Stellungsnahme zu Christian Hoffmanns Kommentar
Stefan Esser, Essen - Ist ein generelles Analkarzinom-Screening wirklich sinnvoll?
Ja, bei Menschen mit HIV-Infektion!

In der März-Ausgabe 2014 HIV&more erschien ein aus meiner Sicht fragwürdiger Kommentar von Christian Hoffmann zu den neuen Leitlinien „Anale Dysplasien und Analkarzinome bei HIV-Infizierten: Prävention, Diagnostik, Therapie“. Mein Respekt gegenüber der ehrenamtlichen Tätigkeit der an der Leitlinienentwicklung über insgesamt drei Jahre beteiligten KollegenInnen aus elf verschiedenen Fachgesellschaften und fünf weiteren Organisationen u.a. der DAH gebietet es mir diesen Kommentar so nicht widerspruchslos stehen zu lassen.

Für diese Leitlinie wurden über 150 Veröffentlichungen gesichtet, diskutiert und eingearbeitet sowie der Abgleich mit bereits vorhandenen Leitlinien vorgenommen. Auch eine bereits einstimmig konsentierte, AWMF konforme Leitlinie kann erneut kontrovers diskutiert werden, damit sie lebendig bleibt und sich an den wandelnden Realitäten orientiert. Die Diskussion steigert vielleicht die Akzeptanz der Leitlinie. Dafür wäre ich Christian dankbar.

Stellungnahme

1. Die angezweifelte steigende Inzidenz des Analkarzinoms.

Bisher zeigen alle Veröffentlichungen, dass das Risiko für die Entwicklung eines Analkarzinoms für Menschen mit HIV-Infektion weitaus höher liegt als in der Allgemein-Bevölkerung. In zahlreichen Kohorten weltweit ist das Analkarzinom die häufigste nicht AIDS-definierende Neoplasie. Der breite Einsatz der antiretroviralen Therapie konnte die Inzidenz des Analkarzinoms im Gegensatz zu den AIDS-definierenden Neoplasien bisher nicht entscheidend senken. Schätzungen auf der Basis verschiedener Kohortenanalysen gehen davon aus, dass etwa drei Prozent aller HIV-infizierten MSM bis zu ihrem 60-zigsten Lebensjahr ein Analkarzinom entwickeln. Auch bei HIV-positiven Frauen ist die Inzidenz des Analkarzinoms im Vergleich zu HIV-negativen Frauen deutlich erhöht. In der Schweizer Kohorte liegt die Inzidenzrate für das Analkarzinom deutlich höher als für hepatozelluläre Karzinome oder Hodgkin-Lymphome. Obwohl bisher wissenschaftlich noch nicht abschließend gezeigt werden konnte, wieviele hepatozelluläre Karzinome durch ein Hepatitis C Screening und durch die Behandlung einer chronischen Hepatitis C verhindert werden können, akzeptieren wir bei der chronischen Hepatitis C die SVR, testen und behandeln wir unsere HIV/HCV-Koinfizierten Patienten. Warum tun sich einige HIV-Schwerpunktbehandler/innen bei HIV/HPV-Koinfizierten so schwer ein Analkarzinom-Früherkennungsprogramm zu starten?

2. Zur „Sicherheit“ alle HIV-positiven Patienten screenen?

Risikofaktoren für die Entwicklung eines Analkarzinoms, abgesehen von der HIV-Infektion selbst, sind bekannt:

Bekannte HPV-assoziierte Läsionen z.B. Feigwarzen unabhängig von ihrer Lokalisation (oral, genital, anal), persistierende high-risk HPV-Infektion (>1 Jahr), rezeptiver Analverkehr, Promiskuität, Alter, Rauchen, andere anale STIs, andere proktologische Erkrankungen, Immunsuppression, niedriger CD4-Nadir, hohe kumulative HIViruslast und fortgeschrittenes klinisches CDC-Stadium. Die Bedeutung der einzelnen Risikofaktoren wird in Publikationen  unterschiedlich eingeschätzt. Einen evaluierten „Framingham-Score“ mit Gewichtung der einzelnen Risikofaktoren für die Entwicklung eines Analkarzinoms gibt es bisher nicht. Bei HIV-Infizierten treten Analkarzinome bis zu zwanzig Jahre früher auf als bei HIV-Negativen. Diese wichtigen Aspekte wurden ausführlich in der Leitliniengruppe diskutiert. Die Abfrage und kritische Abwägung der verschiedenen Risikofaktoren wurde als unzuverlässiger und wesentlich aufwendiger eingeschätzt als die Durchführung eines zytologischen Abstrichs, zumal die meisten HIV-infizierten Patienten zahlreiche der genannten Risikofaktoren haben. Wer soll also von einem Screening ausgeschlossen werden?

