Mark Oette, Knut Humbroich, Urte Sommerwerck, Daniela Sappok, Christopher Schnurr, Köln
HIV und Palliativmedizin

In Deutschland versterben heute nur wenige Menschen an ihrer HIV-Infektion. Doch in solchen Fällen einer infausten Prognose – wie in der vorliegenden Kasuistik – helfen ein erfahrenes interdisziplinäres Team, gute Kommunikation und nicht zuletzt auch die Leitlinien, einen guten Weg zu finden.

Ein damals 30-jähriger Grundschullehrer wurde 2020 stationär aufgenommen, nachdem er eine zunehmende einseitige Parese entwickelte. Bereits Wochen zuvor hatte der Patient bemerkt, dass sowohl die Koordinationsfähigkeit wie auch die Kraftentfaltung des linken Armes abnahm. Sensible Defizite lagen damals nicht vor. Eine HIV-Infektion war seit ca. 2 Monaten bekannt, eine antiretrovirale Therapie war nicht etabliert, die CD4-Zellzahl betrug 38/µl, die HI-Viruslast 454.000 Kopien/ml. Sein Lebensgefährte, mit dem er bis dato auf einer kanarischen Insel lebte, war zuvor ebenfalls mit einer HIV-Infektion und ausgeprägtem Immundefekt sowie einer nicht-tuberkulösen Mykobakteriose stationär aufgenommen worden.

Diagnose: PML

Abb. 1  MRT des Patienten: Befall des Hirnstamms und des Myelons bei PML (hell: hyperintense Areale)
Abb. 1 MRT des Patienten: Befall des Hirnstamms und des Myelons bei PML (hell: hyperintense Areale)Fotos: Dr. F. Schellhammer, Krankenhaus der Augustinerinnen Köln

Kurz nach Aufnahme wurde die Diagnose einer progressiven multifokalen Leukenzephalopathie (PML) gestellt (Abb. 1). Im Liquor fand sich neben einer Zellzahlerhöhung eine JC-Virus-Replikation (Ct-Werte 28-30) sowie positive PCR-Befunde für EBV und HIV (256 Kopien/ml). Die MRT wies nicht nur die typischen T2-hyperintensen Veränderungen pontin und zerebellär auf, sondern auch eine langstreckige Ausbreitung in das zervikale Myelon (Abb. 1). Die EBV-Last im Serum betrug 5.090 IU/ml. Andere Erreger ließen sich zunächst nicht nachweisen (einschl. HTLV-1). Eine kombinierte antiretrovirale Therapie wurde angesetzt (FTC/TAF/DRV/c/MVC*). Aufgrund seiner guten Bioverfügbarkeit im Liquor wurde MVC hinzugefügt. Übertragene Resistenzen wurden durch genotypischen Test ausgeschlossen.

Rascher Progress

Im Verlauf von 2 Monaten kam es zu einem Progress mit weitgehendem Verlust der Beweglichkeit der Extremitäten und kompletter Bettlägerigkeit bei meist voll erhaltenem Bewusstsein. Aufgrund der Schwere der Manifestation und Einzelfallberichten in der Literatur wurden Therapieversuche mit Foscarnet und Dexamethason sowie Mirtazapin unternommen, ohne dass es zu einer Beeinflussung des Fortschreitens der Krankheit kam. Auch innovative Substanzen kamen zum Einsatz. So ist beschrieben, dass der PD-1-Signalweg (PD: programmed cell death protein) mit der Pathophysiologie der PML interferiert und die PD-Ligand 1-Expression in PML-Läsionen erhöht sein kann. Fallberichte zu Pembrolizumab, einer der häufig eingesetzten Immun-Checkpoint-Inhibitoren, beschrieben eine klinische Verbesserung in dieser Indikation.1 Nach Aufklärung und Einwilligung über den off-label-Einsatz wurde Pembrolizumab mehrfach angewandt. Die gemessenen JC-Viruslasten im Liquor im Verlauf zeigten jedoch kein Ansprechen, während HIV unter cART mittels PCR nicht mehr nachgewiesen werden konnte. Die Behandlung wurde ergänzt durch antiinfektive Therapien gemäß ABS-Visiten sowie der Gabe von polyvalenten Immunglobulinen bei Nachweis eines Antikörpermangelsyndroms.

Psychische Belastung

Abb. 2  Extrakt aus der Pflegedokumentation (Normalstation)
Abb. 2 Extrakt aus der Pflegedokumentation (Normalstation)

Von Seite der Psyche bestand eine ausgeprägte ängstlich-depressive Grundhaltung, die der Schwere der klinischen Situation angemessen war. Zu allen Zeiten waren der Lebensgefährte, aber auch die Familie in die Betreuung und Unterstützung eingebunden und zur medizinischen Mitsprache sowie für Entscheidungen bevollmächtigt. Es erfolgte eine Begleitung durch die in der Klinik tätige Psycho-Onkologin. Abbildung 2 ist ein Extrakt aus der Pflegedokumentation, die die emotionale Notlage des Patienten illustriert.

