Siegfried Schwarze, Berlin
Das Mikrobiom: Hype oder Humbug?

Fast auf jedem Kongress kommt heute auch das Mikrobiom zur Sprache. Es wird viel geforscht, es wird viel berichtet, doch von einem diagnostischen oder gar therapeutischen Einsatz des derzeitigen Wissens ist man noch sehr weit entfernt.

Momentan treffen zwei Strömungen in der Wissenschaft aufeinander: Zum einen lernen wir, wie wichtig die Bakterien des menschlichen Darms, unser Mikrobiom, für die Gesundheit sind. Zum anderen verstehen wir aber auch die enorme Rolle des Darmimmunsystems in der HIV-Infektion immer besser. Da Darmimmunsystem und Mikrobiom in ständiger Interaktion stehen, macht es also Sinn, sich auch im Bereich HIV näher mit dem Mikrobiom zu befassen.

© Robert Kneschke - fotolia.com
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Zuerst eine gute Nachricht: Wir sind nie allein! Schließlich umfasst das Mikrobiom, also die Gesamtheit aller Mikroorganismen in und auf unserem Körper etwa 1.014 Zellen, also locker zehnmal so viele wie die Anzahl unserer eigenen Körperzellen. Von der Masse her sind es zwar nur ca. 2 kg (vor allem im Darm), aber diese Masse hat es in sich – und zwar etwa 500 mal mehr Gene als wir Menschen!

Komplexe Gesellschaft

Dass die Wissenschaft sich erst seit relativ kurzer Zeit intensiver mit dem Mikrobiom beschäftigt, hat verschiedene Gründe. Zum einen ganz praktische: Beschäftigung mit dem Darminhalt galt lange Zeit als „anrüchig“. Außerdem widersetzen sich geschätzt 90% der Mikroorganismen aus dem Darm Kulturversuchen außerhalb des Körpers. Nicht nur, dass die meisten mikroaerophil oder anaerob sind. Viele leben auch in komplexen Symbiosen mit anderen Arten, so dass die Reinkultur praktisch unmöglich ist. Erst seitdem man solchen unübersichtlichen Mischungen mit genetischen Untersuchungsmethoden zu Leibe rücken konnte, kam Bewegung in die Forschung. Gerne werden dazu die Gene für 16s- bzw. 23s-Untereinheiten der Ribosomen verwendet. Diese sind einerseits so konserviert, dass sie nicht wild mutieren, andererseits aber doch so variabel, dass sie sich für eine taxonomische Einordnung verwenden lassen. Zur Auswertung bedarf es inzwischen aufgrund der Datenvielfalt ausgefeilter bioinformatischer Methoden, die derzeit immer noch weiterentwickelt werden. Doch das Mikrobiom besteht ja nicht nur aus Bakterien; es tummeln sich auch noch Einzeller, Pilze und Viren. Und zwischen allen diesen Untermietern unseres Darms bestehen auch noch komplexe wechselseitige Abhängigkeiten.

@Brian Jackson - fotolia.com
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Aber um es nicht allzu kompliziert werden zu lassen, beschränken sich die meisten Forscher derzeit auf die Bakterien.

Praktische Probleme

Aber auch bei dieser Abstraktionsstufe sind einige Hürden zu meistern. Das beginnt schon bei der Probenentnahme, die meistens durch den Patienten selbst erfolgt. Das Untersuchungsmaterial sollte nicht mit der Toilette in Berührung kommen und es sollten Proben aus mehreren Bereichen entnommen werden. Jede/r, der/die das schon einmal versucht hat, weiß, wie schwierig das ist. Anschließend erfolgt der Transport ins Labor – meist auf dem Postweg. Man kann davon ausgehen, dass in diesen Stunden bis Tagen ein großer Teil der RNA und DNA schlicht degradiert. Schließlich wird das, was übrig geblieben ist, mit Next-Generation-Sequencing untersucht und den verschiedenen Arten zugeordnet.

Krank wegen Mikrobiom?

Und was machen wir mit den Ergebnissen? Dass chronisch entzündliche Darmerkrankungen oder Clostridium difficile-Infekte etwas mit dem Mikrobiom zu tun haben könnten, mag auf der Hand liegen. Doch es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht eine neue Assoziation zwischen bestimmten Bakterienarten im Darm und menschlichen Malaisen berichtet wird: Ob Diabetes oder Depression, ob Osteoporose oder Parkinson, Darmkrebsrisiko und selbst das Ansprechen auf moderne Krebstherapien – auf einmal scheinen unsere Darmbakterien überall ein Wörtchen mitzureden. Aber Assoziationen beweisen nun mal keine Kausalzusammenhänge. Es stellt sich also immer die Frage, ob tatsächlich die Bakterien eine Erkrankung begünstigen bzw. hervorrufen, oder ob die Krankheit Veränderungen des Darmmikrobioms bewirkt oder ob beide Phänomene eine gemeinsame Ursache haben.