3. Die Mortalität des Analkarzinoms

Zwischen Anal- und Zervixkarzinom bestehen erhebliche Analogien. In Anbetracht der Tatsache, dass es sich auch beim Analkarzinom um eine durch ein Screening-Programm und durch eine rechtzeitige Behandlung der Vorstufen verhinderbare Neoplasie handelt, finde ich jeden Einzelnen von Christian beschriebenen Fällen beklagenswert: 15% an einem Analkarzinom Verstorbene in unserer eigenen gemeinsamen Auswertung im Rahmen der AC/BC-Studie trotz Radiochemotherapie sind 15% zuviel! Wesentlicher Prognosefaktor: Das Stadium in dem das Analkarzinom erkannt wurde! Mehr als die Hälfte der Analkarzinom-Patienten hatte Condylomata acuminata in der Vorgeschichte und hätte vermutlich durch eine entsprechende Aufklärung und eine geeignete Nachsorge die Entwicklung einer invasiv wachsenden analen Neoplasie vermeiden können.

4. Die Morbiditätslast des Analkarzinoms

Chemo- und Strahlentherapie, Colostoma sowie anale Operationen häufig verbunden mit bleibender Inkontinenz zur Behandlung des Analkarzinoms sind mit erheblichem Leidensdruck verbunden und stehen in keinem Verhältnis zu den in der Leitlinie empfohlenen Früherkennungsmaßnahmen und lokalen Behandlungen.

5. Die Häufigkeit und Bedeutung prämaligner Vorstufen

Christians Darstellung schürt beängstigende Vorstellungen von der Häufigkeit prämaligner Vorstufen und deren Bedeutung. Etwa 90% aller HIV-Infizierten hat zwar eine Koinfektion mit einem oder mehreren HPV-Typen, häufig auch HR-HPV Typen (>50% HPV 16), aber nur knapp 10% der Patienten aus einer allgemeinen HIV-Sprechstunde hat einen hochgradigen auffälligen Zytologiebefund (HSIL), der eine unmittelbare proktologische Kontrolle erforderlich macht (Rücksprache mit Heribert Knechten). HSIL ist nicht gleichbedeutend mit einem Analkarzinom und hochmalignen Vorläuferläsionen. Zwischen dem Befund aus einem „blinden“ zytologischen Abstrich und einer gezielt nach entsprechenden Färbungen aus einer sichtbaren Läsion bei einer Anoskopie entnommenen Biopsie bestehen qualitative Unterschiede. Fortgeschrittene histologisch bestätigte anale intraepitheliale Neoplasien (AIN), sog. HGAIN, sind Vorläufer, die unbehandelt bei HIV-Infizierten und Immunsuppremierten relativ schnell in ein Analkarzinom übergehen können. Diese Beobachtung wurde u.a. durch Berry et al. 2014 aus der Palefsky Arbeitsgruppe erneut bestätigt. Allerdings sind selbst für höhergradige AIN ebenso wie für CIN auch Regressionen beschrieben worden.

Sowohl die von Christian zitierte Metaanalyse als auch er selbst unterscheiden nicht ausreichend HSIL von HGAIN. AIN III entspricht CIN III! Histologische HGAIN Befunde sind seltener als HSIL-Ergebnisse bei Abstrichuntersuchungen.