Letztlich musste der Patient auf unsere Beatmungsstation verlegt werden, da eine suffiziente Ventilation bei zunehmender Affektion sowohl der Hirnnerven als auch der Innervation der Atemmuskulatur mit Versagen der Atempumpe nicht mehr gegeben war. Dieser Schritt erfolgte im Konsens mit dem Patienten und wurde mit den Vertrauenspersonen ausführlich diskutiert, da zu dieser Zeit bereits mit einem ungünstigen Ausgang zu rechnen war. Dennoch überwog der Wunsch, die verschiedenen Therapiemodalitäten einschließlich der anti-retroviralen Behandlung zu einer eventuell möglichen Entfaltung kommen zu lassen, wofür jedoch Zeit gewonnen werden musste.

Eine Tracheotomie wurde notwendig, bei Lidschlussparese kam es zu schmerzhaften Hornhautulcerationen. Über längere Zeit war der Patient noch in der Lage, mittels Nicken und Kopfschütteln zu kommunizieren. Leider verlor sich auch diese Funktion, so dass am Ende der Kontakt nur noch über Augenbewegungen gehalten werden konnte. Bei geringer Sedierung war der Patient bei Bewusstsein und vollorientiert. Die Ernährung erfolgte über eine PEG.

Patientenwunsch

Leider war der Verlauf therapeutisch nicht beeinflussbar, so dass eine Therapielimitation festgelegt wurde: Der Verzicht auf eine Nierenersatztherapie, eine antibiotische Behandlung oder eine eventuelle Reanimation wurde beschlossen. Zugrunde lag eine nicht mehr bestehende Indikation aufgrund des inkurablen Grundleidens sowie der geäußerte Wunsch des Patienten. Dies erfolgte 16 Tage vor Versterben des Patienten und wurde wie zuvor mit dem Lebensgefährten und der Familie abgestimmt. Im weiteren Verlauf wurde auch das Thema Beendigung der Beatmungstherapie mit dem Patienten und seinem Umfeld besprochen, da die weitere Lebensperspektive des Patienten schwand. Die Gespräche verliefen über mehr als eine Woche; es bestand das Bemühen, sämtliche Aspekte hierbei zur Sprache zu bringen.

Ethische Fallkonferenz

Nachdem sich alle Beteiligten gegen die Fortführung der Ventilation ausgesprochen hatten, wurde abschließend eine ethische Fallbesprechung einberufen, um den Entscheidungsprozess fachlich und rechtlich zu festigen. Einvernehmlich und in Beachtung des Patientenwunsches wurde für das Abschalten des Respirators votiert. Schließlich wurde die bereits zuvor begonnene sedierende und anxiolytische Therapie intensiviert. Unter
Analgosedierung wurde im Beisein des Lebensgefährten und der Familie schließlich das Beatmungsgerät ausgeschaltet. Unser Patient verstarb friedlich und gut symptomkontrolliert nach 3-monatigem stationären Aufenthalt.

Beurteilung

Beim Patienten lag ein rasch progredienter Befund einer schweren Ausprägung einer PML bei weit fortgeschrittenem Immundefekt vor. Bereits früh wurde hierfür eine Vorsorgevollmacht für den Lebensgefährten eingerichtet. Auch die Familie wurde in allen Belangen berücksichtigt. Im Unterschied zu medikamentös induzierten PML-Affektionen des Gehirns ist bei der HIV-Infektion die Beteiligung des Hirnstamms selten2 und kann, wie in unserem Fall, mit einer sehr eingeschränkten Prognose einhergehen.

Die Pflegedokumentation in Abb. 2 verdeutlicht mit wenigen Worten, wie sehr der Patient unter Orientierungsproblemen, Angst und Sehnsucht nach menschlicher Nähe litt. Sie zeigt aber genauso deutlich, mit welchem Aufwand dem Patienten Unterstützung, Wärme und Hoffnung zuteilwurde. Dies weist gerade vor dem Hintergrund der derzeitigen Auseinandersetzungen um eine ausreichende Ausstattung der Krankenhäuser mit Pflegepersonal auf die große Bedeutung eines menschlich und kommunikativ kompetenten Teams hin, das sich Zeit nehmen kann, seine Patienten aufzufangen.

Leitlinien Lebensende

Was sagen die Leitlinien zur gegebenen Palliativsituation? „Ein offensichtlicher Sterbevorgang soll nicht durch lebenserhaltende Therapien künstlich in die Länge gezogen werden. Darüber hinaus darf das Sterben durch Unterlassen, Begrenzen oder Beenden einer begonnenen medizinischen Behandlung ermöglicht werden, wenn dies dem Willen des Patienten entspricht“. Diese Grundsätze der Bundesärztekammer zur Sterbebegleitung3 wurden erfüllt. In der Publikation wird betont, dass Ärztinnen und Ärzte den Patientenwunsch zu beachten haben. Die S3-Leitlinie Palliativmedizin aus 2019 formuliert wie folgt: „Der Patientenwille ist in jeder Phase der Behandlung einschließlich der Sterbephase zu beachten. Kann der Patient sich selbst nicht äußern, hat der Patientenvertreter (durch schriftliche Vorsorgevollmacht befugte Person oder gerichtlich bestellter Betreuer) den Patientenwillen festzustellen und dies mit dem Arzt zu besprechen“.4