Probiotika überleben nicht

Selbst wenn es gelingt, diese Zusammenhänge aufzuklären, bleibt es eine Herausforderung, gezielt einzugreifen. Zwar ist es kein Problem, viele Bakterienarten gefriergetrocknet in Kapselform zu kaufen, aber welchen therapeutischen Effekt diese dann entfalten, ist völlig unklar. Zum einen werden es wohl nur wenige Zellen lebend über die Säurebarriere des Darmes schaffen. Die paar Millionen, die heil im Darm ankommen, sehen sich dort einer eingeschworenen ökologischen Gemeinschaft gegenüber, die Neuankömmlingen durchaus nicht immer freundlich begegnet. Nicht zu vergessen, dass viele Bakterien recht komplexe Nährstoffansprüche haben und wenn das entsprechende Futter gerade nicht im Darm vorhanden ist, verhungern die mühevoll zugeführten Bakterien gleich wieder. Erste Studien haben denn auch gezeigt, dass die meisten von außen zugeführten Probiotika (also definierte Stämme von Bakterien oder Bakterienmischungen) sich nur temporär im menschlichen Darm halten können und mit dem nächsten Stuhlgang wieder ausgeschieden werden.

Momentaufnahme

Dennoch ist nicht ausgeschlossen, dass die Bakterien bei ihrem kurzen Aufenthalt im menschlichen Wirt etwas bewirken. Doch wer sagt, dass diese Wirkungen immer erwünscht sind? Um das abzuklären, bedürfte es der Geheimwaffe der medizinischen Forschung: Plazebokontrollierte, randomisierte Doppelblindstudien. Leider ist das in diesem speziellen Fall gar nicht so einfach, denn das menschliche Mikrobiom ist unglaublich divers. Man spricht inzwischen sogar von einem „mikrobiotischem Fingerabdruck“, d.h. jede/r von uns hat ein ganz individuell zusammengesetztes Mikrobiom. Und selbst das fluktuiert abhängig von der Zeit und der Nahrungsaufnahme. Denn je nach dem, was wir gerade gegessen haben, werden sich bestimmte Bakterienarten vermehren, andere weniger werden. Als wäre das alles noch nicht genug Variabilität, verändert sich die
Mikrobiomzusammensetzung auch in Abhängigkeit vom Lebensalter. Das bedeutet aber, dass eine Bestimmung der Bakterienzusammensetzung in unserem Darm immer nur eine Momentaufnahme sein kann und dass die Zufuhr von Bakterien von außen jedes Mal auf eine neue Situation trifft. Keine guten Voraussetzungen für eine „kontrollierte“ Studie.

Mikrobiom-Marketing

@ artise - fotolia.com
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Wie sieht nun die aktuelle Situation aus?

  • Es gibt eine Reihe von Anbietern von Mikrobiomtests. Zu Preisen zwischen etwa 100 und 1.000 Euro bieten sie die Analyse einer eingesandten Stuhlprobe mit Interpretation und meistens auch Handlungsempfehlungen an. Wie seriös das ist, mag jeder aus den bisher gemachten Ausführungen ableiten. Erste Erfahrungen zeigen, selbst wenn man Proben von ein und demselben „Geschäft“ an verschiedene Institute einschickt, bekommt man sehr unterschiedliche Resultate – sowohl was die Zusammensetzung des Mikrobioms als auch die Interpretation und Empfehlungen anbelangt. Hier fehlt schlicht die wissenschaftliche Datengrundlage.
  • Sowohl im Internet als auch in Apotheken und zur Not im Supermarkt kann man sich „Probiotika“ kaufen. Entweder in Form von Nahrungsmitteln (meist Joghurt oder Joghurtdrinks) mit definierten, lebenden Bakterienstämmen oder Kapseln mit gefriergetrockneten Bakterien (mischungen). Auch hier gibt es in den seltensten Fällen Studien (und wenn, sind die Resultate zumindest hinterfragenswert). Im besten Fall helfen diese Präparate tatsächlich (z.B. bei einigen probiotischen Präparaten gegen Durchfall), aber im Einzelfall können sie durchaus auch schaden (so gab es Fälle von massiver Besiedlung des Darms durch Hefen, wie sie in solchen Präparaten eingesetzt werden, bei Menschen mit starkem Immundefekt).
  • Seriöse Studien sind derzeit noch schwierig und methodisch anspruchsvoll. Die notwendigen Techniken und Verfahren müssen zum Teil noch entwickelt bzw. für diese spezielle Situation angepasst werden.
  • Antibiotika sind mikrobielle Massenvernichtungswaffen. Deshalb sollten sie nur eingesetzt werden, wenn es nicht anders geht. Zuvor sollte möglichst der Erreger (und eventuelle Resistenzen) bestimmt werden und ein möglichst zielgerichtetes Antibiotikum zum Einsatz kommen („Breitspektrum“-Antibiotika machen fast alles platt!).
  • „Darmsanierung“ ist ein schöner Marketingbegriff. Doch wie sieht ein „gesunder“ Darm aus, d.h. welche Bakterien dürfen sich dort tummeln und welche nicht? Niemand vermag dies heute seriös zu beantworten. So ist z.B. immer noch umstritten, ob die Hefe Candida albicans zur physiologischen Darmflora gehört oder als Krankheitserreger einzustufen ist. Denkbar wäre auch, dass es keine absolute Antwort gibt, sondern dass es auf die Menge ankommt. Allzu viel ist eben oft ungesund. Allerdings wissen wir von einigen „mikrobiotischen“ Nahrungsmitteln seit tausenden von Jahren, dass sie einen positiven Einfluss auf die Gesundheit haben, allen voran milchsauer vergorene Lebensmittel (z.B. natürlicher Joghurt mit lebenden Keimen, Kefir, nicht pasteurisiertes Sauerkraut oder Kimchi). Diese sind nicht nur erprobt sondern auch deutlich billiger als dubiose Kapseln aus dem Internet.
  • Der Transfer von (aufbereitetem) menschlichem Stuhl z.B. zur Behandlung von Clostridium difficile-Infektionen oder Morbus Crohn hat sich in einigen Studien als vielversprechend erwiesen. Diese Behandlungsarten sollten aber Zentren vorbehalten bleiben, die damit Erfahrung haben (am besten im Rahmen von klinischen Studien). Denn bei unsachgemäßer Anwendung dieser Methode können durchaus auch gefährliche Krankheitserreger übertragen werden.

