Georg Behrens, Hannover
HIV und Osteoporose – eine behutsame Annäherung

In den Leitlinien der Europäischen AIDS-Gesellschaft (EACS) wurden erstmals Empfehlungen zu Diagnose, Prävention und Management von Knochenerkrankungen aufgenommen. Dieses Thema, das in der HIV-Medizin in den letzten Jahren zunehmend intensiv und durchaus kontrovers diskutiert wurde, leidet nach wie vor darunter, mehr Fragen aufzuwerfen, als Antworten zu geben.1-3

Die wenigen Daten aus klinischen Studien sind widersprüchlich und häufig schwer zu interpretieren. Noch schwieriger ist es, daraus Schlussfolgerungen für den klinischen Alltag zu ziehen. Bei vielen Behandlern und auch HIV-Patienten besteht ein gewisses Unbehagen, das beispielsweise die langsame Ausbildung einer Osteoporose in der Zukunft eine wesentliche Komplikation der HIV-Infektion und vielleicht auch der HIV-Therapie darstellen könnte. Leider liegt es in der Natur der Sache, dass Studien zur Langzeittoxizitäten zu keinem schnellen Ergebnis führen. So wurde auch in diesem Teil der Empfehlungen der behutsame Versuch gemacht, ausgehend von Empfehlungen für andere Patientengruppen Anleitungen für die Diagnostik noch zögerlicher für die Behandlung von HIV-Patienten herzuleiten. Berücksichtigt man, dass viele der Empfehlungen für seronegative postmenopausale Frauen gelten, wird schnell deutlich, wie schwer es ist, Empfehlungen für die Population von HIV-infizierten Menschen überzeugend wissenschaftlich zu untermauern. Dennoch lag es dem Panel am Herzen, hier einen Anfang zu wagen – auch wenn die Diskussion innerhalb der Autorengruppe nie wirklich zu einem Ende kam.

HIV-INFEKTION BEGÜNSTIGT OSTEOPOROTISCHE FRAKTUR

Die Knochendichtemessung mittels DEXA-Methode korreliert hoch signifikant mit der Gesamtknochenfestigkeit. Für klinische Endpunkte wie osteoporotische Frakturen sind aber nicht nur Knochendichte, sondern auch andere Faktoren essentiell. So haben trotz gleich erniedrigter Knochendichte Menschen höherer Altersstufen eine deutlich höhere Zehnjahresfrakturwahrscheinlichkeit als jüngere Menschen. Zu osteoporotischen Frakturen bei HIV-Patienten gibt es nur sehr wenige Daten. Diese jedoch deuten auf eine signifikant höhere Rate an osteoporotischen Frakturen bei HIV-positiven Männern wie auch Frauen. Die Rate für HIV-Infizierte männliche Personen lag bei 3,08 pro 100 Personenjahre verglichen mit 1,83 pro 100 Personenjahre bei seronegativen Personen. Diese Unterschiede gelten sowohl für Wirbel-, Hüft- als auch Handgelenkfrakturen. Ältere HIV-infizierte Menschen, vor allem jenseits des 60. Lebensjahres, haben ein deutlich höheres Risiko für osteoporotische Frakturen.

HÄUFIGER OSTEOPENIE

Eine Reihe von Querschnittsuntersuchungen hat die Prävalenz von reduzierter Knochendichte (Osteopenie) bei HIV-infizierten Menschen untersucht. Diese Studien kommen zu überraschend ähnlichen Ergebnissen. Mit einer Prävalenz von ca. 65-70% ist die Osteopenie bei HIV-Infizierten rund doppelt so häufig wie bei nicht HIV-Infizierten.4 Die Osteoporosehäufigkeit bei HIV-infizierten Menschen liegt bei ungefähr 15%. Typische Risikofaktoren sind niedriges Gewicht, Dauer der HIV-Infektion, Rauchen, kaukasische Ethnizität, Steroidtherapie, weibliches Geschlecht, hohe Viruslast und Dauer der NRTI-Therapie. Das Risiko einer Knochendichtedefizienz bei Patienten unter Therapie wird mit einer Odds-Ratio von 2,5 (Konfidenzintervall 1,8 bis 3,7) angegeben, wobei spezifische Assoziationen zu Medikamenten schwierig zu analysieren sind. Viele der Studien konnten für relevante Cofaktoren nicht adjustieren und erschweren so die Interpretation.

