Leserbrief / Kommentar zu HIV-Streiflicht:
In der Not frisst der Teufel Fliegen (HIV&More 3/2009)

Als ich den Beitrag in der Streiflicht-Kolumne auf dem DAGNAE Workshop in Köln das erste Mal las, hätte ich nie daran gedacht, darauf je eine gedruckte Erwiderung zu schreiben. Erstens ist es weniger sinnvoll über Meinungen und Deutungshoheiten zu streiten als über Inhalte und Ergebnisse. Zweitens ist Wissenschaft zwar oft ein empfindliches Pflänzchen, aber sie muss inhaltliche Kritik aushalten können. Bedenklich wird es allerdings dann, wenn die verschiedenen – vielleicht berechtigten – Ebenen einer Kritik letztlich die am wenigsten von Kritik berührte inhaltliche Ebene in Misskredit bringen. Diese Gefahr sehe ich persönlich für die – im Streiflicht nicht ausdrücklich genannte – Patientenpräferenzen-Studie unter der Studienleitung von Prof. Axel Mühlbacher, um die es hier geht.

Die Studie richtet sich mittels Fragebögen direkt und exklusiv an die Patienten. Sie ist gesponsert vom Arzneimittelhersteller Tibotec. Die Fragebögen wurden über das Kompetenznetz HIV/AIDS an die teilnehmenden Zentren verteilt. Die Ergebnisse werden von einem unabhängigen Institut, der Gesellschaft für Empirische Beratung mbH in Denzlingen und der Forschungsstelle von Herrn Mühlbacher ausgewertet.

Kritik wurde im Streiflicht an mehreren Punkten angedeutet bzw. geäußert:

  1. Redundante und möglicherweise für den Patienten missverständliche Fragen.
  2. Befremdlich anmutende oder trivial erscheinende Interessensabwägungen, die den Patienten abverlangt werden (z.B.: „Lieber einfacher und dafür etwas weniger wirksam“).
  3. Die fehlende Erkennbarkeit einer Beteiligung des Kompetenznetzes bei der wissenschaftlichen Analyse. Daraus folgend:
  4. Ein möglicher ethischer Konflikt, falls nicht veröffentlichte Ergebnisse der Analyse vorab zwar dem Sponsor, aber nicht dem von seinen Mitgliedern zu kontrollierenden Netzwerk und seinen Organen zugänglich gemacht werden.
  5. Eine mangelhafte vorbereitende Kommunikation und Diskussion über die Ziele der Studie und somit wenig Raum zur Mitsprache und -Gestaltung durch die teilnehmenden Zentren. Diese müssen daher davon ausgehen, weder eine wissenschaftliche noch eine finanzielle Anerkennung für Ihre Mitarbeit zu erhalten.
  6. Die Nähe zu ähnlichen Befragungen innerhalb der kommerziellen Marktforschung.

Die Mehrzahl der Punkte betrifft aus meiner Sicht ein Unbehagen über die interne Kommunikation innerhalb des Kompetenznetzes. Dass dies – offensichtlich aus dessen eigenen Reihen – öffentlich in dieser Form geäußert wurde, sollte ein Anlass für eine vermutlich notwendige, offene und netzwerksinterne Diskussion darüber sein. Die pointierte, ja polarisierende Wortwahl einer solchen Kolumne hat diesen Dialog bereits in Gang gebracht – und aus meiner Sicht ist weiteres aktives Mitmachen sehr gewünscht.

Nicht nur von netzwerkinternem Interesse sind aber die möglichen Kollateralschäden an der Patientenpräferenzen-Studie, die seit September etwas ins Stocken geraten ist. Deren Konzept ist für andere Krankheitsbilder bereits mehrfach erfolgreich durchgeführt und von Herrn Mühlbachers Gruppe publiziert worden. Die möglicherweise befremdlich wirkenden Fragestellungen sind bewusster Teil der Methode, genauso wie die Redundanzen, die quasi der internen Kontrolle der Reliabilität dienen. Das Sponsoring durch die pharmazeutische Industrie nimmt keinen Einfluss auf die Inhalte der Fragestellung und die Auswertung liegt allein bei einem unabhängigen Institut und dem – von allen Interessenskonflikten eines HIV-Behandlers unbelasteten – Studienleiter. Es handelt sich auch nicht um konzeptlose Wissenschaft im elfenbeinernen Turm. Vielmehr ist diese neue Form der Erhebung von Patientenpräferenzen ein neuerdings politisch stark gewolltes Instrument, dass in die Entscheidungsfindung bei der Allokation der Ressourcen im Gesundheitswesen einfließen soll. Sollte die Studie an internen Vorbehalten und gegenseitigem Misstrauen scheitern, wäre dies eine beispiellose Blamage für die gesamte HIV-Schwerpunktbehandlung vor externen Wissenschaftlern, der Community, der Politik und auch vor künftigen Sponsoren.

Deswegen appelliere ich an Sie, die bereits begonnene Patientenpräferenzstudie in unserer aller gemeinsamen Interesse weiterhin zu unterstützen. Innerhalb oder auch außerhalb des Kompetenznetzes. Der Aufwand wäre überschaubar: Das Verteilen von Fragebögen mit Freiumschlägen – oder alternativ der Verweis auf einen Internet-Link (www.hiv-befragung.de)*.

 

*Für die Beantwortung der Fragen benötigt ein Patient/in im Internet unter www.hiv-befragung.de ca. 15 Minuten. Die Befragung ist selbstverständlich freiwillig und vollständig anonym. Zugangscode befragung (Kleinbuchstaben), Passwort 2009.

Prof. Dr. med. Matthias Stoll, Sprecher des Scientific Boards Social Sciences and Public Health im Kompetenznetz HIV/AIDS

Klinik für Immunologie und Rheumatologie, Zentrum Innere Medizin, Medizinische Hochschule Hannover

Carl Neuberg Strasse 1 · D-30625 Hannover

Ausgabe 4 - 2009Back

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