Kommentar Prof. Jürgen Rockstroh, Bonn
Studiendaten kritisch analysieren

In der Tat wird spätestens seit Veröffentlichung der Daten aus der ADVANCE-Studie über Gewichtszunahme unter antiviraler Therapie kontrovers diskutiert.1 In der ADVANCE Studie zeigte sich eine mittlere Gewichtszunahme von 12,3 kg unter TAF/FTC + Dolutegravir bei afrikanischen Frauen nach 144 Wochen und war damit signifikant höher wie die mittlere Gewichtszunahme von 7,4 kg unter TDF/FTC + Dolutegravir oder 5,5 kg unter TDF/FTC + Efavirenz. Dies hat vor allen Dingen die Frage aufgeworfen, ob bestimmte antivirale Substanzen, wie ungeboostete Integrasehemmer und/oder TAF hier einen besonderen Einfluss auf den Gewichtsverlauf haben.

Prof. Jürgen Rockstroh Uniklinikum BonnProf. Jürgen Rockstroh
Uniklinikum Bonn
Leitung Immunologische Ambulanz
Infektiologie / HIV
E-Mail: juergen.rockstroh@ukbonn.de
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Return to health?

Hierbei sind zwei wichtige Dinge hervorzuheben: Das eine ist, dass Studien bei naiven Patienten nur eingeschränkt geeignet sind, um den Einfluss von bestimmten antiviralen Substanzen auf den Gewichtsverlauf zu erfassen, da in der Regel alle Patienten mit einer HIV-Infektion, die eine antiretrovirale Therapie beginnen, eine Gewichtszunahme aufweisen. Dies liegt im wesentlichen daran, dass eine unkontrollierte HIV-Infektion mit entsprechend stimulierten Immunsystem eine erhebliche Belastung für den Körper darstellt und in der Regel kaum oder nur wenig
Gewicht zugenommen wird. In der Tat ist ja auch ein fortgeschrittener Gewichtsverlust bei HIV als „Wasting“ ein bekanntes AIDS-definierendes Ereignis. Daher ist eine gewisse Gewichtszunahme unter einer neu eingeleiteten antiretroviralen Therapie nicht nur erwünscht, sondern führt auch zu einer Überlebenszeit-Verbesserung.2

Der zweite wichtige Punkt ist, dass eine Gewichtszunahme multifaktoriell bedingt sein kann. Das heißt, Beendigung eines Nikotinabusus, geschlossene Fitness-Studios und Sporteinrichtungen während einer Corona-Pandemie, Veränderungen im persönlichen Umfeld durch neue Partnerschaft und vieles mehr können das Gewicht in nicht unerheblichen Maß beeinflussen.

Interessant ist auch, dass gerade in der ADVANCE-Studie, wo ja die höchste Gewichtszunahme in einer antiretroviralen Therapiestudie überhaupt beobachtet wurde, pharmakokinetische Untersuchungen zeigen, dass die Patientinnen mit einem niedrigen Efavirenz-Spiegel eine vergleichbar große Gewichtszunahme aufweisen wie Patientinnen, die mit TAF/FTC + Dolutegravir behandelt wurden.3 Nur die Patienten, die hohe Efavirenz-Spiegel hatten, wiesen kaum oder nur wenig Gewichtszunahme auf. Dies bedingt sich wahrscheinlich durch die höhere Rate an Nebenwirkungen im Sinne von Appetitlosigkeit, Übelkeit, Schwindel unter einer hohen Efavirenz-Konzentration. Deswegen ist die unmittelbare Zuschreibung von bestimmten antiretroviralen Substanzen und Gewichtsverlust immer kritisch zu hinterfragen.

Switch-Studien besser

Switch-Studien sind sicher das viel bessere Instrument, um eine Gewichtszunahme unter einer laufenden antiviralen Therapie zu beurteilen, da die Patienten ja schon über längere Zeit unter der Nachweisgrenze sind, ein „Return-to-health“-Benefit nicht ursächlich für die Gewichtszunahme sein kann und bei sonst unveränderten Bedingungen (Sportverhalten, keine Diätänderung, etc.) in der Tat Gewichtsveränderungen kritisch diskutiert werden müssen. Schaut man in die NEAT Studie, wo Patienten, die supprimiert waren auch auf ein Dolutegravir-haltiges Regime umgestellt wurden, betrug die Gewichtszunahme nach 48 Wochen im Mittel 0,8 kg.4 Das ist natürlich bei weitem nicht vergleichbar mit den über 12 kg aus der ADVANCE-Studie und deutet darauf hin, dass möglicherweise die Gewichtszunahme bei supprimierten Patienten deutlich geringer ausfällt und man hier wahrscheinlich eher nach bestimmten Patientengruppen mit Risikokonstellationen schauen muss.