6. Die angeblich ungesicherte Behandlung prämaligner Vorstufen

Die Behandlung HPV-assoziierter Läsionen ist bisher sicher nicht zufriedenstellend, da sie aufgrund von Rezidiven häufig wiederholt werden muss. Deswegen gilt sie trotzdem als gesichert und ist bei wiederholter gezielter Anwendung durchaus erfolgreich. Nach monatlicher elektrokaustischer Abtragung von AIN Läsionen über 4 Monate wurden 41% der HIV-infizierten Patienten komplett geheilt, von denen 17% nach 6 Monaten ein Rezidiv entwickelten. Erneute Behandlungen erhöhen die dauerhafte Erfolgsrate. AIN und Feigwarzen stellen unbehandelt je nach Größe nicht nur ein hohes Risiko für die Entwicklung von Karzinomen dar, sondern sind für die Betroffenen ein schambehaftetes, ästhetisches und hygienisches Problem, so dass sich die meisten dieser symptomatischen Patienten ohnehin irgendwann einer Therapie „freiwillig“ unterziehen würden.

Die HPV-assoziierten Läsionen können geheilt werden, jedoch damit noch nicht die HPV-Infektion. Erste vielversprechende Versuche mit therapeutischen Vakzinen lassen auf eine weitere Verbesserung der Therapieoptionen hoffen.

7. Die Folgen positiver oder in ihrer Relevanz unklare Befunde

Von den Patienten mit HSIL-Befund hatten 28% in unserer eigenen Studie (EACS 2011 Jablonka et al.) auch eine bioptisch gesicherte HGAIN, weitere 72% AIN I oder Feigwarzen und 0% keinen auffälligen Befund. Bei fachgerechter Aufklärung sollten sich die Ängste, die mit einem falsch positiven Zytologiebefund verbunden sind, in Grenzen halten. Die Unterscheidung zwischen Normalbefund, auffälligem Befund (LSIL, LSIL, ASCUS, ASC-H) und durch Anoskopie kontrollbedürftigem Befund (HSIL) dürften sowohl für HIV-Schwerpunkt-Ärzte/Innen als auch für HIV-Patienten/Innen nicht so komplex zu vermitteln sein wie Christian dies darstellt, zumal umfangreiche Erfahrungen aus der Gynäkologie zeigen, dass der Umgang mit zytologischen Abstrichbefunden möglich ist.

8. Die vermeintliche Einfachheit des Screenings

Die Aufklärung der HIV-infizierten PatientenInnen stellt in einer Einrichtung sicherlich im Jahr der Einführung der Analabstriche einen zusätzlichen Aufwand dar, der sich in den Folgejahren bei Wiederholung erheblich reduziert. Zu mindestens die HIV-infizierten Frauen müssten ja schon lange über das Zervixkarzinom-Screening mit dem Procedere vertraut sein. Die Entnahme des Abstriches selbst dauert nur wenige Sekunden.

9. Die Kosten

Das zytologische Zervixkarzinom-Screening hat sich offenbar kostenmäßig bewährt und wird deshalb von den Kostenträgern übernommen. Die Evidenz für Effektivität auch in Bezug auf die Kosten für das Analkarzinom-Früherkennungsprogramm bei Menschen mit HIV-Infektion erscheint bereits jetzt schon höher als bei der Einführung des Zervixkarzinom-Screenings. Die Kosten für die Analzytologie werden von den Kostenträgern in Deutschland bisher ohne Beanstandungen übernommen. Einige Zytopathologen wären sogar an Einsendungen interessiert.

Problematisch wird das Analkarzinom-Screening für die proktologisch tätigen Kollegen/Innen im Rahmen der anoskopischen Abklärungen auffälliger zytologischer Befunde, da diese aufwendig sind und nicht angemessen vergütet werden. Gespräche mit der DAGNÄ und Kostenträgern laufen.

Fazit, Ausblick

So habe ich mir Analkarzinom-Früherkennungs-Untersuchungen nicht vorgestellt

Manche, die bisher noch Vorbehalte gegen die Leitlinie hatten, haben sich möglicherweise wenig damit beschäftigt. Von daher bin ich Christian für seinen Kommentar dankbar. Ich hoffe die Diskussion weckt Interesse. Jeder Arzt muss selber verantworten was er tut und was er lässt. In der HIV-Medizin werden wahrscheinlich tagtäglich Untersuchungen gemacht, die hinter der zu erwartenden Effektivität des Analkarzinom-Screenings mit rechtzeitiger Behandlung der Vorläuferläsionen zurückbleiben.

