Sven Schellberg, Berlin
Zwischenruf: Schöne medikalisierte Welt

Kasten mit Photo  Dr. med. Sven Schellberg NOVOPRAXIS Berlin  E-Mail: schellberg@novopraxis.berlinDr. med. Sven Schellberg
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E-Mail: schellberg@novopraxis.berlin

Schöner, besser, geiler – mit Finasterid, PrEP, Sildenafil und Doxy-PEP. Doch sollte man das Wunsch-Rezept so unreflektiert ausstellen?

„Ich brauche meine PrEP – und auch wieder Sildenafil und das Finasterid ist auch wieder alle“ – diese oder ähnliche Konversationen hören wir alle täglich. Eigentlich gut, denn das bedeutet, dass sich unsere Patienten scham- und angstfrei mit Themen ihrer Sexualität an uns wenden und uns hoffentlich auch vertrauen. Die oben genannten Substanzen könnte man auch durch Zolpidem, Testosterongel – oder ganz neu Doxycyclin und Ozempic® – ersetzen. Konversation und Situation blieben im Wesentlichen unverändert. Wenn dann noch die Frage nach möglichen Interaktionen mit „Poppers“, GHB oder 5HTP dazukommt, weiß man spätestens, dass wir uns mitten im alltäglichen Leben vieler unserer männerliebenden Patienten befinden.

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Unsere berufliche Professionalität und Erfahrung – soweit bei den jeweiligen Substanzen vorhanden – lässt uns zumeist souverän mit Fragen und Situationen umgehen. Ein Hinterfragen der vorgetragenen Wünsche ist – Hand aufs Herz – deutlich seltener als die Unterschrift unter das Rezept oder die Eingabe der PIN auf dem hübschen neuen gematiktauglichen Terminal.

Man stelle sich nun vor, der Konversationspartner des o.g. Gesprächs wäre eine zumeist heterosexuell orientierte Pädagogikstudentin, die neben ihrem Kontrazeptivum noch nach einer Stand-by-Packung Fosfomycin für die häufig nach dem Geschlechtsverkehr auftretenden Zystitis und nach der dreimaligen Chlamydeninfektion in 16 Monaten nun auch nach einer Doxy-PEP fragt – die Reaktion vieler von uns wäre vermutlich zurückhaltend oder zumindest kritisch hinterfragend.

Selbstoptimierung mit Rezept

Dort, wo im beruflichen Alltag der „Return of Investment“, die „Passion“ und der Drang nach Optimierung wesentliche Rollen spielen und der Alltag ohne das Protokoll der smart-watch unorganisiert und allzu zufällig erscheint, ist in der sexuellen Wunschvorstellung oder aber auch in der sexuellen Realität der Wunsch nach Optimierung, nach „Bodyhacking“ oder dem „höher, schneller, weiter“ in der Übersetzung „länger, härter, lauter, geiler“ längst angekommen. Ein Wunsch, der ohne Unterstützung legaler, aber auch weniger legaler, häufig auch verschreibungspflichtiger Substanzen, kaum noch in die Realität zu übertragen ist. Ein Wunsch zudem, der erheblich von sozialer Erwünschtheit und sozialem Druck beeinflusst wird. Ein Wunsch also, der ohne Hilfe unserer Profession, die den Weg zur versorgenden Apotheke mittels Papier- oder eRezept ebnet nicht legal umzusetzen ist. Gut, wenn wir dann noch das Gefühl der „ärztlichen Verordnung“ und „ärztlichen Betreuung“ gleich mit dazuliefern.

Selbst wenn Patienten mit Vorliebe für vegane Ernährung und Kleidung, naturvergorenem Wein und glücklichem Futter für den Vierbeiner den Wunsch nach medikamentöser Optimierung ihrer Sexualität ohne wesentliche
kognitive Dissonanz äußern, verlassen wir Behandler gerne den Tugendpfad der „Antibiotic Stewardship“ oder der „Reduktion von Wirkstoffen“ zu Gunsten einer wenig kritikbeladenen Verordnung von allerlei Arznei.

