10 Jahre EKAF-Statement

Vor zehn Jahren brach die schweizerische Eidgenössische Kommission für Aids-Fragen (EKAF) ein Tabu: In der Schweizerischen Ärztezeitung veröffentlichte die EKAF nach Bewertung der bis dahin verfügbaren Daten, dass HIV-Patienten, deren HIV-Therapie erfolgreich die Vermehrung der Viren unterdrückt, sexuell nicht ansteckend sind. Wie sie die Zeit damals erlebten, welche Reaktionen das Statement auslöste und wie die Situation heutzutage ist fragte HIV&more einen der Hauptakteure Prof. Pietro Vernazza, St. Gallen/Schweiz, das damalige Vorstandsmitglied der dagnä e.V. Dr. Christoph Mayr, Berlin, und Engelbert Zankl von den Münchner Positiven.

Prof. Pietro Vernazza, Chefarzt der Klinik für Infektiologie/Spitalhygiene, St. Gallen/Schweiz

Das Wissen mussten wir weitergeben

Prof. Pietro VernazzaWas hat Sie auf die Idee gebracht, ein solches Statement zu veröffentlichen?

Vernazza: Es war die Erkenntnis, dass HIV-infizierte Personen eine falsche Vorstellung von ihrer Infektiosität hatten. Aufgefallen war uns das in einer systematischen Erhebung im Rahmen unseres Kinderwunsch-Projektes. Den diskordanten Paaren – antiretroviral behandelter HIV-positiver Mann und HIV-negative Frau – haben wir mit künstlicher Insemination, Spermawäsche etc. geholfen, das Risiko einer Übertragung zu minimieren. Die Viruslastmessungen im Blut und Sperma zeigten aber, dass diese Paare alle kein Transmissionsrisiko hatten. Die eigene Vorstellung der Frauen und Männer im Projekt über die Infektiosität lag jedoch weit über der Realität – einige nahmen sogar an, dass das Risiko für eine Übertragung bei einmal ungeschütztem Sex fast bei 100% liegt. Diese Fehlinformation war auch verbunden mit einer großen Angst, den Partner zu infizieren. Die Paare hatten ein Recht darauf, dass wir sie von dieser Angst befreiten.

Am EKAF-Statement waren ja auch viele Schweizer Kollegen beteiligt. Waren alle anderen gleich begeistert?

Vernazza: Die Fachkommission Klinik und Therapie, eine Untergruppe der Eidgenössischen Kommission für Aids-Fragen, setzte sich aus Medizinern zusammen, die auch HIV-Patienten betreuten. In dieser Kommission waren sich alle einig, dass diese Information korrigiert werden musste. Darunter war auch Bernard Hirschel, der sich stark für die Verbreitung dieser aus unserer Sicht wahren Beobachtung einsetzte.

War die Datenlage – retrospektiv betrachtet – damals wirklich überzeugend?

Vernazza: Für uns war der Vergleich mit dem Transmissionsrisiko beim Küssen ein treffendes Argument. Mitte der 80ger Jahre hat das Bundesamt für Gesundheit, wie auch andere nationale und internationale Fachgesellschaften und Aids-Organisationen, gesagt, dass man sich beim Küssen nicht infiziert – obwohl es dazu nur eine einzige Studie mit 100 Paaren gab. Dieses Statement gab es nicht, weil man die Sicherheit des Küssens bewiesen hatte, sondern weil noch nie jemand einen solchen Fall beobachtet hatte. Sie können das Negative – das „Nicht-Übertragen“ nie beweisen. Wenn Sie aber viele Personen über viele Jahre beobachten, ohne dass es geschieht, wird es immer unwahrscheinlicher. Mit dem EKAF-Statement wurde die Wahrscheinlichkeit, dass ein Fall einer Transmission unter HIV-Therapie publiziert würde, noch höher. Dennoch gab es während der letzten zehn Jahre keine dokumentierten Fallbeschreibungen.

