Prof. Dr. Eilke Helm, Frankfurt
AIDS in Frankfurt

Vor 29 Jahren haben wir die ersten AIDS-Patienten behandelt. AIDS kam schleichend. Erst waren es nur wenige Erkrankte. Allmählich nahm die Zahl der Patienten zu. Plötzlich waren es viele. Nahezu alle waren jung, die überwiegende Mehrzahl waren homosexuelle Männer. In den ersten Jahren gab es keine Aussicht auf Heilung. Der Krankheitsverlauf führte zum Endstadium und damit in den Tod. Keine Krankheit im 20sten Jahrhundert hat die Welt so verändert wie AIDS. Sie hat nicht nur das Leben von Betroffenen verändert, sondern auch das derjenigen, die sich um die Opfer der HIV-Krankheit gekümmert haben. Seit 1982 bis heute hat mich das Thema AIDS nicht mehr losgelassen. Die ersten Jahre waren eine Herausforderung für alle Beteiligten.

Gewidmet allen HIV-Patienten, die verstorben sind.

Im Juli 1982 behandelten wir die beiden ersten AIDS-Patienten in Frankfurt. Es hat damals nicht lange gedauert, bis wir die Ursache ihrer Erkrankung diagnostiziert hatten. Es gab zwar noch keine etablierten Nachweismethoden für die HIV-Infektion, aber das klinische Bild von AIDS war eindeutig.

„Das war die Entstehung der Frankfurter HIV-Kohorte.“

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Frankfurt 1982: unser erster Patient mit PcP

In Frankfurt waren wir auf das Auftreten dieser Krankheit vorbereitet. Seit 1981 aus den USA erstmalig über die neue Infektionskrankheit berichtet worden war, hatte Wolfgang Stille, der leider viel zu früh verstorbene Leiter der Infektiologie in Frankfurt, stets darauf hin gewiesen, dass auch wir mit dieser Krankheit rechnen müssten. Als ich am Krankenbett unserer ersten beiden Patienten  im Sommer 1982 deren Freunde antraf und mir bei einigen von ihnen sichtbare Lymphknoten am Hals auffielen, kam mir  spontan die Idee, diese jungen Männer zu fragen, ob sie einer körperlichen Untersuchung  und einer Blutentnahme zustimmen könnten. Die Betroffenen stimmten zu. Die Untersuchungen führte ich selbst durch, das Serum für spätere Antikörpertests tiefgefroren und die Ergebnisse der Laborwerte einschließlich der immunologischen Parameter dokumentiert. Das war die Entstehung der Frankfurter HIV-Kohorte. Im November 1982 veröffentlichten wir die Krankengeschichten unserer beiden ersten Patienten als AIDS-Erkrankung in der DMW. Der dritte AIDS-Patient wurde mit einer Pneumocystis carinii Pneumonie kurz vor Jahresende aufgenommen und verstarb wie die beiden ersten Patienten innerhalb kurzer Zeit.

„Das Raumproblem konnten wir durch Besetzen freier Räume [...] lösen.“

Das Jahr 1983 war ein sehr ereignisreiches Jahr. Ich bekam Kontakt mit Frau Prof. Johanna Lage-Stehr vom Robert Koch-Institut (RKI), die mit Prof. Meinrad Koch eine Arbeitsgruppe im RKI gründen wollte und mich  zusammen mit Hans Reinhardt Brodt, dem jetzigen Leiter der Infektiologie in Frankfurt, aufgefordert hatte, an der Konzeption der deutschen Kohortenstudie mit zu arbeiten. Die Mitarbeit in der Kohortenstudie wurde gut honoriert. Mit dem Geld, das wir für die Dokumentation von Krankengeschichten bekamen, konnten wir eine Ärztin für die ambulante Behandlung der AIDS-Patienten einstellen.  Trotz der enormen Arbeitsbelastung, die die neue Infektionskrankheit für uns bedeutete, wurden keine zusätzlichen Stellen für medizinisches Personal bewilligt.  Da noch keine Medikamente gegen die HIV-Krankheit verfügbar waren, gab es auch keine gesponserten Studien.  Wegen der großen Nachfrage nach Aufklärung und Behandlung hatten wir 1983 eine Ambulanz für Patienten mit Verdacht auf bzw. mit einer gesicherten HIV-Infektion behelfsmäßig in den Räumen der Poliklinik eingerichtet. Eigene Räume waren uns zunächst  nicht zugestanden worden.  Das Raumproblem konnten wir durch Besetzen freier Räume in dem ehemaligen Pockenbau – besser bekannt als Haus 68 – lösen. Blieb noch der Personalmangel, der unsere Behandlungskapazität erheblich einschränkte. Bis Ende 1986  hatten bereits 940 Patienten die neu eingerichtete Ambulanz aufgesucht. Deren Behandlung war für nur eine Ärztin nicht zu schaffen. Wir standen vor der Entscheidung, entweder die Zahl der Patienten in der Ambulanz zu begrenzen oder uns selbst um die Finanzierung  zusätzlicher Stellen zu kümmern. Ich begann damals, bezahlte Vorträge über AIDS zu halten. Nach anfänglichen Schwierigkeiten – zuerst wollte niemand etwas von der „Schwulen-Seuche“ wissen – wurde ich oft als Vortragende angefragt. Auch durch die Behandlung von  Privatpatienten, durch Honorare für Gutachten und durch die Teilnahme an Talkshows kam Geld in die Drittmittelkasse. Zusätzlich wurde unsere Arbeit durch Spenden, durch Benefizveranstaltungen,  durch Preisgelder und gelegentlich durch Erbschaften unterstützt. Ich bin heute noch stolz, dass es mir über viele Jahre gelungen ist, durch diese Aktivitäten so viel Geld zusammen zu bringen, dass davon eine Hilfskraft und eine Arztstelle finanziert werden konnten.

