhängigkeitserkrankungen schon eine ausreichende Behandlung des sexuell süchtigen Verhaltens stattgefunden hat. Oftmals kommt es nach einer Entzugsbehandlung zu einer Verstärkung der sexuellen Aktivitäten, was ein Risiko für die Betroffenen darstellen kann, bezüglich ihrer stoffgebundenen Sucht erneut rückfällig zu werden.

Darüber hinaus ist es notwendig, sein Augenmerk auch auf weitere komorbide Störungen wie z.B. Depressionen, Angststörungen, Paraphilien oder Persönlichkeitsstörungen zu richten. Ebenfalls ist es wichtig, das Vorliegen organischer Ursachen wie eine Störung im Hormonstoffwechsel oder neurologische Störungen auszuschließen bzw., falls vorhanden, notwendige weitere therapeutische Schritte einzuleiten.

PSYCHOEDUKATION

In der sich anschließenden Therapie des sexuell süchtigen Verhaltens sollte zunächst ein Schwerpunkt auf einem psychoedukativen Therapieansatz liegen, indem das Problembewusstsein und damit die Motivation gefördert werden.

Zur Stimuluskontrolle ist es häufig notwendig, dass Patienten sich von möglichen Auslösern wie z.B. der Pornographiesammlungen oder dem Internetzugang trennen bzw. Wege suchen, sich mehr Kontrolle zu verschaffen, z.B. eine Kontroll-Software zu installieren o.ä. Ein nächster Schritt ist die Identifizierung von Risikosituationen, die das Verhalten triggern (z.B. Alkoholkonsum, Stress bei der Arbeit, das Aufsuchen bestimmter Orte, an denen nach Sexualpartnern gesucht wird etc.).

Im weiteren Therapieverlauf geht es um die Entwicklung von Handlungsalternativen. Hierzu gehört die Aufarbeitung von mit der Entstehung des sexuell süchtigen Verhaltens direkt oder indirekt verbundenen psychischen Problemen wie z.B. frühe Traumatisierungen, Stress- und Wutmanagement, Umgang mit Schuld- und Schamgefühle etc.

ABSTINENZ - KEIN ZIEL

Soziale Isolation und Einsamkeit stellen ein weiteres Problem mancher Betroffener dar. Hier gilt es im Rahmen einer supportiven Maßnahme die Patienten in dem schwierigen und oft langwierigen Unterfangen, neue soziale Kontakte zu knüpfen, zu unterstützen. Damit verbunden ist der Aufbau einer individuell befriedigenden Sexualitätsform ohne selbst- oder fremdschädigenden Charakter. Sexuelle Abstinenz kann kein therapeutisch zu verfolgendes, dauerhaftes Ziel sein. Sexualität soll als Ressource entwickelbar und lebbar werden.

AS-Anonyme Sexaholiker, Postfach 1262, 76002 Karlsruhe, arbeitet nach dem 12-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker
E-Mail: info@anonyme-sexsuechtige.de
weitere Literaturhinweise: literatur@anonyme-sexsuechtige.de

SLAA, Sex- und Liebessüchtige Anonym - The Augustine Fellowship, Postfach 1352,?65003 Wiesbaden, arbeitet nach dem 12-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker E-Mail: SLAA-Dienstbuero@gmx.de oder info@slaa.at

S-Anon, für Angehörige von Sexsüchtigen, E-Mail: deutsch@sa.org, arbeitet nach dem 12-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker

Für das Erreichen der genannten Ziele kann es u.U. auch hilfreich sein, den Betroffenen nahe stehende Personen wie z.B. Angehörige, Freunde, Kollegen nach Absprache mit einzubeziehen.33 Dabei ist es wichtig, diese Personen nicht mit Kontroll- und Überwachungsaufgaben zu betrauen und damit zu überfordern. Bei der Einbeziehung Nahestehender geht es vielmehr darum, Schamgefühle der Betroffenen abzubauen und mögliche Ansprechpartner für Krisensituationen zu schaffen.

Ein weiterer wichtiger Baustein der Therapie können Selbsthilfegruppen sein. Hier gibt es in Deutschland bisher zwei Gruppenformen für Betroffene und eine für Angehörige (siehe Kasten rechts oben).

Bisher wird im deutschsprachigen Raum hauptsächlich einzeltherapeutisch, sowohl tiefenpsychologisch als auch verhaltens-therapeutisch, mit Patienten mit sexuell süchtigem Verhalten gearbeitet. Gruppentherapeutische und stationäre Angebote stellen noch eine Ausnahme dar. Auch die Inanspruchnahme von Selbsthilfegruppen ist keineswegs die Regel.

ADJUVANT SSRI

Abhängig von der Schwere der Symptomatik kann zu Beginn der Behandlung auch eine medikamentöse Therapie begleitend angezeigt sein. Hierfür werden vor allem Antidepressiva aus der Gruppe der Selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) eingesetzt. Diese Substanzgruppe wird auch erfolgreich bei der Behandlung von Erkrankungen aus dem Spektrum der Angst- und Zwangserkrankungen wie auch in der Behandlung von Impulskontrollstörungen eingesetzt. Seit Anfang der 90er werden diese Substanzen auch in der Therapie von sexuell süchtigen Syndromen eingesetzt, allerdings liegt bisher nur eine kontrollierte Studie vor.34, 35

Literatur beim Verfasser

Ausgabe 1 - 2009Back

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