EINFLUSS DER THERAPIE

In prospektiven Studien beobachtet man häufig einen Abfall der Knochendichte innerhalb der ersten Monate nach Therapieeinleitung, gefolgt von einem relativ stabilen Verlauf der Knochendichteentwicklung. In der SMART-Studie – ein weiteres überraschendes Ergebnis dieser Studie – zeigte sich in der Patientengruppe mit kontinuierlicher Therapie über den Zeitraum von vier Jahren ein stetiger leichter Abfall der Knochendichte.5 Im Vergleich dazu war die Gruppe der Patienten mit Therapieunterbrechungen in den ersten ein bis zwei Jahren durch keine wesentlichen Veränderungen der Knochendichte gekennzeichnet. Im späteren Verlauf fiel die Knochendichte jedoch auch bei diesen Patienten, die ja zunehmend wieder mit antiretroviralen Medikamenten behandelt wurden, parallel zur anderen Gruppe stetig ab.

WEITERE URSACHEN DER OSTEOPENIE

Worauf die hohe Prävalenz der reduzierten Knochendichte bei HIV-Patienten zurückgeht, ist unklar. Untersuchungen an Surrogatmarkern für Osteoklasten- und Osteoblastenaktivität deuten auf einen erhöhten generellen Knochenumsatz bei HIV-Patienten. Zudem ist eine hohe Prävalenz von Vitamin D-Defizienz bei HIV-Patienten beobachtet worden. Unklar ist auch, was den initialen Knochendichteverlust nach Beginn einer ART verursacht. Hier sind direkte Medikamenteneinflüsse auf Knochenstoffwechsel sowie sekundäre Veränderungen durch renale Dysfunktionen zu diskutieren. Ferner kommen Veränderungen in der Immunfunktion und Inflammation in Betracht.

FRAX-SCORE

Die europäischen Empfehlungen legen nahe, klassische Risikofaktoren wie Alter, weibliches Geschlecht, Hypogonadismus, familiäre Vorbelastungen für Oberschenkelfrakturen, einen niedrigen BMI (<19 kg/m²), Vitamin-D-Defizienz, Rauchen, Bewegungsarmut, Alkoholkonsum und Steroidtherapie zu berücksichtigen. Zudem sollte eine Risikokalkulation mittels des FRAX-Scores erfolgen, der zumindest im HIV-Bereich noch recht unbekannt ist. Die FRAX-Berechnung ermöglicht die Identifikation von Patienten im untersten Knochendichte-(engl. bone mineral density, BMD)Bereich, die das höchste Frakturrisiko haben und bei denen eine Behandlung erwogen werden kann. Die entsprechende Kalkulation kann unter www.shev.ac.uk/FRAX im Internet erfolgen. Dieser Score ist allerdings nicht für HIV-Patienten evaluiert und kann in diesem Kollektiv das Risiko unterschätzen. Zudem wird er nur für Patienten über 40 Jahre empfohlen und Daten aus Vergleichskollektiven zur Interpretation des Scores sind nicht aus allen europäischen Ländern verfügbar. Dennoch kann dieses Prozedere helfen, Patienten zu identifizieren, bei denen eine Knochendichtemessung sinnvoll ist. Ohne Berücksichtigung des FRAX sollte eine DEXA-Untersuchung bei Patienten erwogen werden, die mehr als einen der folgenden Faktoren aufweisen: postmenopausale Frauen, Männer über 50 Jahre, eine Vorgeschichte für eine Fraktur nach inadäquatem Trauma, hohes Fallrisiko, Hypogonadismus oder orale Glykokortikoidtherapie für mehr als drei Monate.

KNOCHENDICHTEMESSUNG

Zur Messung der Knochendichte stehen verschiedene Verfahren zur Verfügung. Die DEXA-Methode ist eine der geläufigsten. Diese Untersuchung wird von den gesetzlichen Krankenkassen nur erstattet, wenn bereits eine osteoporotische Fraktur eingetreten ist. Die Kosten für die Untersuchung für Selbstzahler liegt bei rund 35 Euro.

Der mittels DEXA bestimmte T-Score ist ein Wert, der zur Interpretation in Beziehung gesetzt wird zu den T-Scores von jungen prämenopausalen Frauen. Liegt ein T-Score zwischen 1 und 2,5 Standardabweichungen unterhalb der T-Scores der oben genannten Referenzpopulation, spricht man von einer Osteopenie. Die Osteoporose definiert sich als T-Score mit >-2,5 Standardabweichungen vom Referenzwert. Meist ist die Kombination von pathogenetischen Faktoren für das Auftreten osteoporotischer Frakturen verantwortlich. Sie werden manchmal in Skelett- und Fallkomponenten unterteilt (Tab. 1).