„Ausspruch eines bekannten Virologen: Hämophile bekommen kein AIDS.

Die Arbeitsgruppe um Luc Motagnier entdeckte 1983 den Erreger von AIDS, damit war die Entwicklung von serologischen Testsystemen möglich geworden. Doch dauerte es noch fast zwei Jahre bis die Methoden zum Nachweis von Antikörpern gegen das HI-Virus  überall  in Deutschland verfügbar waren. Seit Anfang 1985 ist der HIV-Test für Blutspenden verbindlich vorgeschrieben. Erst von diesem Zeitpunkt an war die Behandlung mit Blut/Blutprodukten weitgehend sicher. Zuvor  hatte es allerdings wegen der Sicherheitsmaßnahmen für das Transfusionswesen unter Wissenschaftlern und Ärzten erhebliche Auseinandersetzungen gegeben. Es gab schon 1982 erste Berichte über AIDS bei Hämophilen und über Infektionen durch Blutprodukte.  Von Seiten der Herstellerfirmen  wurde diese Gefahr heruntergespielt. Leider bekamen die Hersteller Unterstützung von prominenten Wissenschaftlern. Ich erinnere mich sehr genau an den Ausspruch eines bekannten Virologen: „Hämophile bekommen kein AIDS.“ Vor diesem Hintergrund veranstaltete das RKI im November 1983 ein Symposium, in dem Hersteller von Gerinnungsfaktoren, Verantwortliche für das Transfusionswesen, Virologen und AIDS-Ärzte Vorschläge für wirksame Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit von Blut/Blutprodukten erarbeiten sollten.

„So wurde eine große Chance vertan.“

Mein Vorschlag, alle Blutspenden auf Antikörper gegen Lues und Hepatitis B zu testen, wurde von einigen wenigen Mitgliedern der Arbeitsgruppe unterstützt. Durch Untersuchungen bei unseren eigenen Patienten wussten wir, dass die Mehrheit  von ihnen im Serum Antikörper gegen sexuell übertragbare Krankheiten wie Lues und Hepatitis-B  hatte. Das Verwerfen von Blutspenden, die diese Antikörper aufwiesen, hätte sicher eine Minderung des Risikos einer HIV-Infektion für Blut/Blutproduktempfänger bedeutet. Dieser Vorschlag wurde von den Herstellern abgelehnt, mit der Begründung höherer Kosten bzw. zu erwartender Engpässe bei der Versorgung mit Blut/Blutprodukten. So wurde eine große Chance vertan. Sicher wäre einigen Patienten durch die von uns vorgeschlagenen Maßnahmen eine Infektion erspart geblieben. Leider zählten die Kosten mehr als die Unversehrtheit von Menschen. Ich kenne mehrere Patienten, die vor der verbindlichen Einführung des HIV-Tests 1985 in den Jahren 1983 bzw. 1984 durch Blutprodukte infiziert worden sind. Ich erinnere mich an den Fall eines Mannes, der im Mai 1984 nach einem Unfall PPSB (Gerinnungsfaktoren-Konzentratgemisch) bekommen hatte. In Unkenntnis der eigenen Infektion hat er seine Frau angesteckt. Das Kind der beiden ist seit Geburt HIV-positiv. Der Vater ist gestorben. Mutter und Kind leben. Es ist zwar sehr hilfreich, dass es eine Stiftung gibt die diese Menschen finanziell unterstützt, aber Geld gegen Leben ist ein schlechter Tausch. Ich kann denjenigen, die damals unsere Vorschläge zur Verbesserung der Sicherheit von Blut/Blutprodukten boykottiert haben, nicht verzeihen.