Die Reaktionen auf das Statement, positive wie negative, waren in jedem Fall heftig und auch stark emotional geprägt. Wie haben Sie das persönlich erlebt? Gab es Angriffe gegen Ihre Person?

Vernazza: Ja es gab heftige Reaktionen gegen das Statement und gegen mich persönlich – aber ich war in einem Setting verankert, das voll hinter diesem Statement stand. Die Schweizer Kollegen haben diese Angriffe auf das Statement als kollegiales Team aufgenommen und immer wieder die Argumente für das Statement aufgeführt. Es gab aber Personen, die es wiederholt ablehnten. Das Statement wurde durch die große Studie HPTN 052 im Juli 2011 bestätigt und trotzdem wollten die Fachgesellschaften nicht öffentlich sagen, dass HIV-Infizierte mit erfolgreicher HIV-Therapie nicht ansteckend sind. Für uns war es aber eine ethische Verpflichtung, unser Wissen weiterzugeben. Für die HIV-Infizierten und ihre HIV-negativen Partner hat sich die Lebensqualität enorm durch das Statement verbessert und sie mussten keine Angst mehr haben, andere zu infizieren. Es gab einige internationale HIV-Experten, die nicht mehr mit mir sprechen wollten – mittlerweile tun sie es wieder. Und einige sagen nach wie vor, dass wir das Statement nicht hätten veröffentlichen dürfen.

Heute ist die Aussage des EKAF-Statements ja weltweit anerkannt. Wann ist die Stimmung gekippt? Gab es einen Auslöser?

Vernazza: Es waren nicht die eindeutigen Resultate der beiden großen Studien HPTN 052 und PARTNER, die zum Umschwung geführt haben. Die Datenlage war klar. Dennoch durfte es – gemäß offiziellen Stellen – nicht gesagt werden. Erst der Druck der Community über die „Undetectable equals Uninfectious“-Bewegung hat endlich zur Anerkennung des EKAF-Statements geführt.

In Deutschland haben die Fachgesellschaften und die Aidshilfen lange gebraucht, ehe sie sich zum EKAF-Statement zu Wort meldeten – wie sahen bzw. sehen Sie die Entwicklung in Deutschland?

Vernazza: Immerhin hat Deutschland das Statement eher anerkannt als die USA. Die einzelnen Kräfte, die sich für oder gegen die Publikation des Statements einsetzten, kenne ich allerdings nicht.



Dr. Christoph Mayr, Zentrum für Infektiologie Berlin/Prenzlauer Berg

Das Statement hat mich nicht überrascht

Dr. Christoph Mayr, Zentrum für Infektiologie Berlin/Prenzlauer BergAls vor 10 Jahren das EKAF-Statement veröffentlich wurde – was waren Ihre ersten persönlichen Gedanken dazu?

Mayr: Die Aussage des Statements hat mich nicht überrascht, denn vielen eingefleischten HIV-Behandlern, auch mir, ist über die Jahre vorher schon aufgefallen, dass Menschen mit HIV unter einer erfolgreichen Therapie HIV nicht an ihre Sexpartner weitergeben, sowohl bei heterosexuellen als auch homosexuellen Paaren. Gleichwohl war für mich und viele andere HIV-Behandler klar, dass dieses Schweizer Statement erst einmal für viel Unruhe sorgt, da die Präventionsstrategie im Wesentlichen auf dem Kondom aufbaute.

Wie war die Stimmung bei den deutschen Behandlern? Als Mitglied im dagnä-Vorstand bekommt man ja viel mit...

