Martin Viehweger, Berlin
Kritische Anmerkungen zum Corona-Lockdown

Persönliche Bedürfnisse dürfen zugunsten einer weiterreichenden Solidarität zurücktreten. Sich einzuschränken bedeutet in diesen Zeiten Verantwortung zu übernehmen. Dieser Geist darf aber nicht einen kontroversen Austausch ersticken und schon gar nicht in ein Klima der Beschuldigungen umschlagen.

Dr. Martin Viehweger Berlin

Dr. Martin Viehweger
Berlin

Aktivist für sexuelle Gesundheit

ViRo - infektiologi-sche Schwerpunktpraxis und Trans*medizin

Am 21. März kam das öffentliche Leben in Deutschland zum Erliegen, per Dekret oder exakter per Infektionsschutzgesetz.

Wer trifft all diese Entscheidungen für uns? Wer hat das Recht, unsere Freiheit einzuschränken ohne uns selbst dazu zu befragen?

Falsche SexKultur?

In der schwulen Lebenswelt werden die Bedürfnisse nach Anerkennung, Zuwendung, aber auch Eskapismus, Leistungs- und Optimierungsdruck häufig über Sex reguliert. Ein geschätzter Freund und psychiatrischer Kollege Jan Groszer schreibt dazu: „Unsere Wünsche nach Bindung, Nähe und Zugehörigkeit, Flucht aus dem Alltag, Selbstdefinition, Spaß und Anerkennung suchen wir über Sex zu befriedigen, auch wenn viele genau daran scheitern. Depression und Einsamkeit, schädlicher Substanzkonsum oder berufliche Schwierigkeiten werden immer noch als das Versagen Einzelner verstanden und nicht als das Systemversagen einer Sexkultur, welche viele Bedürfnisse nicht befriedigt, sondern einfach betäubt. Wer zur Verwirklichung seines Lebensglücks nur auf dieses eine Pferd setzt, der
gelangt in der Coronakrise in Not. Es geht auch nicht um rigide Verhaltensmaßstäbe. Weder Substanzkonsum, Parties, GrindR noch sexuelle Abenteuerlust sind per se schlecht oder gut genauso wenig wie Monogamie oder Enthaltsamkeit. An dem Punkt aber, wo sie der Erfüllung unserer Bedürfnisse nach existentieller Sicherheit, Gesundheit, Arbeitsfähigkeit, Zuneigung und Zugehörigkeit sogar im Wege stehen, werden sie zum Problem.“

Keine Sexdates

Viele Menschen der schwulen Subkultur nehmen die Corona-bedingten Einschränkungen als Angriff auf ihre
sexuellen Bedürfnisse wahr. Demgegenüber stehen moralisierende Ansichten, dass Sexdates verantwortungslos seien. Overachievers, blind Gehorsame, Mitlaufende klagen leichtfertig Kleingruppen im Park, Paare mit weniger als 1m-Abstand oder ältere Generationen beim Einkaufen an. Ein regressiver Schritt ins Denunziantentum. Mitgefühl, Mitdenken, sich Zuhören, sich Verstehen gehen dabei durch Hysterie und Panik verloren. Wenn sich Menschen in diesen Zeiten raus in die Natur begeben wollen, sollten wir dann gerade jetzt nicht alte Mechanismen wie Flugscham und Avocadoscham vermeiden?

Kreative Sexarbeit

Eine Norm, die besagt, dass man auf das Gute verzichten müsse, um das Gute zu retten, ist ebenso falsch wie die, welche verlangt, dass man auf die Freiheit verzichten müsse, um die Freiheit zu retten.

Giorgio Agamben

Was ist Sicherheit? Für welche Gruppe, für welche individuelle Person gilt welches Maß an Sicherheit? Bei aller Zustimmung zu #stayathome sollten wir Meldungen über häusliche Gewalt und sexarbeitende Personen, die nicht auf Entschädigung oder Überbrückungskredite hoffen dürfen, nicht ignorieren! Menschen, die ihre individuelle Salutogenese im sozialen Leben sehen, sollten dessen nicht unhinterfragt beraubt werden.

Sexarbeitende könnten mit Konzepten unterstützt werden, ihre Arbeit, sofern sie möchten, mit einer stabilen Kundschaft von einer geringeren Anzahl an Kund*innen fortzuführen, dafür im Gegensatz die Frequenz erhöhen, um den finanziellen Unterhalt zu gewährleisten und dennoch die COVID-Ausbreitung (über die Reduktion der Anzahl an Kontakten) zu verlangsamen. Einige BDSM-Dominas haben mir berichtet, dass sie aktuell nur ca. fünf Kund*innen betreuen, dafür regelmäßiger als sonst, auch telefonisch oder über Webcam. Sie haben ferngesteuerte, elektrische Devices wie Chastity-Schlösser, Analplugs, T-Shirts, welche auf Knopfdruck Wärme, ähnlich einer Heizdecke (Simulation von Umarmung), produzieren, um so über die Distanz eine Betreuung aufrecht zu erhalten. Sie haben einen individualisierten Service aufgestellt (let’s think out of the box and with sexworkers together) und im weitesten Sinne kann man diesen Service auch als sexuelle Gesundheit am Gemeinwohl verstehen.

Was können wir lernen?

Jede Krise eröffnet stets eine Chance, Dinge neu und anders zu bewegen. Doch die allgemeine Hysterie lähmt kreative Denkprozesse und verhindert den Blick auf die Chancen und den Austausch über grundlegende Themen – auch als mögliche Co-Faktoren der aktuellen Situation: Antibiotic stewardship, Massentierhaltung, Mikrobiom, Versorgung von Menschen die unterhalb des Existenzminimums leben, Sparmaßnahmen in Heilberufen.

Meine Wünsche

Ich wünsche mir, dass die Abendnachrichten nicht stets mit der Verkündung von unreflektierten Zahlen beginnen, die nur Sinn machen, wenn sie differenziert interpretiert werden.

Ich wünsche mir ein umsichtiges Narrativ z.B. anstelle von „social distancing“ „physical distancing“.

Ich wünsche mir, dass all die Menschen, die sich für ein Tracking und Tracing aussprechen, sich genauso intensiv für die Rückgewinnung unserer freiheitlichen Privilegien stark machen.

Ich wünsche mir, dass wir uns nicht durch Angst und Panik lähmen lassen, sondern die Situation zu einem Umdenken auf vielen Ebenen nutzen.


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