„Wir wurden von namhaften Wissenschaftlern angegriffen und der Panikmache bezichtigt.“

Im Jahr 1984 fand unter der Leitung von Hans Reinhardt Brodt bei über 400 Personen eine Untersuchung statt mit dem Ziel, eine Stadien-Einteilung der neuen Infektionskrankheit zu erarbeiten. Es war bekannt, dass dem Endstadium AIDS offensichtlich Vorkrankheiten wie zum Beispiel ein ausgeprägter Mundsoor, eine Haarleukoplakie oder eine  generalisierte Lymphadenopathie vorausgehen können. Zwischen dem Ausmaß des Candida-Befalls im Mund und der Höhe der CD4-Zellzahl bestand eine Korrelation. Je niedriger die CD4 Zell-Zahl im Blut war, umso höher war die  Keimzahl von  Candida im Mundspülwasser, umso eher war mit einer AIDS definierenden Erkrankung zu rechnen.

Herr Brodt ging bei seiner Stadien-Einteilung davon aus, dass die einzelnen Stadien hintereinander durchlaufen werden. Anfang 1985 veröffentlichte er diese Stadien-Einteilung unter dem Titel „Spontanverlauf der LAV/HTLV-III- Infektion“ in der DMW. Es war die erste Einteilung, die in deutscher Sprache publiziert wurde, nahezu zeitgleich mit der Veröffentlichung eines Klassifikationssystems von Redfield et al. Die Übereinstimmung zwischen den beiden Systemen war verblüffend. Beide Autorengruppen gingen von einem Fortschreiten  der Erkrankung aus, bei der es nahezu bei allen Patienten zu einer stetigen Verschlechterung des Gesundheitszustandes und nachfolgendem Übergang in das AIDS-Stadium kommt. Wegen der in der Diskussion der Arbeit geäußerten Vermutung, dass alle Infizierten früher oder später der Erkrankung erliegen würden wurden wir von namhaften Wissenschaftlern an- gegriffen und der Panikmache bezichtigt. 

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Candidabefall bei einem Patienten mit weniger als 50 CD4-positiven Zellen

Ich stellte Ende 1985 diese Stadien-Einteilung auf einem sog. Statusseminar im Wissenschaftsministerium in Bonn vor, in der Hoffnung an einem damals geplanten Forschungsprojekt teilnehmen zu können. Nach meinem Vortrag wurde ich aufgefordert, einen Antrag einzureichen. Den Antrag verfasste ich selbst in Nachtarbeit, wohlgemerkt ohne Computer, denn den hatten wir damals noch nicht. Leider wurde dieser Antrag mit der Bemerkung „die insuffizienten Frankfurter Forschungsansätze“ abgelehnt. Später wollte man uns die Daten, die die Grundlage des Antrags waren, für 25.000 D-Mark abkaufen. Das lehnte ich ab und deshalb nahm unsere Gruppe an einer wichtigen Studie über den Verlauf der Krankheit nach der Serokonversion nicht teil, obwohl wir sicher in Deutschland die meisten Daten zu diesem Thema hätten beisteuern können.

„Die Schuldzuweisung an die Betroffenen führte zu abstrusen Vorschlägen.“

Die Folgen einer HIV-Infektion betrafen nicht nur die Gesundheit, sondern sie waren auch gesellschaftspolitischer Art. Homosexuell und auch noch mit einer ansteckenden Krankheit behaftet zu sein, das war zu viel für die Gesellschaft. Außerdem war die Krankheit nach der Meinung vieler Menschen selbstverschuldet: „AIDS bekommt man nicht  – AIDS holt man sich.“ Man unterstellte den Patienten, dass sie die Infektion billigend in Kauf genommen hätten. Dass das für Patienten, die Anfang der achtziger Jahre bereits infiziert waren, nicht gelten konnte, wurde nicht berücksichtigt.