Substanz-assoziierte Selbstfindung

Schwule Sexualität, so macht es immer mehr den Anschein, ist eigentlich nur dann gut und ohne Gewissensbisse oder gesellschaftliche Aufmerksamkeit durchführbar, wenn sie medikamentös geschützt vor Infektionen und pharmakologisch erfolgsverbessert abläuft. Ohne PrEP ist „Sex total 90ies“ (Zitat) und entaktogene Substanzen gelten gerne schon einmal als „unverzichtbarer Bestandteil schwuler Identitätsfindung“ (Zitat). Sprich – wir befinden uns mitten in der Spirale einer fortschreitenden Medikalisierung schwuler Sexualität. Eine Spirale, die ohne uns – häufig selbst schwule Behandler – kaum vorstellbar wäre.

Selbstkritischer Blick erforderlich

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Keiner wünscht sich, dass die oben erwähnten Wünsche unserer Patienten ohne ärztliche Beratung oder Unterstützung umgesetzt werden. Aber vielleicht wird es doch Zeit, kritisch zu hinterfragen. Kritisch zu hinterfragen, ob wir diese Entwicklung nicht nur mittragen, sondern sie ggf. durch unserer eigenes Vorbild oder unser eigenes unkritisches Verordnungsverhalten sogar unterstützen. Die Diskussion um die Doxy-PEP zeigt eindrücklich, wie schnell wir offenbar mittlerweile bereit sind, Prinzipien wie z.B. „ABS“ aufzugeben, wenn es um (schwule) Sexualität geht, gleichzeitig aber die Cefuroxim-Verordnung des benachbarten Hausarztes bei vermutlich viraler Bronchitis (zu Recht) kritisieren.

„Sexuell gesund“ ist offenbar doch eher eine andere Bezeichnung für „infektionsfrei“ oder „tadellos funktionierend“ als für tolerante, lustvolle, diskriminierungsfreie, freiwillige, spaßige und durchaus auch mal schiefgehende Sexualität. Oder böse gefragt – ist es vielleicht schon ein wenig (internalisiert) homophob, wenn wir dabei mithelfen, schwule Sexualität nur noch dann als erstrebenswert und „gut“ zu halten, wenn sie sicher-infektionsfrei und auch ansonsten optimiert erfolgt? Sind es nicht wir, die jede neue medizinische Intervention in die schwule sexuelle Lebenswelt auf Kongressen feiern und auch gleich hochmotiviert von diesen mitbringen? Sind wir mittlerweile vielleicht nur der professionell-medizinische Mitspieler zur immer weiter fortschreitenden Inakzeptanz von PrEP- und substanzfreiem Sex, oder gar dem Gebrauch von Latexartikeln beim Sex, wie man in diversen Datingportalen findet?

Gehen wir vielleicht möglicher Kritik „homophoben“ oder „sexfeindlichen“ Verhaltens bei kritischem Hinterfragen nur deshalb aus dem Weg, um einen allzu negativen Eintrag auf „Jameda“ oder bei „Dr. Google“ oder der Befundanforderung des vermeintlich sexfreundlicheren Kollegen zu entgehen?

Ob wir unseren Patienten – und vielleicht sogar uns – mit unserem „Liberalismus“ in o.g. Sinne wirklich einen Gefallen tun, kann man trefflich diskutieren. Hierbei geht es nicht nur um diverse bekannte oder in Zukunft aufzudeckende unerwünschte Wirkungen oder Unfälle, sondern auch um die Wahrnehmung und das Erleben von Sexualität im Allgemeinen. Zusammen mit unseren Patienten sind wir als schwule Behandler und Teil der Community mal angetreten, den Zwang des Kondoms hinter uns zu lassen und schwule Sexualität zu normalisieren und destigmatisieren. Manchmal macht es den Anschein, dass wir gerade dabei sind aus dem „Zwang zum Kondom“ einen „Zwang zur Pille“ zu machen. Destigmatisierend oder befreiend ist das nicht.


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