HEILUNG:

Von Siegfried Schwarze
Wir versuchen zu laufen, bevor wir gehen können

Atlanta, 4. 3. 2013

Am ersten Konferenztag der 20. „Conference on Retroviruses and Opportunistic Infections“ gab Robert Siciliano eine exzellenten, wenn auch etwas schwer verdaulichen, Überblick über den Stand der Forschung mit dem Ziel der Heilung.

Wir wissen heute, dass sich HIV in verschiedenen Zelltypen vermehrt: Zunächst in aktivierten Helferzellen. Durch die ART wird die Vermehrung in diesen Zellen am schnellsten gebremst und dies führt zur ersten Phase des Viruslastabfalls. Die zweite Phase des Therapieansprechens erfolgt durch die Hemmung der Virusproduktion in einer Vielfalt von anderen aktivierten Zelltypen. Früher ging man irrtümlich davon aus, dass dies die ganze Wahrheit sei. Wenn es nur diese beiden Phasen gäbe, wären nach etwa 2-3 Jahren HAART alle infizierten Zellen abgestorben und das Problem wäre gelöst. Leider wissen wir heute, dass es noch (mindestens) eine weitere Phase des Abfalls der Viruslast gibt und diese betrifft infizierte Memory-T-Zellen (Reservoir). Diese Gedächtniszellen unseres Immunsystems sorgen normalerweise dafür, dass wir auf eine Infektion, die wir schon einmal durchgemacht haben, wesentlich schneller reagieren können. Im Fall von HIV kommt es gelegentlich vor, dass eine aktivierte Helferzelle gerade dann mit HIV infiziert wird, wenn sie schon dabei ist, sich in eine Gedächtniszelle zu verwandeln. Dies führt dazu, dass HIV zwar noch sein Erbmaterial in das der Zelle einbauen kann, aber danach wird es schlicht abgeschaltet und es kommt nicht zur Bildung neuer Viren. Die Zelle geht in den Ruhezustand und kann in diesem Jahre bis Jahrzehnte verharren. Erst wenn sie wieder im Rahmen einer Immunantwort aktiviert wird, erwacht sie wieder und dann wacht auch HIV aus seinem Dornröschenschlaf auf und beginnt, neue Viren zu bilden. Das Phänomen des Immungedächtnis ist also untrennbar mit dem der HIV-Latenz gekoppelt (dies ist auch eine mögliche Erklärung, warum es Fälle von Neugeborenen gibt, die durch eine frühe und intensive HAART geheilt werden konnten: Neugeborene haben praktisch noch keine Gedächtniszellen, in denen sich HIV langfristig einnisten könnte).

Latente Zellen aktvieren

Eine Idee auf dem Weg zur Heilung war nun, diese ruhenden Gedächtniszellen durch einen externen Stimulus zu aktivieren um damit auch HIV zu wecken. Damit wäre das Virus durch die HAART erreichbar bzw. die infizierten Zellen würden sich dem Immunsystem zu erkennen geben und könnten vom Immunsystem selbst eliminiert werden. Leider ist eine generalisierte Aktivierung von T-Zellen nicht möglich. Es würde zu einem Zytokinsturm und damit einem Zustand führen, der einer Blutvergiftung nicht unähnlich ist und den wohl die wenigsten Patienten überleben würden.

Hier sind also „sanftere“ Methoden gefragt. Leider scheinen wir hier mal wieder versuchen zu laufen, bevor wir gehen können. Denn die Latenz von HIV ist noch lange nicht in allen Details untersucht bzw. verstanden. Allerdings ist bekannt, dass bestimmte Klassen von Substanzen ganz allgemein die Genregulation beeinflussen und sozusagen die „Bremsen“ lockern können. Eine solche Substanzklasse sind die „Histondeacetylase-Inhibitoren“, kurz HDACi. Diese Substanzen können im Reagenzglas CD4-Zellen aktivieren. Eine der ersten Substanzen, die untersucht wurde, war Valproinsäure, doch deren Effekt war zu schwach. Vorinostat (oft auch mit dem chemischen Kürzel SAHA benannt) ist ein Medikament, das in den USA  bereits zur Behandlung des kutanen T-Zell-Lymphoms zugelassen ist. Im Labor führt es zu einer Aufhebung der Latenz von HIV. Aber wie so oft sind die Verhältnisse im lebenden Menschen komplizierter. Zum einen scheint es so zu sein, dass HDAC-Inhibitoren nicht alle latent infizierten Zellen aktivieren können. Vermutlich bräuchte es mehrere verschiedene Substanzen um dies zu erreichen. Ein zweites Problem ist, dass die durch HDACi aktivierten Zellen nicht einfach absterben, wie es eine anständige, produktiv infizierte Zelle nach einiger Zeit tun sollte, sondern sie produzieren einfach Virus. Und da das Immunsystem der HIV-Infizierten keine HIV-spezifischen zytotoxischen T-Zellen mehr hat (die sterben nämlich als erste im Rahmen einer HIV-Infektion), kann auch das Immunsystem nicht mithelfen, diese Zellen zu vernichten. Hier bedürfte es vielleicht einer zusätzlichen therapeutischen Impfung.