Unsere Leitlinie für Menschen mit HIV-Infektion gibt, im Gegensatz zu anderen, Empfehlungen von der HPV-Infektion bis zur Behandlung des Analkarzinoms in einer Leitlinie. Es bestand der Wunsch die gesamten Empfehlungen der Leitlinie in eine Abbildung zu bringen. Dies sollte den KollegenInnen die Arbeit erleichtern. Denjenigen, die behaupten der Algorithmus sei zu kompliziert, möchte ich entgegnen, dass die Anleitung für die Legoburg, die mein Sohn alleine zusammengebaut hat, auf jeden Fall komplexer ist. Somit halte ich den Algorithmus einem Arzt/einer Ärztin für zumutbar.

Ich befürchte allerdings, dass Christians Kommentar in der veröffentlichten Form der Umsetzung der Leitlinie zur Früherkennung des Analkarzinoms eher geschadet hat, da er möglicherweise mit vermeintlich wissenschaftlichen Argumenten das Gewissen derjenigen beruhigt, die der häufigsten nicht AIDS-definierenden Neoplasie bei HIV-Infizierten mit Untätigkeit begegnen wollen.

Eine große randomisierte prospektive Studie wäre wünschenswert. Ergebnisse wären erst in einigen Jahren zu erwarten und bisher drängen sich für Langzeitstudien zu analen HPV-assoziierten Erkrankungen die Unterstützer mit Finanzierungsangeboten für wissenschaftliche Projekte nicht gerade auf. Aus meiner Sicht wäre aufgrund der vorliegenden Daten und der Pathogenese des Analkarzinoms sowie der zulässigen Analogieschlüsse zum Zervixkarzinom eine Studie, die vollständig auf ein Analkarzinom-Screening verzichtet, schon jetzt ethisch fragwürdig. Einem Menschen mit HIV-Infektion in den nächsten Jahren keine Früherkennungsuntersuchungen gegen HPV-assoziierte Läsionen anzubieten nimmt erhebliches Leid und sogar unnötige einzelne Todesfälle in Kauf.

Das Zervixkarzinom-Screening wurde mit weitaus spärlicheren Daten eingeführt und hat in vielen Ländern, wie erst im Nachhinein epidemiologisch belegt werden konnte, zu einem Rückgang der Inzidenz von mehr als 70% geführt. Auch das Analkarzinom ist eine der Neoplasien, die sich häufig über Jahre auf dem Boden einer persistierenden HR-HPV-Infektion über Vorläuferläsionen zum invasiven Karzinom entwickelt. Ein geeignetes Früherkennungsprogramm verbunden mit einer rechtzeitigen Behandlung der Vorläuferläsionen kann Analkarzinome verhindern.

Um bei Christians streitbarem Vergleich mit einer überflüssigen Helmpflicht für Autofahrer im normalen Straßenverkehr zu bleiben: Unter den sexuell aktiven Menschen sind die HIV-Positiven auch in Zeiten von Airbag und Anschnallpflicht sowie antiretroviraler Therapie aufgrund ihres erheblich erhöhten Risikos in Bezug auf das Analkarzinom die Formel-Eins-Fahrer im Autoverkehr – und die tragen bekanntlich bei ihren Wagenrennen Helme.

Conflict of Interest

Der Autor fühlt sich Christian Hoffman, der durch das HIV-Buch viel Respekt bei HIV-Behandlern erworben hat, in freundschaftlicher Kollegialität verbunden. Ich bin für die Literaturarbeit bei der Begründung seiner Argumente dankbar. Leider glaube ich, dass er das Gewissen der KollegenInnen, die sich nicht um ein Analkarzinom-Screening bei ihren HIV-infizierten Patienten/Innen kümmern wollen, zu sehr beruhigt hat. Ich befürchte dass dies nicht zur Reduktion der Inzidenz vermeidbarer Analkarzinome bei Menschen mit HIV-Infektion beigetragen hat.


Ich empfehle das Lesen der Leitlinie mit insgesamt 158 Literaturzitaten:
http://www.daignet.de/site-content/hiv-therapie/leitlinien-1/resolveuid/d74ed3a647d97c2afab084c30462c104
http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/055-007l_S1k_Anale_Dysplasien_Analkarzinom_HIV_infizierten_09-2013__01.pdf

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