Dr. Ulrich Hopf, Ahrensburg
Retrovir und die Hochseefischerei

Ein sicheres Zeichen beginnender Senilität ist die Beschäftigung mit der Geschichte des eigenen Berufslebens oder des eigenen Fachgebietes. Obwohl ich davon noch Abstand halten möchte, erinnere ich mich trotzdem gern an die spannenden Tage der Retrovir-Zulassung.

Gewidmet den Patienten, die an den ersten AZT-Studien teilgenommen haben und denen der erhoffte Erfolg versagt blieb.

Das Drama begann harmlos am 8. Oktober 1985 in London, als eine junge englische Kollegin aus der klinischen Forschung der Wellcome Foundation berichtete, man habe jetzt „five ou nine”, eine neue Substanz aus den USA, auch bezeichnet als AZT. Es existierten drei Kilogramm, die ausschließlich für klinische Prüfungen in den USA bestimmt waren.

„Bitte kümmern Sie sich darum, dass ich davon etwas für meine Patienten bekomme.“

Dann trat bei Wellcome eine längere Ruhepause ein, während die Medien AIDS zum Thema Nr. 1 erhoben. Die Ruhe war vorbei an einem schönen Spätsommermorgen 1986, als um drei Minuten nach acht das Telefon klingelte: „Hier ist Prof. D. aus H., ich habe eben in den Nachrichten gehört, dass Wellcome ein Mittel gegen AIDS hat, bitte kümmern Sie sich darum, dass ich davon etwas für meine Patienten bekomme.“

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Verdammt, als einem der letzten Fußgänger von Großburgwedel, einem beschaulichen Dorf in Niedersachsen und Sitz der deutschen Niederlassung von Wellcome, waren mir mal wieder die wichtigsten Weltereignisse entgangen und ich erschien nicht informiert zur Arbeit.

Autofahrer wie wahrscheinlich auch Prof. D. genießen dagegen den Vorzug, übers Autoradio das zu erfahren, was wir firmenintern hätten wissen sollen. Bis in den frühen Nachmittag  mussten alle vegetativen Bedürfnisse unterdrückt und das Telefon bedient werden. Die kleine Deutsche Wellcome stand plötzlich im Rampenlicht und musste im Schnellkurs lernen, wie man sich da verhält. „Bei Fernsehinterviews locker sein und keine gestreiften Hemden tragen, das erzeugt Flimmern auf dem Bildschirm,“ wurde uns beigebracht. Kurze Zeit später erschien der erste Fernsehsender in Großburgwedel und mein Kampfgefährte Jürgen Schumann und ich standen in unifarbigen Hemden vor der Kamera von Radio Bremen. Auf die ruhigen Fragen des Moderators antworteten wir ebenso ruhig – waren dabei aber so aufgeregt, dass wir gelegentlich Azidothymidin und Azathioprin verwechselten, aber die Zuschauer von Radio Bremen haben es wohl nicht gemerkt.

„Stimmt es, dass das Präparat aus Heringen gewonnen wird?“

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Inzwischen war AZT in aller Munde, vor allem die komplizierte Herstellung und der hohe Preis. Dies führte zu folgendem Telefongespräch: „Hier ist Professor F., ich interessiere mich sehr für Ihr AZT und muss darüber einen Aufsatz schreiben. Stimmt es, dass das Präparat aus Heringen gewonnen wird? Kann man wohl mal Ihre Aquarien besichtigen?“ Kurzes Grübeln. Die Vorstellung, dass sich Heringe vor HIV durch die Biosynthese von AZT schützen könnten, ist zwar reizvoll, aber falsch.

„Nein, Herr Professor, Heringssperma ist die beste Rohstoffquelle für DNS, und daraus kann man Thymidin gewinnen und dieses kann man chemisch in Azidothymidin umwandeln.“ „Na, dann haben Sie sicher eine eigene Hochseefischereiflotte. Vielen Dank für die Information und ich wünsche allzeit guten Fang.“ Glücklicherweise ließ sich AZT bald vollsynthetisch herstellen, so dass wir nicht mehr von den Heringen abhängig waren. Nicht auszudenken, wenn wir wegen der Abfischung der Weltmeere auch noch Greenpeace, den Naturschutzbund, die Tierschützer und die internationale Fischereikommission gegen uns gehabt hätten.