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Kaposi-Sarkom im Gesicht

Die  Schuldzuweisung an die Betroffenen führte zu abstrusen Vorschlägen, um die Gesellschaft vor den vermeintlichen Gefahren, die von HIV-Infizierten ausgingen, zu schützen – Testung der gesamten Bevölkerung,  Kennzeichnung der positiv getesteten Personen durch Tätowierung an beim Geschlechtsverkehr sichtbaren Körperstellen und  Ausgrenzung der Betroffenen durch Verbote an gemeinsamen Aktivitäten mit Nicht-Infizierten teilzunehmen waren nur einige der vorgeschlagenen Maßnahmen. Damals waren Bestrebungen im Gange, infizierten Kindern den Kindergarten- und Schulbesuch zu verweigern. Infizierte Erwachsene sollten nicht an Sportveranstaltungen zusammen mit Gesunden teilnehmen. Sie sollten von Berufen, die mit Körperkontakt einhergingen, ausgeschlossen werden. Das betraf nicht nur das medizinische Personal, sondern auch Sporttrainer, Tänzer, Fußpfleger, Friseure und ähnliche Berufe. Sogar Köche konnten Schwierigkeiten am Arbeitsplatz bekommen, denn sie hätten sich bei der Arbeit verletzen und durch ihr Blut die Gäste infizieren können. Immer wieder erlebten HIV-Infizierte die Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses mit fragwürdigen Begründungen. Auf dem Wohnungsmarkt hatten sie ebenfalls oft  Schwierigkeiten, geeignete Objekte zu finden.

All diesen unsinnigen Behauptungen musste man mit  Argumenten entgegentreten. Als Pfarrer Vorbehalte gegen die Teilnahme HIV-Infizierter am Abendmahl  äußerten,  konnte man der Furcht vor Ansteckung am einfachsten durch Trinken aus dem Glas eines Patienten  entgegentreten. Damals haben wir uns im Interesse unserer Patienten ständig um Dinge kümmern müssen, die eigentlich nicht zu den ärztlichen Aufgaben gehören. Auch die medizinische Betreuung nach Entlassung aus stationärer Behandlung musste organisiert werden. Das war besonders schwierig, wenn es sich um Patienten mit HIV-bedingten stigmatisierenden Erkrankungen handelte.

Es gab Ärzte, die HIV-Positive nicht in ihren Wartezimmern duldeten, aus Angst die übrigen Patienten würden wegbleiben. Die Angst vor Ansteckung war  übertrieben. Man kannte die Infektionswege und wusste, dass alltägliche Kontakte mit AIDS-Patienten nicht gefährlich sind. Dass man sich über Blutkontakte infizieren  konnte, war bekannt und stellte für medizinisches Personal damals wegen der hohen Virusbeladung vor Einführung einer wirksamen antiretroviralen Therapie eine realistische Gefahr dar. Viele von uns, auch ich haben sich beim Blutabnehmen verletzt, aber niemand hat sich deshalb vor Eingriffen bei AIDS-Patienten gescheut und keiner – weder Arzt noch Schwester von Station 68 – war durch eine derartige Verletzung infiziert worden.

„Damals verging kaum ein Tag ohne Todesfall auf der AIDS-Station.“

Ausgrenzung und Schuldzuweisung durch die Allgemeinbevölkerung waren für unsere Patienten sicher sehr bedrückend. Schlimmer noch war aber die Ablehnung im persönlichen Umfeld, die viele erfahren mussten. In den ersten Jahren kam es nicht selten vor, dass mit der Erkrankung die persönlichen Kontakte der Patienten zur Familie und zu Freunden zerbrachen. „Stirb in Deutschland“ bekam ein türkischer Patient zu hören, der zum Sterben zu seiner Familie in seine Heimat gefahren war. Auch religiöse Gemeinschaften schreckten nicht vor dem Ausschluss HIV-infizierter Mitglieder zurück. Einzelne Beispiele über das Verhalten von Religionsgemeinschaften sind mir als sehr unmenschlich in Erinnerung geblieben. Schwerer aber als alle materiellen und emotionalen Verluste war für die meist noch jungen Menschen ein Leben  mit dem nahen Tod vor Augen. War einmal das Stadium AIDS erreicht, betrug die Überlebenszeit 1982-1986 im Median noch 275 Tage. Sie verlängerte sich in der Zeit von 1987 bis 1989 auf 462 Tage. Diese Verlängerung war den Fortschritten  bei Diagnose und Therapie opportunistischer Infektionen und Tumoren geschuldet. Immer weniger Patienten starben an der ersten  Episode einer PCP, aber das Damoklesschwert weiterer Infektionen bzw. Tumore hing weiter über ihnen. Auch kann man es wohl kaum als Fortschritt bezeichnen, wenn man nach 452 statt nach 275 Tagen stirbt.