Mayr: Wir haben als dagnä-Vorstand das EKAF-Statement diskutiert und überlegt, wie dieses Statement kommentiert werden kann. Das geschah in enger Abstimmung mit der DAIG. Wir haben immer darauf hingewiesen, dass die DAIG als Fachgesellschaft den Vorrang hat, darauf zu reagieren. Die HIV-Behandler, die lange dabei waren, haben dieses Papier in den Gesprächen mit den HIV-Patienten aber auch vor der Stellungnahme der DAIG in der Sprechstunde eingebracht. In der schwulen Szene wurde das Papier schnell bekannt. Die DAIG hat im Oktober 2010 – mehr als zwei Jahre nach Erscheinen des EKAF-Papiers – das Statement in einer ausführlichen Stellungnahme zurückhaltend kommentiert. Die dagnä begrüßte diese differenzierte Betrachtung.

Dagnä (und DAIG) haben ja lange gebraucht, um eine Stellungnahme zu veröffentlichen. Warum dauerte es so lange?

Mayr: Wie gesagt, die HIV-Prävention fußte damals auf dem Kondom und das EKAF-Statement, auch wenn es ja darin eigentlich nur um diskordante heterosexuelle Paare ging, hatte das Potenzial, die bisherigen Präventionsmaßnahmen zu konterkarieren. Das war im offiziellen Meinungsprozess wahrscheinlich der Hauptgrund, dass es so lange dauerte. Man wollte auch noch weitere Daten abwarten, um Stellung zu beziehen. Wir dürfen die damalige politische Stimmung nicht vergessen – eine Übertragung von HIV beim Sex wurde damals als gefährliche Körperverletzung angesehen und es gab diverse Gerichtsverfahren mit Verurteilungen, wenn der HIV-negative Partner nichts von der HIV-Infektion des anderen wusste und infiziert wurde.

Welche Rolle spielten das Bundesministerium für Gesundheit und die Deutsche AIDS-Hilfe?

Mayr: Die Deutsche AIDS-Hilfe hat bereits sehr früh das EKAF-Statement als guten Beitrag in der Debatte um die HIV-Prävention angesehen. Für die AIDS-Hilfe nahm das Papier den psychischen Druck von den HIV-Positiven, dass sie ständig Angst davor hatten, andere anzustecken. Das Bundesministerium für Gesundheit brauchte auch Zeit, um die damalige Präventionsstrategie zu erweitern.

Würden Sie im Nachhinein betrachtet heute etwas anders machen?

Mayr: Dass es zwei Jahre gedauert hat, ist auch im Nachhinein in Ordnung. Gerade bei HIV gab und gibt es immer wieder erste Ergebnisse zu neuen Strategien, die schnell als gegeben hingenommen und umgesetzt werden. Weitere Untersuchungen bestätigen dann aber den Effekt der ersten Studien nicht mehr. Trotzdem – mein damaliges Bauchgefühl war richtig – und heute kann man ohne Einschränkung sagen, dass die Schweizer mit den Schlussfolgerungen aus den Daten Recht hatten.

Gibt es heute noch Bedenken hinsichtlich der Übertragbarkeit von HIV unter erfolgreicher HIV-Therapie?

Mayr: Ich glaube, dass Bedenken von ärztlicher Seite auftreten, wenn kein enger Bezug zum HIV-Bereich besteht. Heutzutage sehe ich viele schwule diskordante Paare, in denen seit vielen Jahren keine Übertragung stattfindet. Einerseits hat sich dadurch vieles für HIV-Positive entspannt. Auf der anderen Seite führte das EKAF-Statement aber auch dazu, dass das Barebacking salonfähig wurde – mit der Folge der Endemien von Gonokokken, Chlamydien, Syphilis etc. Man darf nicht vergessen, dass ein Kondom und nicht die HIV-Therapie vor anderen sexuell übertragbaren Infektionen schützt.


Engelbert Zankl, Münchner Positive

Das war ein Befreiungsschlag!

Engelbert Zankl, Münchner Positive Als vor 10 Jahren das EKAF-Statement veröffentlicht wurde – was waren Ihre ersten Gedanken dazu?

