Streiflicht
Die Erde ist eine Scheibe!

Manchmal sind es Kleinigkeiten, die nachhaltig Vertrauen zerstören.

AIDS-Hysterie

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Abb. 1: Transmissionsrisiko für 100 Sexualakte bei diskordanten MSM-Paaren

Mitte der 1980er Jahre tobte die AIDS-Hysterie in Deutschland. Mindestens dreimal in der Woche gab es Sondersendungen im Fernsehen, in denen uns so genannte Experten vorrechneten, dass bis zur Jahrtausendwende San Francisco und NY menschenleer sein würden. Präventionsvorschläge: Anonymen Sex meiden, Kondome benutzen, Infizierte im Krankenhaus absondern und kennzeichnen, Reisebeschränkungen und Offenbarungspflicht für Positive.

Tschernobyl-Hysterie

Ende April 1986 war diese mediale Woge gerade etwas abgeebbt, als die Tschernobyl-Katastrophe geschah - und wieder Sondersendungen mit neuen Experten und einer ähnlichen Botschaft. Die Folgen von Tschernobyl würden die Menschheit schneller auslöschen als AIDS, allerdings voraussichtlich erheblich qualvoller. Präventionsvorschläge: Kein Verzehr von Obst und Gemüse, Milch möglichst nur aus Südamerika, von Schwangerschaften Abstand nehmen, ansonsten die Kinder für die nächsten 24.000 Jahre nicht ins Freie lassen.

Kondom-Hysterie

Gut zwei Jahrzehnte später. Das Jahr 2008 bescherte uns die abgebildete Modellrechnung zur Übertragungswahrscheinlichkeit von HIV. Ich beschreibe - ohne Wertung - was ich darauf sehe:

  1. Die höchste Übertragungswahrscheinlichkeit für HIV in diesem Rechenbeispiel besteht beim Sex ohne Kondom.
  2. Das Risiko ist viel geringer, wenn immer Kondome benutzt werden.
  3. Werden Kondome nur in 80% der Fälle benutzt, ist das Risiko viel weniger stark reduziert.
  4. Antiretrovirale Therapie senkt das Übertragungsrisiko etwa so stark wie die konsequente Benutzung von Kondomen.
  5. Kombiniert man Kondome und antiretrovirale Therapie, ist das Risiko am geringsten, nämlich optisch nahe der Nulllinie.

Kondom-Experten

Soweit die Wissenschaft. Nun die zu diesem Thema kürzlich öffentlich geäußerten (Experten-)Meinungen:

  1. Papst Benedikt XVI, 2009: „Kondome verschlimmern das AIDS-Problem“
  2. Überschrift des EKAF-Papiers, 2008: „HIV-infizierte Menschen ohne andere STD sind unter wirksamer antiretroviraler Therapie sexuell nicht infektiös
  3. Amtsgericht Nürtingen, 2008: „Kein Ansteckungsrisiko durch einen wegen fahrlässiger Körperverletzung Angeklagten, der HIV-infiziert und antiretroviral behandelt ist und in 192 Fällen ungeschützten Verkehr mit seiner Partnerin hatte.“
  4. Staatsanwalt Neuber, Darmstadt, lässt – mit Benachrichtigung der Presse – 2009 die Sängerin Nadja B. verhaften und stellt deren angebliche (antiretroviral behandelte?) HIV-Infektion öffentlich bloß mit der Begründung einer nur so zu erzielenden Gefahrenabwehr: „Wir haben festgestellt, dass die junge Frau, die selbst HIV positiv ist, ungeschützten Geschlechtsverkehr mit mindestens drei Personen hatte.“
  5. Der hessische Justizminister Jörg-Uwe Hahn (FDP) weist Wochen danach jede Kritik an der Verhältnismäßigkeit des Vorgehens der Staatsanwaltschaft Darmstadt zurück.
  6. MdB Siegmund Ehrmann (SPD) zu eben dieser Verhaftung, 2009: „Wenn jemand seinen Körper als Bio-Waffe einsetzt, ist umfassende Berichterstattung ein dringendes öffentliches Anliegen“.

Ich unterstelle den genannten Personen und Institutionen durchweg redliche Motive, gute Absichten und hohes Engagement. Trotzdem: alle genannten Aussagen berühren mich emotional in unangenehmer Weise. Woran liegt das?

Kondom-Propaganda

In allen Fällen hat man den Eindruck, dass hier nicht die abwägende und wahrheitsgemäße Darstellung von Tatsachen im Vordergrund steht, sondern die Erhöhung der eigenen Meinung, die Ausübung von Macht und womöglich auch eine Abwertung von Kritikern. Im Dienst einer selbst empfundenen guten Mission – so wie in den besagten Nachrichten über Tschernobyl – wird eine nicht einschätzbare Gefahr bzw. die Verminderung von Gefahr zum „Null-Risiko“ erklärt. Und nach dem selben Motto „Verfälschen durch unzulässiges Vereinfachen“ handelt auch die Gegen-Reaktion und kommt so am selben Exempel zu diametral gegensätzlichen Schlüssen: Von Justiz und Politik werden minimale und kalkulierbare Risiken dämonisiert, vermutete Tatbestände als erwiesen konstatiert und eine infizierte Frau gar öffentlich zur heimtückischen Bio-Waffe erklärt.

Kondom-Fundamentalismus 

Die Erde ist eine Scheibe. Wer das Gegenteil behauptete, kam im Mittelalter auf den Scheiterhaufen… Nicht alle wissen, dass die Annahme, die mittelalterliche Christenheit habe an eine Erdscheibe geglaubt, erwiesenermaßen historischer Unsinn ist. Aber es passt uns gut ins Konzept, wenn wir uns dieser früheren Epoche gegenüber überlegen fühlen wollen. Vielleicht empfinden unsere Nachfahren so ähnlich, wenn sie Jahrhunderte später auf unseren fundamentalistisch anmutenden Streit um den Wert des Kondoms zurückblicken.

Ausgabe 2 - 2009Back

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