Leitlinien Beatmung

Kumulative Diagnosen

HIV-Infektion Stadium CDC C3

  • Progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML) einschl. Hirnstammbeteiligung mit
    • funktionellem locked-in-Syndrom bei spastischer Tetraparese sowie neurogener respiratorischer Insuffizienz mit
    • Tracheotomie und invasiver Beatmung
  • Multiple weitere infektiöse Komplikationen
    • Aspirationspneumonie
    • Klebsiella pneumoniae-Infekt
    • Kathetersepsis (Staph. epidermidis)
    • Candidamykose
    • Replikative EBV-Infektion
    • Herpes zoster L3 rechts
  • Stammbetontes Kaposi-Sarkom
  • Wasting-Syndrom
  • HIV-assoziierte Myelopathie
  • Anale intraepitheliale Neoplasie (AIN3)

Auch die pneumologische Leitlinie zur Entwöhnung von der Beatmungstherapie nimmt zur genannten Situation Stellung: „Die Beatmungstherapie kann entweder abrupt beendet, langsam im Umfang reduziert (Rücknahme der Invasivität der Beatmung, wie Reduktion von PEEP oder FiO2) oder auch primär vorenthalten werden (z.B. Verzicht auf Beatmung bzw. auf ihre Eskalation bei Verschlechterung der respiratorischen Insuffizienz)“.5 Hierbei werden die individuellen Modalitäten sehr unterschiedlich gehandhabt. Ein Therapieabbruch ist in einer Erhebung bei 11% der Patienten beschrieben worden, für die am Ende ihres Lebens eine Therapie-limitierende Entscheidung notwendig war.5 Im angloamerikanischen Raum wird der Begriff der compassionate extubation (mitfühlende Extubation) benutzt. Eindeutige und evidenzbasierte Empfehlungen für das Vorgehen nach Entscheidungen zum Therapieabbruch bei beatmeten Patienten liegen dennoch nicht vor.5 Sowohl die terminale Extubation als auch das Belassen des Tubus sind hierbei möglich. Die Entscheidung für das jeweilige Vorgehen sollte auf einer rechtzeitigen Abstimmung innerhalb des Behandlungsteams, mit den Angehörigen und wenn möglich mit dem Patienten beruhen.

Wichtig: Kommunikation

Trotz der ethisch schwierigen und menschlich belastenden Betreuung besteht mit den etablierten Regeln eine hilfreiche Unterstützung der Entscheidungsfindung. Im vorliegenden Fall bewiesen sie sich vor allem deshalb in ihrer Tragfähigkeit, da zu allen Zeiten durch intensive Kommunikation ein Konsens bestand. Die klinische Routine kennt viele andere Situationen am Lebensende, die bei nicht bestehender Einmütigkeit zu außerordentlich schwierigen und langwierigen Abstimmungsvorgängen führen können. Dies gilt insbesondere für die Intensivmedizin. Oft brechen innere Konflikte innerhalb von Beziehungsgefügen oder der Familie erst durch die starke Belastung dringlicher Lebensentscheidungen auf. Neben den notwendigen Gesprächen sind schriftliche Verfügungen oder andere Willensbekundungen der Patientinnen und Patienten immer mit einzubeziehen.

Schlussfolgerungen

Der Fall zeigt in seinem bedauerlichen Ausgang, dass alle Anstrengungen unternommen werden sollten, die sogenannte „late presentation“ zu vermeiden. Dies bedeutet, dass die HIV-Infektion bereits vor Eintreten des fortgeschrittenen Immundefektes diagnostiziert und behandelt werden sollte. Hierfür müssen Hürden für die Durchführung einer HIV-Testung abgebaut werden. Bei unserem Patienten arbeiteten Infektiologie, Neurologie, Pneumologie, Krankenpflege und Psycho-Onkologie eng zusammen. Bei Eintreten schwerer Manifestationen opportunistischer Infektionen kann neben einer adäquaten interdisziplinären Therapie auch die Palliativmedizin helfen, für die Patienten einen unter den gegebenen Umständen angemessenen und ertragbaren Verlauf der Erkrankung bis zum Tod zu ermöglichen.


1 Cortese I, Muranski P, Enose-Akahata Y, et al. Penbrolizumab treatment for progressive multifocal leukoencephalopathy. New Engl J Med 2019;380:1597-60

2 Breville G, Koralnik IJ, Lalive PH. Brainstem progressive multifocal leukoencephalopathy. Eur J Neurol 2021;28:1016-21

3 Bundesärztekammer. Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung. Deutsches Ärzteblatt 2011;108:A346-8

4 S3-Leitlinie Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht-heilbaren Krebserkrankung. Langversion 2.2; 2020. AWMF-Register-Nr. 128/001OL

5 S2k-Leitlinie Prolongiertes Weaning; 2019. AWMF-Register-Nr. 020/015


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