Annette Haberl, Frankfurt
Stillen mit HIV: „No-Go“ oder doch „Breast is best“?

Bislang raten die Leitlinien aller Industrieländer HIV-positiven Müttern vom Stillen ab. Doch es tut sich was. Von „individuellen Lösungen“ nach Nutzen-Risiko-Abwägung ist die Rede und die Schweizer haben bereits eine praktische Anleitung publiziert.

Die erste Schwangere, die mir ihre Entscheidung zu stillen mitgeteilt hat, gehörte zur Gruppe der Elite Controller. Sie lehnte auch während der Schwangerschaft eine HIV-Therapie ab, entschied sich aber für eine geplante Schnittentbindung. Die mütterliche Viruslast lag immer unter der Nachweisgrenze. Outcome des Kindes: HIV-negativ. – Im interdisziplinären Setting warf der Fall Fragen auf: War es medizinisch vertretbar, die Entscheidung der Frau zu akzeptieren? Und wie sollte überhaupt das Mutter-Kind-Monitoring während und nach der Stillzeit aussehen? – Fast zehn Jahre sind seitdem vergangen. Stillen mit HIV wird bei uns immer noch kontrovers diskutiert und auch das Monitoring im klinischen Alltag ist nach wie vor eine Herausforderung. Fest steht allerdings, dass die Zahl der Frauen mit HIV, die sich für das Stillen entscheiden, in den westlichen Industrieländern zunimmt und praxistaugliche Empfehlungen dazu dringend benötigt werden.

Stillen ohne HIV: Breast is best

Die nationale Stillkommission empfiehlt, Säuglinge mindestens fünf Monate lang ausschließlich zu stillen.1 Kinder, die über einen solchen Zeitraum gestillt werden, zeigen u.a. ein geringeres Infektionsrisiko (z.B. für Atemwegsinfekte) und entwickeln im Erwachsenenalter seltener Übergewicht und Diabetes als nicht gestillte Kinder. Muttermilch enthält verschiedene antiinflammatorische und antimikrobielle Substanzen wie sekretorisches Immunglobulin A, Lactoferrin und Lysozyme. Die Entwicklung des kindlichen Mikrobioms wird direkt über das Stillen beeinflusst. Durch eine gesteigerte Oxytocinausschüttung bildet sich der Uterus stillender Mütter schneller zurück und auch postpartale Depressionen sind bei ihnen seltener zu beobachten. Zudem wird über das Stillen eine feste emotionale Bindung zum Kind aufgebaut. Das Stillen sollte – so das Bundesinstitut für Risikobewertung – deshalb überall in der Betreuung von werdenden Müttern gefördert werden. Entsprechend werben Entbindungskliniken mit ihrer Stillfreundlichkeit. Für Frauen, die mit HIV leben, ist es verständlicherweise schwierig, sich diesem positiven Trend für das Stillen zu entziehen.

Stillen mit HIV: Nicht zu empfehlen?

© golubovy - fotolia.com
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Transmissionsrisiken

Studien zum Stillen HIV-positiver Mütter gibt es in den westlichen Industrieländern bislang nicht. Alle verfügbaren Daten stammen daher aus Ländern, in denen das Stillen – anders als bei uns – von der WHO bzw. nationalen Leitlinien empfohlen wird.2 Die Empfehlungen für das Stillen trotz mütterlicher HIV-Infektion in Low-Income Countries basieren auf der dortigen hohen Säuglingssterblichkeit bei Flaschenernährung, die durch verunreinigtes Trinkwasser bei der Zubereitung oder einem Mangel an verfügbarem Milchpulver bedingt ist.

2017 ergab eine Metaanalyse von sechs PMTCT-Studien in Low-Resource Settings, in denen Frauen während ihrer Schwangerschaft und Stillzeit antiretroviral behandelt wurden, eine HIV-Mutter-Kind-Übertragungsrate von 1,08% (95% CI 0.32-1.85) nach sechs Monaten Stilldauer. Dabei waren höhere Übertragungsraten assoziiert mit einem späteren Beginn der ART in der Schwangerschaft.3 In der südafrikanischen PROMISE Studie erhielten die gestillten Kinder 18 Monate lang Nevirapine als Prophylaxe. Die Übertragungsrate lag hier bei 0,3% (95% CI 0.1-0.8) nach sechs Monaten und 0,7% (95% CI 0.3-1.4) nach zwölf Monaten Stilldauer. In der BAN-Study konnte gezeigt werden, dass Mutter-Kind-Übertragungen während der Stillperiode mit nachweisbarer HIV-RNA in der Muttermilch assoziiert waren.3 In einem Fall lag die Viruslast allerdings sowohl im mütterlichen Plasma als auch in der Milch unter der Nachweisgrenze. Hier könnte neben einer diagnostischen Lücke bei der Viruslastbestimmung eine mögliche Übertragung durch zellgebundenes Virus diskutiert werden. HIV-Infektionen über die Muttermilch werden in den ersten neun Monaten post partum vor allem durch infizierte Zellen und weniger durch freies Virus verursacht.4 Die unterschiedliche zelluläre Zusammensetzung von Blut und Muttermilch könnte theoretisch in unterschiedlichen Übertragungsrisiken resultieren und auch ein Transfer von mütterlichen Zellen (Mikrochimärismus) beim Stillen könnte eine Rolle spielen.5,6

Mütterliche ART: Ein Risiko für das gestillte Kind?