Damals verging kaum ein Tag ohne Todesfall auf der AIDS-Station. Nicht alle Betroffenen haben die ständige Konfrontation mit dem Tod ausgehalten. Es gab viele Suizide unter unseren Patienten, vor allem unter denen, die an einer entstellenden Krankheit litten, z.B. an einem Kaposi-Sarkom im Gesicht. Auch andere Krankheiten wie der extreme Gewichtsverlust und die seborrhoische Dermatitis im Gesicht waren stigmatisierend. Quälend waren auch die ständigen Durchfälle, unter denen viele Patienten litten, häufig durch Kryptosporidien bedingt, ein Erreger, gegen den es kaum Behandlungsmöglichkeiten gibt. Dass unter diesen Umständen sich die Menschen umbrachten, kann man verstehen. Wie sollte der Soloflötist mit einem Kaposi-Sarkom im Gesicht vor sein Publikum treten,  wie ein Sänger mit einer Kryptosporidien-Enteritis eine große Partie bewältigen? Wir  Ärzte standen diesen Problemen so hilflos gegenüber. Bei Visiten fehlten  uns oft die richtigen Worte. Weil man bei einer Visite als Chef viele Dinge nicht ansprechen kann, hatte ich oft an Wochenenden einen Spaziergang zur Station 68 unternommen. Ich wohnte damals nur wenige Gehminuten von der Klinik entfernt. Bei diesen Besuchen hab ich viel erfahren. Es hat dabei  Situationen gegeben, die ich nie vergessen werde. Ich sehe die Gesichter vor mir, gezeichnet von der Krankheit, und trotz ihres Schicksals haben wir auch schöne Stunden miteinander verbracht. An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass unter allen Beteiligten unsere Schwestern diejenigen waren, die damals am meisten von dem Elend der Patienten betroffen waren und  immer bemüht waren, das wenige Leben, das den Patienten noch geblieben war, positiv zu gestalten.

„Ich habe sofort gewusst, dassich einige der Zuhörer bald als Patienten auf der Station wiedersehen würde.“

Im Sommer 1983 habe ich einen Vortrag über die Gefahren von AIDS in einem Schwulenlokal im Frankfurter Nordend, dem „Pink Elefant“, gehalten. In einem kleinen, verräucherten Raum saßen oder standen etwa  30-40 Männer , die meisten von ihnen unter 40 Jahre alt, einige  sehr schlank mit auffallend  trockener,  schuppiger Haut im Gesicht, vorgealtert wirkend. Ich habe sofort gewusst, dass ich einige der Zuhörer bald als Patienten auf der Station wiedersehen würde.

Man darf nicht vergessen dass es bis Anfang 1987 kein Medikament gegen das HI-Virus gab. Je weniger die sogenannte Schulmedizin zu bieten hatte, umso  eher griffen die Patienten zu sogenannten alternativen Heilverfahren. Es gab die alternativen Heiler, die unseren Patienten völlig wirkungslose Substanzen als Mittel gegen AIDS verkauften.

Unter anderem wurde Johanniskraut in hoher Dosierung propagiert – das einzige, was es bewirkte, war eine Lichtallergie. Eine nachhaltige Wirkung auf das Immunsystem hatte es nicht. Ozonbehandlung, Vitamingetränke, Immunglobuline und viele andere Substanzen wurden gegen AIDS empfohlen. Oft mussten die Patienten für diese wirkungslosen Mittel auch noch teuer bezahlen.

„Zunächst wurden nur Patienten [mit AZT] behandelt, die bereits an AIDS erkrankt waren.“

E1987 brach mit der Einführung von Azidothymidin (AZT) für HIV-Infizierte ein neues Zeitalter an. Erstmalig gab es ein Medikament das eine direkte Wirkung auf das HI-Virus die Ursache der Erkrankung hatte. Zunächst wurden nur Patienten behandelt, die bereits an AIDS erkrankt waren. Bei einigen Patienten kam es unter der AZT-Behandlung zu einem geringfügigen Anstieg der CD4 Zellzahlen. Insgesamt war aber die Wirkung auf den Verlauf von AIDS enttäuschend. 