Effekt von Nebenwirkungen

In der hier vorgestellten Studie von Erlandson et al. gilt als ein Risikofaktor für eine Gewichtzunahme der Switch von Efavirenz auf Rilpivirin, hier muss man sich noch mal vergegenwärtigen, dass Efavirenz ja abends vor dem Schlafengehen genommen werden soll um weniger ZNS-Nebenwirkungen zu erleben die durchaus Appetit und Essverhalten beeinflussen können.5 Rilpivirin soll laut Beipackzettel mit einer Mahlzeit eingenommen werden, d. h. der Patient wird zu einem vermehrten oder bewussteren Essen aufgefordert, dies alleine mag schon einen Einfluss auf die Gewichtszunahme haben.

Risikofaktor TAF?

Ein weiteres Risiko mag die Umstellung von TDF auf TAF sein. Hier mehren sich die Hinweise, dass TDF möglicherweise ein supprimierender Effekt auf die Gewichtszunahme hat. Dies ergibt sich zum einen aus den Placebo-kontrollierten PrEP-Studien wo Patienten unter TDF/FTC im wesentlichen eine Gewichtsabnahme oder keine Gewichtszunahme aufwiesen, während im Placeboarm ein Anstieg von ca. 1 kg/48 Wochen zu verzeichnen war.6 Interessanterweise finden sich auch in der GEMINI Studie als Vergleich TDF/FTC + Dolutegravir gegenüber 3TC/Dolutegravir höhere Gewichtszunahme im 3TC/Dolutegravir-Arm, wo die supprimierende Wirkung von TDF natürlich nicht vorhanden ist.7 Damit erscheint die Umstellung von TDF auf TAF insbesondere mit einer kurzfristigen Gewichtszunahme assoziiert, die allerdings im längeren Verlauf dann sistiert. Hier muss also auch einfach ein Wegfall des supprimierten Effekts von TDF diskutiert werden, ohne dass es jetzt Hinweise für einen unmittelbaren starken eigenen Effekt von TAF auf das Gewicht gibt.

Nichtsdestotrotz bleiben die individuell durchaus auftretenden Gewichtszunahmen klinisch von großer Bedeutung. Da natürlich die Befürchtung besteht, dass sich aus vermehrter Gewichtszunahme auch klinische Konsequenzen im Sinne von vermehrter Insulinresistenz und erhöhten Diabetesraten sowie möglicherweise auch ein erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen ergeben werden. Daher müssen im klinischen Alltag Gewichtsverläufe besser dokumentiert werden und vor allen Dingen auch die generellen Maßnahmen wie Anregung zu vermehrten sportlichen Betätigung und diätetische Maßnahmen intensiver angeboten und besprochen werden.

Ein abschließendes Urteil über die individuelle Kontribution von einzelnen antiviralen Substanzen und Gewichtsverlauf sollten kritisch hinterfragt werden und sicher sind weitere Daten notwendig um ein klares Bild zu schaffen, welche Medikamente einen Eigeneffekt auf die Gewichtszunahme haben und ob möglicherweise auch eine ART Therapieumstellung von Vorteil sein könnte.


1 Venter WDF, Sokhela S, Simmons B, et al. Dolutegravir with emtricitabine and tenofovir alafenamide or tenofovir disoproxil fumarate versus efavirenz, emtricitabine, and tenofovir disoproxil fumarate for initial treatment of HIV-1 infection (ADVANCE): week 96 results from a randomised, phase 3, non-inferiority trial. Lancet HIV. 2020;7:e666-e676.

2 Yuh B, Tate J, Butt AA, et al. Weight change after antiretroviral therapy and mortality. Clin Infect Dis. 2015;60:1852-9.

3 Griesel R, Maartens G, Chirehwa M, Sokhela S, Akpomiemie G, Moorhouse M, Venter F, Sinxadi P. CYP2B6 Genotype and Weight Gain Differences Between Dolutegravir and Efavirenz. Clin Infect Dis. 2020 Sep 22:ciaa1073. doi: 10.1093/cid/ciaa1073. Epub ahead of print.

4 Gatell JM, Assoumou L, Moyle G, et al.; European Network for AIDS Treatment 022 (NEAT022) Study Group. Immediate Versus Deferred Switching From a Boosted Protease Inhibitor-based Regimen to a Dolutegravir-based Regimen in Virologically Suppressed Patients With High Cardiovascular Risk or Age ≥50 Years: Final 96-Week Results of the NEAT022 Study. Clin Infect Dis. 2019;68:597-606.

5 Erlandson KM, Carter CC, Melbourne K, et al. Weight Change Following Antiretroviral Therapy Switch in People with Viral Suppression: Pooled Data from Randomized Clinical Trials. Clin Infect Dis. 2021 May 14:ciab444. doi: 10.1093/cid/ciab444. Epub ahead of print.

6 Glidden DV, Mulligan K, McMahan V, et al. Metabolic Effects of Preexposure Prophylaxis With Coformulated Tenofovir Disoproxil Fumarate and Emtricitabine. Clin Infect Dis. 2018;67:411-419.

7 Cahn P, Madero JS, Arribas JR, et al. Durable Efficacy of Dolutegravir Plus Lamivudine in Antiretroviral Treatment-Naive Adults With HIV-1 Infection: 96-Week Results From the GEMINI-1 and GEMINI-2 Randomized Clinical Trials. J Acquir Immune Defic Syndr. 2020;83:310-318.


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