Als wäre dies alles noch nicht kompliziert genug, werden derzeit immer neue Subpopulationen von Zellen entdeckt, in denen sich HIV verstecken kann. Wenn jede Zellart ein eigenes Behandlungsprotokoll braucht, dürfte sich die Heilung sehr schwierig gestalten.

Eine der am besten Untersuchten Zellen, in denen sich HIV langfristig versteckt, sind die T-Gedächtniszellen. Nur sehr wenige von den CD4-Zellen sind tatsächlich Gedächtniszellen und nur in einer von einer Million Gedächtniszellen versteckt sich HIV. Das macht Experimente sehr aufwändig, da man sehr große Zellzahlen (d.h. viel Blut von den Patienten) braucht, um solche Untersuchungen machen zu können.

Problem Meßmethode

Doch bei den Experimenten stoßen die Forscher auf weitere Probleme: Was sollen sie denn überhaupt messen: freie RNA, zellassoziierte RNA, virale DNA? Und in welchen Zellen? Und mit welcher Methode?

Hier ein Beispiel: Der„Goldstandard“ der Tests, der „outgrowth assay“ bestimmt, wie viele Zellen vermehrungsfähiges Virus tragen. Dazu werden die zu untersuchenden Zellen in einer Verdünnungsreihe mit infizierbaren Zellen zusammengebracht und nach einer Inkubationszeit wird die Menge an p24-Antigen bestimmt (die direkt mit der Zahl der produzierten Viren zusammenhängt). Sucht man in den selben Zellpopulationen aber mit einer PCR-Methode nach HIV, findet man fast 300 mal mehr Virus! Dies liegt vor allem daran, dass ein großer Teil der integrierten Viren defekt sind, d.h. entweder Mutationen oder Deletionen aufweisen und nicht mehr replikationskompetent sind. Aber auch hier gibt es Überraschungen: Bei Zellen, die laut „outgrowth assay“ keine induzierbaren Viren mehr aufweisen, findet man mit genetischen Methoden in durchschnittlich 12% der Fälle Viren, die tatsächlich replikationskompetent sind. Warum sie sich im Experiment nicht induzieren lassen, ist noch völlig unklar. Dummerweise sind diese Unterschiede zwischen den beiden Testverfahren von Patient zu Patient unterschiedlich, so dass man auch nicht einfach einen Korrekturfaktor einführen könnte. Das heißt aber auch, dass das Reservoir an vermehrungsfähigen latenten Viren womöglich um den Faktor 40-50 größer ist, als bisher angenommen.

Solange aber diese methodischen Probleme nicht gelöst sind, sind Studien zur Eradikation extrem problematisch, weil man die Therapie der Patienten nicht unterbrechen möchte, bevor man nicht wirklich sicher ist, dass auch eine gewisse Aussicht auf Erfolg besteht. Schließlich ist jede Therapieunterbrechung für die Patienten mit Risiken verbunden.

Andere Studien zeigen, dass bei einer sehr frühen Therapie der HIV-Infektion (innerhalb der ersten zwei Wochen nach Infektion), nur sehr wenige Zellen in den Reservoirs mit latenten Viren infiziert sind. Bei solchen Patienten hat man bereits wenige Wochen nach Therapiebeginn Verhältnisse, wie man sie sonst nur bei „Elite-Controllern“ findet, also bei Menschen, die aus bisher noch nicht endgültig geklärten Gründen HIV durch ihr Immunsystem kontrollieren können.

Dass eine so frühe Therapie in Einzelfällen möglicherweise zur Heilung führen kann, zeigt der Fall eines Kindes, da mit einiger Wahrscheinlichkeit im Mutterleib infiziert wurde, innerhalb von 30 Stunden nach Geburt mit einer Dreifachkombination behandelt wurde und bei dem die Mutter nach 18 Monaten die Therapie eigenmächtig absetzte. Dennoch kam es nicht zu einem Wiederanstieg der Viruslast. Die Ärzte sind noch etwas vorsichtig mit dem Begriff „Heilung“, da es theoretisch immer noch zu einem Wiederaufflammen der Infektion kommen kann (siehe separaten Artikel zu diesem Fall).

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