Hinzu kam dass AZT in der damals empfohlenen Dosis von täglich 1,5 g schlecht vertragen wurde. Die Patienten klagten über gastrointestinale Beschwerden wie Übelkeit und Erbrechen sowie Kopfschmerzen und allgemeine Schwäche. Häufig wurde auch eine Anämie beobachtet. Trotz der geringen Wirksamkeit und der unerwünschten Wirkungen bedeutete die Einführung von AZT Hoffnung für die Patienten.

Es mussten nur wirksamere und besser verträgliche Medikamente entwickelt werden und es musste geprüft werden, ob die Behandlung mit AZT, begonnen in einer Frühphase der HIV-Krankheit, nicht besser wirkt als bei Patienten, die bereits an AIDS erkrankt waren. Angesichts der unerwünschten Wirkungen von 1,5 g AZT pro Tag erschien uns ein früher Behandlungsbeginn nicht durchführbar.

Stets auf der Suche nach Finanzierungsmöglichkeiten für unsere immer größer werdende Ambulanz entwickelte Schlomo Staszewski, der seit 1985 dort tätig war, das Konzept der Intervallbehandlung. Nach vierwöchiger Behandlung mit 1,5 g AZT folgte eine ebenso lange therapiefreie Zeit. Er ging davon aus, dass durch die insgesamt geringere Substanzbelastung eine Anämie vermeidbar sei. Dieses Konzept stieß damals auf allgemeines Interesse und verschaffte den Frankfurter Infektiologen Zugang zu öffentlichen Förderprogrammen. Leider war auch die Intervallbehandlung Konzept wenig erfolgreich. Es sollte noch bis Anfang der neunziger Jahre dauern, bis die ersten Ergebnisse einer Kombinationsbehandlung von Nukleosidanaloga AZT + 3TC vorlagen und von Schlomo Staszewski in Glasgow präsentiert wurden. Mit dieser Studie änderte sich vieles. Durch die Einführung weitere Therapiekombinationen und durch die Entwicklung neuer Medikamente ist die Überlebenswahrscheinlichkeit von HIV-infizierten Menschen deutlich gestiegen. Die HIV-Krankheit ist heute behandelbar aber leider noch immer nicht heilbar.

„Ich habe mich  manchmal vor der Visite am Montag gefürchtet.“

Die Jahre von 1982 bis zur Einführung der hochwirksamen antiretroviralen Therapie waren für alle Beteiligten eine schwere Zeit. Man könnte diese Zeit auch das „Große Sterben“ nennen. Es kam vor, dass man nach einem Wochenende mehrere Tote zu beklagen hatte. Ich habe mich  manchmal vor der Visite am Montag gefürchtet. Wenn ich an die Zeit zurückdenke, muss ich an die vielen jungen Menschen denken, die sich ihr Leben gewiss anders vorgestellt haben. Es sind damals überdurchschnittlich viele Talente einfach zu früh gestorben. Sie fehlen uns. Ich habe um vieles hart kämpfen müssen. Um jede Personalstelle – sei es für zusätzliches Pflegepersonal oder für einen Arzt – gab es Kämpfe. Auch um die Akzeptanz der Patienten zu erreichen, musste man viel Überzeugungsarbeit leisten. Oft bekam ich zu hören: „Wie kann man sich nur für diese Menschen, schwule Männer und Drogensüchtige, einsetzen, die sind doch an ihrem Schicksal selbst schuld.  Die Schwäche ihres Immunsystems kommt nur durch ihre homosexuellen Praktiken oder durch die Drogen.“ Diese Behauptung hat mich immer sehr geärgert denn: die HIV-Krankheit ist eine Virusinfektion – sie hätte auch in jeder anderen Menschengruppe ausbrechen können.



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Prof. Dr. med. Eilke Helm

Eilke Helm studierte Medizin in Frankfurt, promovierte 1969, ist seit 1973 Fachärztin für Innere Medizin und habilitierte 1976 über die „antibakterielle Aktivität von Antibiotika in Körperflüssigkeiten“. Bis 2003 war Eilke Helm Oberärztin mit Schwerpunkt Infektionskrankheiten in der infektiologischen Abteilung der Universität Frankfurt und arbeitet seitdem in einer HIV-Schwerpunktpraxis in Frankfurt. Neben zahlreichen Wissenschaftspreisen erhielt sie 1987 das Bundesverdienstkreuz und 2003 das große Bundesverdienstkreuz.

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