HIV und Mikrobiom

@  metamorworks - fotolia.com
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Bei Menschen mit HIV kommt noch ein wesentlicher Punkt dazu: Wir wissen inzwischen, dass das Immunsystem des Darms sehr früh in der HIV-Infektion stark geschädigt wird und sich auch durch eine erfolgreiche Therapie nur sehr langsam wieder erholt. Ob es sich vollständig regenerieren kann, ist bis heute nicht klar (Studi-en haben gezeigt, dass auch nach fünfjähriger erfolgreicher Therapie noch deutliche Lücken im Immunsystem des Darm sind).

Die durch diesen Immundefekt verursachte „mikrobielle Translokation“, also die Auswanderung von Bakterien aus dem Darm ins Blut, führt zu einer massiven Immun- und Entzündungsreaktion mit zahlreichen Konsequenzen. Die anhaltenden chronischen Entzündungsprozesse, die bei manchen Menschen mit HIV auch durch eine erfolgreiche antivirale Therapie nicht vollständig beseitigt werden, können langfristig zu Gesundheitsproblemen führen: Organschädigungen, erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen und „Inflammaging“, also beschleunigte Alterungsprozesse, werden diskutiert.

Möglicherweise sind die Interaktionen zwischen Immunsystem und Mikrobiom auch an Langzeitwirkungen der HIV-Infektion bzw. der Therapie beteiligt. Es mehren sich Hinweise, dass auch das Lipodystrophie-Syndrom bzw. die Gewichtszunahme und vielleicht sogar psychische Auswirkungen (Depressionen) unter bestimmten Medikamenten durch eine bestimmte Mikrobiom-Konstellation zumindest begünstigt werden.

Man kann vermuten, dass die Veränderung der Immunsituation im Darm auch Auswirkungen auf das dort beheimatete Mikrobiom hat. Dies hat wiederum – wie oben dargelegt – wohl erhebliche Konsequenzen für das Wohlbefinden und die Gesundheit. Das heißt aber auch, dass Einwirkungen von außen – nicht nur durch Probiotika, sondern auch durch alle anderen Medikamente und letztendlich auch durch die Nahrung, günstige und ungünstige Folgen haben können (eine Untersuchung ergab, dass fast alle eingesetzten Medikamente Auswirkungen auf das Mikrobiom hatten – allen voran Antibiotika; bei Metformin ist der Einfluss auf das Mikrobiom vermutlich sogar der eigentliche Wirkmechanismus!).

Natürlich hat das Mikrobiom – und das damit in Verbindung stehende lokale Immunsystem – auch bei der Gesunderhaltung von allen anderen Haut- und Schleimhautoberflächen (z.B. in der Lunge) eine große Bedeutung. Doch wie wir das Mikrobiom und das damit in Zusammenhang stehende Darmimmunsystem am besten untersuchen, was als „gesund“ anzusehen ist und wie wir uns dieses Wissen zu Nutze machen, dazu steht die Forschung gerade erst am Anfang.

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