„Das BGA ermuntert die Deutsche Wellcome, recht bald einen Zulassungsantrag für Azidothymidin einzureichen.“

Es nahte der Tag der Zulassungseinreichung. Im Vorfeld erhielten wir einen denkwürdigen Brief vom Bundesgesundheitsamt, der eigentlich vergrößert und im goldenen Rahmen im Foyer hängen müsste: „Das BGA ermuntert die Deutsche Wellcome, recht bald einen Zulassungsantrag für Azidothymidin einzureichen, und ist gern zu Ratschlägen bereit.“ Das schier Unglaubliche war passiert. Die Behörde, die uns meistens Briefe schickte, in denen die Vokabeln „abgelehnt, unzureichend, unvollständig“ vorkamen, war plötzlich geradezu liebenswürdig geworden.

Dann kam der 28. Januar 1987. Während eines Managementmeetings (damals hieß es noch Abteilungsleiter-Sitzung) erhielt der Geschäftsführer einen Anruf aus England mit der Aufforderung, den Zulassungsantrag bis spätestens 30. Januar einzureichen. Ich verabschiedete mich umgehend aus dem Meeting und alle Mitarbeiter der medizinischen Abteilung mussten an diesem Tag auf Dallas, Denver Clan, Lindenstraße und ähnliches verzichten. Die letzten gingen um etwa ein Uhr nachts nach Hause, müde vom Schreiben, Kopieren, Lochen, Abheften und einige sogar vom Nachdenken. Das Hauptproblem war aber noch nicht gelöst. Wie bekommt man die zahllosen Leitz-Ordner umgehend nach Berlin? UPS, TNT et al. konnten so kurzfristig nicht helfen, auch am Flughafen war nichts zu machen.

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„Der Dienst-Mercedes war bis unters Dach mit Zulassungsordnern beladen.“

Der 29. Januar 1987 war ein wunderschöner Wintertag. Die Natur zwischen Großburgwedel und Berlin war mit einer zauberhaften Schneedecke bedeckt, ganz besonders auf der DDR-Autobahn, wo Schneeräumung nicht eingeplant war. Trotzdem wurde der Dienst-Mercedes des Abteilungsleiters für diese Expedition geopfert und bis unters Dach mit Zulassungsordnern beladen. Das gab reichlich Gewicht auf der Hinterachse. Als Begleiter wurde ein Zulassungsexperte mit DDR-Erfahrung ausgewählt. „Was machen wir, wenn die Zulassungsunterlagen in die Hände der Russen fallen?“, wurde noch kurz vor der Abfahrt überlegt. Da keiner eine Antwort wusste, wurde die Frage nicht weiter verfolgt. Die Russen interessierten sich aber nicht für unsere Akten, auch die DDR-Grenzer nicht. Noch nicht einmal das übliche: „Machense mol dähn Gufferraum uff!“

Nach einigen Drehern auf der verschneiten Autobahn gelangten wir dennoch unbeschadet ins BGA, wo wir die Ordner in der Registratur neben zahlreichen Stapeln anderer Zulassungsanträge abladen durften. Dann eine Currywurst und wieder heim nach Großburgwedel.

„Die Zulassung kam nach vier Monaten.“

Die Zulassung kam, wie es das Gesetz damals vorschrieb, nach vier Monaten. Vorher mussten aber wichtige Fragen geklärt werden. Wohin mit den vielen Geldschränken, um die Retrovir-Umsätze zu lagern? Wie verteilen wir Retrovir unter den zigtausend ungeduldig wartenden Patienten? Wie bewachen wir unser Lager? Immerhin hatte Wellcome zeitweise einen Nachtwächter und der hatte einen Hund. Ob das reicht?

Fragen über Fragen und klare Antworten wusste keiner. Was schließlich auch nicht so schlimm war, denn es kam – wie alle wissen – ganz anders.

Die Zulassung von Retrovir war zeitweise das Aufregendste, was mein Berufsleben zu bieten hatte. Allen jüngeren Kollegen wünsche ich, dass sie so etwas auch einmal erleben dürfen und fern von SOPs, Guidelines und Anweisungen kluger Gremien spontan handeln dürfen.




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Dr. Ulrich Hopf, Ahrensburg

Ulrich Hopf studierte Biochemie an den Universitäten Tübingen und Marburg und befasste sich dort mit Purinantimetaboliten und deren immunsuppressiven Eigenschaften. Im Jahr 1973 trat er in die deutsche Niederlassung der Wellcome Foundation ein und war bis 1995 als Medizinischer Direktor der Wellcome GmbH u.a. für klinische Prüfungen und die Zulassung von Retrovir in Deutschland zuständig. Seit 1996 berät er pharmazeutische Firmen.


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