HIV-Medikamente sind in unterschiedlichem Maße milchgängig. Stillkinder von Müttern unter NRTI- und NNRTI-haltiger ART erreichten Plasmaspiegel, die im Bereich von 10% der gewichtsadaptierten kindlichen Dosis lagen. Protease Inhibitoren (PI) sind noch schlechter milchgängig und erreichen entsprechend niedrigere Spiegel beim Kind.7 Zu neueren Substanzen fehlen derzeit noch aussagekräftige Daten. Ob die mütterliche ART langfristig einen Effekt bei den gestillten Kindern hat, ist nicht untersucht. Dazu müsste es ein entsprechendes Follow-Up der Kinder geben, was derzeit in keiner internationalen Kohorte stattfindet.

Kommt es unter dem Stillen zu einer HIV-Übertragung kann eine Mehrklassen-Resistenz beim Kind die Folge sein.8 Daher ist ein engmaschiges Monitoring von Mutter und Kind während der Stillperiode notwendig, um eine Infektion des Kindes so frühzeitig wie möglich zu diagnostizieren.

Mastitis, Blips und das richtige Monitoring

Kein Industrieland empfiehlt in seinen HIV-Leitlinien bislang das Stillen. Allerdings macht sich eine Veränderung im Wording zum Stillen bemerkbar. Es geht um individuelle Lösungen einerseits und die Implementierung von Standards andererseits. So heißt es auch in der Deutsch-Österreichischen Leitlinie: „Sollte eine HIV-positive-Mutter in Deutschland/Österreich entgegen der Empfehlung stillen wollen, ist ein individualisiertes Vorgehen erforderlich.“3 Wie das Vorgehen aussehen könnte, wird von Schweizer HIV-Expert*innen in der Swiss Medical Weekly vom 24. Juli 2018 beschrieben.9 Die Schweiz empfiehlt eine partizipative Entscheidungsfindung bei der Stillfrage im klinischen Alltag. Ist eine Frau während der gesamten Schwangerschaft unter ART und virologisch supprimiert, so halten sich
nach Ansicht der Schweizer HIV-Expert*innen die Argumente für bzw. gegen das Stillen derzeit die Waage. Es gilt daher, so der Schweizer Ansatz, die Frau vollumfänglich und ergebnisoffen zum Stillen zu beraten. Trifft sie auf dieser Basis ihre Entscheidung, so ist diese vom gesamten interdisziplinären Team wertfrei mit zu tragen.

Auch das Monitoring während und nach der Stillperiode wird im zitierten Schweizer Artikel sehr konkret beschrieben. Dazu gehört beispielsweise eine möglichst frühzeitige Entscheidungsfindung zum Stillen, eine dauerhaft supprimierte mütterliche Viruslast, monatliche Visiten und Viruslastkontrollen post partum sowie ein detailliert beschriebenes Monitoring des Säuglings bis zum 18. Lebensmonat. Im Fall einer Mastitis soll eine umgehende Vorstellung in der gynäkologischen Praxis erfolgen, um individuell zu entscheiden, ob noch weiter gestillt werden kann. Daten zum Anstieg des Transmissionsrisikos bei Mastitis existieren bislang lediglich bei nachweisbarer Viruslast. So war in der ZVITAMBO Studie eine Mastitis nur dann mit einem erhöhten Risiko assoziiert, wenn die mütterliche Viruslast über der Nachweisgrenze lag.10

Bei einem mütterlichen Viruslastanstieg >50 Kopien/mL während der Stillperiode sprechen sich die Schweizer für ein sofortiges Abstillen aus.

Stillen mit HIV: Wie geht‘s weiter?

In den westlichen Industrieländern gibt es Berichten aus verschiedenen Behandlungszentren zu Folge eine steigende Zahl von Frauen mit HIV, die ihre Kinder stillen wollen bzw. dies schon getan haben. Systematisch erfasst werden diese Fälle bislang nicht. Für Deutschland liegt das Ergebnis einer Umfrage von DAIG und DAGNÄ aus dem Herbst 2017 vor, in der rund 15 deutsche HIV-Behandlungszentren angaben, bereits Erfahrungen mit stillenden Patientinnen zu haben. Diese Fälle sollen jetzt im Rahmen einer retrospektiven Studie aufgearbeitet werden. Wünschenswert wäre allerdings eine prospektive Datensammlung zum Stillen mit HIV auf nationaler und internationaler Ebene, um die Versorgung stillender Mütter mit HIV und ihrer Kinder zu verbessern.11

Um das bestmögliche Monitoring und damit verbunden die größte Sicherheit für Mutter und Kind vor, während und nach der Stillperiode zu gewährleisten, ist eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit von HIV-Spezialist*innen, Gynäkolog*innen, Hebammen und Pädiater* innen notwendig. Dabei können die bereits bestehenden lokalen Netzwerke aus der Betreuung von Schwangeren mit HIV genutzt und ausgebaut werden.

Auf der 19. Interdisziplinären Fachtagung HIV und Schwangerschaft, die am 25./26. Januar 2019 in Oberursel stattfindet, wird das Thema Stillen ein Programmschwerpunkt sein.


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