Zankl: Für mich als HIV-Positiver war das ein Befreiungsschlag. Der Mut der Schweizer war grandios. Wir wussten es zwar eigentlich schon, aber dann steht es in der Schweizer Ärztezeitung, wenn auch vorsichtig formuliert. Ich war keine Virusschleuder mehr – das war in vielerlei Hinsicht in meinem positiven Leben die beste Nachricht!

Was wussten Sie denn schon vor dem Statement?

Zankl: 2006 wurde eine spanische Studie in Glasgow vorgestellt, in der von 76 diskordanten heterosexuellen Paaren mit Kinderwunsch und erfolgreicher Therapie des HIV-positiven Partners keine Infektion des HIV-negativen Partners oder eines der Kinder stattfand – von da an war für mich klar, dass Therapie als Prävention wirkt. Ich bevorzuge den Ausdruck „Schutz durch Therapie“, dieser bildet den Schutz für den Einzelnen besser ab.

Wie war die Stimmung in der HIV-positiven schwulen Community? Die Daten basierten ja zunächst auf Werten bei
heterosexuellen Paaren ...

Zankl: Die sexuelle Identität spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle bei der Übertragung, sondern nur die Höhe der Viruslast – das hat mir Prof. Gürtler bereits vor zwanzig Jahren gesagt.

Haben alle aus der Community das Statement als Befreiungsschlag empfunden?

Zankl: Nein – ganz im Gegenteil. Es ist sogar bis heute so, dass es viele HIV-Positive nicht so ganz glauben können. 20-30 Jahre hatte man Angst, dass man jemand anderen infiziert und das war so verinnerlicht, dass diese gute Nachricht mit äußerster Skepsis aufgenommen wurde. Das lag und liegt auch heute noch zu einem großen Teil an den Ärzten: So mutig die Schweizer waren, so zurückhaltend waren die Deutschen. Das hat sich auch in der erneuten Stellungnahme der DAIG aus dem Jahr 2010 gezeigt. Bis heute gibt es keine aktuellere Stellungnahme der Fachgesellschaften.

Sie arbeiteten zu der Zeit in der Münchner Aidshilfe – es gab bestimmt viel Diskussions- und Aufklärungsbedarf.

Zankl: Es gab sehr viel Diskussionsbedarf und ich habe die Diskussionen auch aktiv geführt, denn ich war immer ein Verfechter, HIV-Therapie als Prävention bekannt zu machen. Ich bin sozusagen Schuld an mehreren Geburten, weil ich den Paaren mit Kinderwunsch damals dazu geraten habe, es auf natürlichem Wege zu versuchen. Von einem Kind bin ich sogar Patenonkel. Zu der Zeit diskutierten die Ärzte in Deutschland noch umständliche künstliche Zeugungsmethoden. Ganz anders die Schweizer, die mit ihrem Slogan „Licence to Love“ offensiv das Thema angingen.

Wie wird HIV-Therapie als Prävention heute gesehen?

Zankl: Die Skepsis hat sich jetzt durch die Zulassung und Diskussion der Präexpositionsprophylaxe (PrEP) etwas geändert – ist mein persönlicher Eindruck. Jetzt müssen sich HIV-negative Schwule aktiv mit HIV auseinandersetzen. Es gehört schon fast zum guten Ton „PrEP-User“ zu sein. Durch die PrEP ist der Schutz durch Therapie bekannter geworden. Trotzdem gibt es noch Ärzte, die trotz erfolgreicher Behandlung des HIV-positiven Partners dem HIV-negativen Partner eine PrEP nahelegen. Die Schutzwirkung der HIV-Therapie ist nach wie vor zu wenig bekannt, wie jetzt die Untersuchung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung belegt. Und auch bei Aktionen zu diesem Thema wie beispielsweise „Flying Condoms“ zum zehnjährigen Jahrestag des EKAF-Statements am 3. Februar 2018 gab es viel zu wenig Teilnahme – viele Aidshilfen haben nicht mitgemacht. Für mich ist das Thema nach wie vor ein Grund zu feiern!


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