THERAPIE DER OSTEOPOROSE

Die Empfehlungen zur Osteoporosediagnostik sind durch wenig Evidenz aus Untersuchungen an HIV-Patienten unterstützt. Dies gilt noch viel mehr für die Empfehlungen zur Osteoporose-Therapie. Grundsätzlich sollte bei Osteoporose eine ausreichende Kalzium- und Vitamin D-Supplementierung erfolgen. Darüber sind Maßnahmen sinnvoll, die das Fallrisiko reduzieren. Zur spezifischen Therapie der Osteoporose wird auf die nationalen bzw. regionalen Guidelines verwiesen, die jedoch wahrscheinlich nicht immer adäquat eine Indikation und zulassungs-
gerechte Empfehlung von Biphosphonaten für beispielsweise HIV-infizierte Männer ergeben. Prinzipiell haben sich
Biphosphonate in kleinen Studien bei HIV-infizierten Menschen als wirksam erwiesen - was nicht weiter verwundert.6-7 Die Diskussion zu diesem Thema ist damit offiziell eröffnet.

ZUKUNFT: ALTERSFORSCHUNG BEI HIV

Die neuen europäischen Guidelines wagen sich mehr und mehr in Gebiete von chronischen Erkrankungen und Organmanifestationen vor, die vor allem im Hinblick auf die lange Lebenserwartung der HIV-Patienten sicherlich relevant werden. Die Vorläufigkeit der Empfehlungen und der immer wiederkehrende Hinweis auf die Anlehnung an Empfehlungen für seronegative Patienten belegen zugleich die Gebrechlichkeit der vorhandenen und den Mangel an validierten Daten aus Untersuchungen an HIV-Patienten. In dieser Hinsicht sind zielgerichtete klinische Studien erforderlich, um den europäischen Leitlinien zusätzliche Rechtfertigungen zu geben und ihre Überzeugungswirkung für alle in der Versorgung von HIV-infizierten Menschen beteiligten Arbeitsgruppen zu verbessern. Auch auf diese Situation möchten die „EACS Guidelines“ in ihrer jetzigen Form ausdrücklich aufmerksam machen.


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Tab. 1: Prävention und Behandlung von nicht-infektiösen Komorbiditäten bei HIV-Infektion, EACS Guidelines – Knochenerkrankung: Diagnose, Prävention und Behandlung

Literatur

1  Brown TT, McComsey GA, King MS, Qaqish RB, Bernstein BM, da Silva BA. Loss of bone mineral density after antiretroviral therapy initiation, independent of antiretroviral regimen. J Acquir Immune Defic Syndr. 2009;51:554-61.

2  Cazanave C, Dupon M, Lavignolle-Aurillac V, Barthe N, Lawson-Ayayi S, Mehsen N, Mercié P, Morlat P, Thiébaut R, Dabis F; Groupe d‘Epidémiologie Clinique du SIDA en Aquitaine. Reduced bone mineral density in HIV-infected patients: prevalence and associ-ated factors. AIDS. 2008;22:395-402.

3  Duvivier C, Kolta S, Assoumou L, Ghosn J, Rozenberg S, Murphy RL, Katlama C, Co-stagliola D; ANRS 121 Hippocampe study group. Greater decrease in bone mineral density with protease inhibitor regimens compared with nonnucleoside reverse transcriptase inhibitor regimens in HIV-1 infected naive patients. AIDS. 2009;23:817-24.

4  Brown TT, Qaqish RB. Antiretroviral therapy and the prevalence of osteopenia and osteo-porosis: a meta-analytic review. AIDS. 2006;20:2165-74.

5  Grund B, Peng G, Gibert CL, Hoy JF, Isaksson RL, Shlay JC, Martinez E, Reiss P, Visnegarwala F, Carr AD; INSIGHT SMART Body Composition Substudy Group. Continuous antiretroviral therapy decreases bone mineral density. AIDS. 2009;23:1519-29.

6  Huang J, Meixner L, Fernandez S, McCutchan JA. A double-blinded, randomized controlled trial of zoledronate therapy for HIV-associated osteopenia and osteoporosis. AIDS. 2009;23:51-7.

7  McComsey GA, Kendall MA, Tebas P, Swindells S, Hogg E, Alston-Smith B, Suckow C, Gopalakrishnan G, Benson C, Wohl DA. Alendronate with calcium and vitamin D supplementation is safe and effective for the treatment of decreased bone mineral density in HIV. AIDS. 2007;21:2473-82.

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